Spanien 2007 · 118 min. · FSK: ab 16 Regie: Julio Medem Drehbuch: Julio Medem Kamera: Mario Montero Darsteller: Manuela Vellés, Charlotte Rampling, Bebe Rebolledo, Asier Newman, Nicolas Cazalé u.a. |
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Taumel und Trance |
»O daß wir unsere Ururahnen wären/ Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor/ Leben und Tod, Befruchten und Gebären/ Glitte aus unseren stummen Säften vor.« So dichtete einst der Doktor Gottfried Benn, und der Rhythmus dieser Zeilen könnte auch der Takt sein zu diesem Psycho- und Mysterythriller.
Ein Countdown zählt in Julio Medems Film von Zehn an rückwärts. Ganz und gar im Zentrum steht eine junge Frau. Sie heißt Ana (Manuela Vellés) und ist in ausnahmslos jedem Bild zu sehen. Anfangs lebt sie auf Ibiza in einer Künstlerkolonie als Tochter von Späthippies, der Vater ist Deutscher (Matthias Halbich). Ana möchte selbst Künstlerin werden. Bald trifft sie eine rätselhafte Frau, die sich als Kunstförderin (Charlotte Rampling) vorstellt. Die lädt sie nach Madrid ein. Ana nimmt an, lebt bald in der Großstadt auch unter Künstlern. Mehr und mehr kommt dieser jungen Frau die Realität, oder das, was man gemeinhin dafür hält, abhanden. Und sie reist in die chaotischen Abgründe des Bewusstseins.
Wir sehen sie, wie sie sich in einen hübschen Molekularbiologen verliebt, wie sie, als der verschwindet, andere Lover hat, wie sie mit ihrer besten Freundin, der radikalen Feministin Linda Bewusstseinsexperimente unternimmt. Ana ist eine Prinzessin, aber gleichzeitig auch ein Monster. Bei aller Lebenslust trägt sie ein dunkles Geheimnis in sich.
Bald schon nimmt sie auch Kontakt auf mit jenen Persönlichkeiten, die sie in früheren Leben einmal war. Oder ist sie einfach verrückt und traumatisiert? Vielleicht handelt Caótica Ana vom Wahnsinn. Vielleicht handelt er aber auch vom Ewig-Weiblichen, von Urmüttern und bösen Vätertyrannenmännern, von Tod und Wiedergeburt, von Taumel und Trance. In jedem Fall handelt er von einer Reise ins Innere.
Neben Pedro Almodóvar ist der 50jährige Julio Medem (Das rote Eichhörnchen, Die Liebenden des Polarkreises) der international bedeutendste und für viele Beobachter sogar weitaus bessere spanische Gegenwartsregisseur: Vier seiner bisher sechs Spielfilme (zuletzt Lucia und der Sex) liefen erfolgreich auch in Deutschland. Caótica Ana, der jetzt in die Kinos kommt, ist sein neuster Film. Medems Filme sind Märchen für Erwachsene, komplexe, psychologisch tiefschürfende und dabei poetische Traumspiele die ebenso an Traditionen des katholischen Mittelalters und der spanischen Barockliteratur anknüpfen, wie an den in Medems Heimat besonders einflussreichen Surrealismus.
Gerade in Caótica Ana bewegt sich Medem direkt auf den Spuren Bunuels. Mehr als einmal kommen einem dessen Filme in den Sinn, vor allem Dieses obskure Objekt der Begierde. Dort wurde die weibliche Hauptfigur je nach deren innerem Zustand von zwei verschiedenen Darstellerinnen gespielt. Hier nun trifft sie ihre früheren Identitäten wieder.
Medem selbst sagt, sein neuer Film sei eine »Erzählung über die Schreckensherrschaft des weißen Mannes«. Die bestehe in der »männlichen Tyrannei gegen die Weiblichkeit«. Aber es geht auch um künstlerische Initiation.
Was in der Form der Beschreibung ein wenig konstruiert klingen mag, ist im Kino ein Feuerwerk der Sinne: Mitreißend, stellenweise atemberaubend, jedenfalls unbedingt romantisch. Dabei beweist der Regisseur, dass das Kino selbst dort, wo es kitschig wird, und dem Unterbewußtseinsstrom eines Drogenrauschs ähnelt, immer noch klug sein kann: Medems Filme sind Erscheinung gewordene Philosophie mit einer ganz eigenen, sehr spanischen Note; doppelbödige Vexierspiele voller Einfallsreichtum, Energie und Zauber. Denn auch das weiß Medem von Bunuel: Die Wahrheit, so es überhaupt eine gibt, ist jedenfalls schön.
