Ö/F/D/I 2005 · 119 min. · FSK: ab 12 Regie: Michael Haneke Drehbuch: Michael Haneke Kamera: Christian Berger Darsteller: Juliette Binoche, Daniel Auteuil, Annie Girardot, Maurice Bénichou, Lester Makedonsky u.a. |
Eine perfekt kadrierte Einstellung, in einer kleinen, ruhigen Pariser Seitenstraße, gerichtet auf eine Staffelung von Häuserfronten, die sich aufbauen, so daß es keinen Horizont, keinen Himmel zu sehen gibt. Im Zentrum des Bildes, direkt gegenüber, ein kleines altes Häuschen mit einem schmalen Vorgarten, einem Gittertor, höhere Stadthäuserfronten dahinter, diese wiederum überstiegen, den Hintergrund bis nach oben ausfüllend, von einem Hochhauskomplex. Ein sonniger Tag, kein Verkehr, nur ein Radfahrer, wenig Passanten, Vögel zwitschern, der Wind bewegt die Blätter des Baums im Vorgarten, eine Person verläßt das kleine Haus, geht durch das Gittertor. Harmlose Bilder eines Stadtidylls. Plötzlich Stimmen aus dem Off, sie sprechen über diese Bilder, dann laufen die Bilder zurück, wieder vor, bis wir noch mal sehen, wie die Person das Haus verläßt.
Jemand schaut sich diese Bilder also über ein Abspielgerät an, es sind die Bewohner des kleinen Hauses, Georges und Anne, die ein Videoband abspielen, das ihnen anonym in einer Plastiktüte an das Gittertor gehängt worden ist. Sie sind verunsichert. Das Band macht ihnen verständlich, daß sie von jemandem beobachtet werden und dies auch wissen sollen, von jemandem, der aus dem Verborgenen, versteckt (»caché«), agiert.
Georges und Anne Laurent bilden zusammen mit ihrem Sohn eine gut situierte bürgerliche Kleinfamilie im akademisch-intellektuellen Milieu; er leitet eine erfolgreiche Literatursendung im Fernsehen, sie arbeitet als Lektorin bei einem