Es gibt Ausrutscher. Und dann gibt es Werke, die lassen einen plötzlich grundsätzlich an einem Künstler zweifeln. Jetzt stand Julio Medem bisher ziemlich hoch in meiner Wertschätzung: Tierra, Los amantes del Círculo Polar, Lucía y
el sexo – allesamt mehr oder weniger große Meisterwerke, sinnlich wie intellektuell beeindruckend und befriedigend. Ein Regisseur, der mit dem Herz denkt und das in sehr eigene Bilder umsetzen kann. Bis jetzt.
Nun aber Caótica Ana – und nach dem die Frage: War das alles nur ein Missverständnis? War Medem immer schon unerträglich, und man hat’s nur nicht gemerkt?
Es wäre alles halb so wild, wenn Julio Medem sich mit seinem neuen Film auch auf neues Territorium begeben hätte. Wenn man sagen könnte: Nun gut, da hat er sich verhoben; das kann er halt nicht, er soll zurück zu dem, was er schon oft erprobt hat.
Aber Caótica Ana ist auf dem Papier geradezu lupenreinster Medem. Da sind genau wieder seine altbekannten Themen und Stilelemente. Da geht es einmal mehr um den Weg einer Frau zu ihrer Identität, um die
Verarbeitung von Schicksalsschlägen, um die Verquickung von Sexualität und Spiritualität. Da muss einmal mehr ein Individuum erkennen, dass sein Leben und Ich nur die Aktualisierung eines ewigen, immerwährenden, immerwiederkehrenden Mysteriums ist.
Wenn Medem inzwischen etwas drauf hat – sollte man meinen –, dann die Inszenierung solcher Ideen. Aber in Caótica Ana funktioniert plötzlich nichts mehr von dem, was bisher bei ihm
funktionierte. Die Sexszenen, die ihm früher oft so ungemein sinnlich gelungen sind, wirken hier nur wie säftelnde Altmännerfantasien. Und der Brückenschlag zwischen diesem körperlichen Aspekt und den Kopf-Konzepten klappt nicht mehr: Auf geistiger Ebene bleibt alles papiertrockene Hirnwichserei. Was die Schauspieler aufzusagen haben, das sind durchweg Thesen und Parolen – sie verkörpern keine Charaktere mehr, sondern nur noch Prinzipien.
Man muss, immerhin, Newcomerin Manuela Vellés Respekt zollen, dass sie der Titelrolle kraft ihrer puren Persönlichkeit dennoch ein bisschen Mehrdimensionalität und Wahrhaftigkeit abtrotzen kann. Denn Ana ist eigentlich der Kulminationspunkt von Medems Papier-Konzepten. Die 18-jährige wurde, fern der Zivilisation und Konvention, von ihrem schratigen Vater auf Ibiza großgezogen; sie ist naive Malerin, die beim Straßenverkauf ihrer Bilder von einer Mäzenin entdeckt
wird; sie kommt so zunächst in eine junge Künstlerkolonie und beginnt ein neues Leben in Madrid – das bei ihr immer wieder urplötzliche psychische Zusammenbrüche hervorruft. Ein Hypnotiseur nimmt sich ihrer an und ergründet das Geheimnis: Es sind Anas frühere Leben, die sich da melden.
Denn, ja: Ana ist nicht einfach Ana. Ana ist eigentlich DIE FRAU, ist ALLE FRAUEN, und was sie durchlebt und aufarbeitet ist das Trauma JEDER FRAU.
Hat Medem in seinen bisherigen Filmen mit solchen abgetakelten Vorstellungen des »Ewigweiblichen« noch gespielt und gearbeitet, sie als Grundierung und Folie eingesetzt, hämmert er sie hier auf dümmstes, eindeutigstes Ur-Feminismus-trifft-Frauenzeitschrifts-Niveau herunter. Caótica Ana enthüllt uns nämlich folgendes: Alle Männer, seit jeher und bis in alle Ewigkeit – also etwa Mahatma Gandhi, Wim Thoelke und Thorsten Schäfer-Gümbel – sind
essentiell Vergewaltiger und Kriegsmacher. Alle Frauen, seit jeher und bis in alle Ewigkeit – man nehme nur Katharina die Große, Margaret Thatcher und Cindy aus Marzahn – sind nichts als Mütter und Huren zugleich, sind die ewig lebensspendenden, ohnmächtigen Opfer der männlichen Vergewaltigungs- und Tötungswut.
Solch nebensächliche Dinge wie Kultur, Gesellschaft, Politik spielen dabei keine Rolle, die Geschlechter sind vom großen Schwurbel, der hinter und in allem
steckt, einfach so gemacht.
Dagegen empfiehlt sich selbst der großunsägliche Mario Barth als Gleichstellungsbeauftragter – weil der seinen »Männer furzen und Frauen kaufen Schuhe«-Schmonz wenigstens ohnen jeden erkennbaren Anspruch unters Volk bringt. Medem jedoch verbrämt seinen Esoterik-Unsinn mit der Geste großer Poesie – die ihm im Resultat diesmal aber eben komplett misslingt.
Caótica Ana macht dabei die umgekehrte Bewegung der bisherigen Medem-Filme durch: Statt im Verlauf reicher, tiefer und geheimnisvoller zu werden, verflacht er mit jeder Minute Laufzeit, bis nur noch eine vollends platte, lächerliche Karikatur übrig bleibt. Selbst wenn man versucht, der alten, besseren Medem-Zeiten zuliebe ihm irgendwelche Reste von Sympathie warmzuhalten – spätestens mit dem Schluss verspielt er allen Kredit.
Da trifft Ana nämlich den Typen, der für den Irak-Krieg verantwortlich ist (na, Sie wissen schon, den einen halt), und scheißt ihm auf die Stirn. Das hat er dann davon, der Böse.
Okay, okay, um gerecht und genau zu sein: Der Repräsentant der bösen USA und des Irak-Fiaskos wird eingeführt als »one of the men who invented that war«. Und es bleibt offen, ob es ein Kackwürstlein ist, das Ana – sich als Liebesdienerin ausgebend – dem eigentlich auf’s Schnackseln
wartenden Herrn auf die Denkerfront appliziert – oder ob sie daselbst hin einen besonders dunkelfarbigen Blutklumpen menstruierend absondert. (Vermutlich sogar eher letzteres, denn dies ist nicht der Film, der sich solchen Symbolgehalt entgehen ließe.)
So oder so aber ist diese Szene so dumm und plump in ihrem Versuch einer politischen »Botschaft«, so peinlich ungekonnt, so pubertär schultheaterhaft in ihrer Inszenierung wie nichts, was man einem Julio Medem je
zugetraut hätte. (Sie funktioniert schon allein deswegen nichtmal im Ansatz, weil der Darsteller dieser Karikatur eines mächtigen, amerikanischen Kriegstreibers und -gewinnlers Gerrit Graham ist: Ein langjähriger Serien- und Nebendarsteller, der wohl das billigste und willigste war, was man an US-Schauspieler für diesen Auftritt bekommen konnte, der aber damit auch das genaue Gegenteil repräsentiert eines reichen, mächtigen, bedrohlichen Amerikas. Er wirkt genau wie das, was er
ist: Ein bedauernswerter Typ, der – im wahrsten Sinne des Wortes – den Kopf hinhält für diesen – im wahrsten Sinne des Wortes – beschissenen Holzschnitt einer Figur, um sich so ein paar Euro zu verdienen.)
Wäre da nicht Speed Racer, Medem wäre der unerträglichste Film des Jahres gelungen. Immerhin hat Caótica Ana keinen lustigen Schimpansen dabei. (Freilich: Caótica Ana ist der seltene Fall eines Films, der durch einen lustigen Schimpansen eigentlich nur gewinnen könnte – denn wenn er etwas nötig hat, dann weniger Respekt vor
der eigenen, vermeintlichen Bedeutungsschwere.)Caótica Ana ist ein Film, in den man gerade als Fan von Julio Medem lieber nicht gehen sollte – oder den man zumindest rechtzeitig verlassen sollte, wenn man spürt, dass er einem schon am Anfang nicht auf gewohnte Weise packt. Denn nach etwa einer dreiviertel Stunde fühlt er sich noch lediglich an wie ein Ausrutscher. Wenn man ihn aber ganz durchlitten hat, dann infiziert und infiltriert das Erlebnis auch die
Erinnerung an die bisherigen Filme von Medem. Dann kommt man ins Grübeln: War vielleicht schon immer bloß Esoterik-Kitsch, was man für Poesie hielt? War Lüstlings-Gesabber, was einem als sinnlich erschien? Und hat man Tiefen hineinprojeziert, wo in Wahrheit nie eine war?
Es gibt vieles an Caótica Ana, was einen ärgern kann. Was ich ihm aber nie verzeihen werde: Dass ich durch ihn jetzt Angst habe, mir noch einmal Tierra, Los amantes del Círculo Polar oder Lucía y el sexo anzuschauen.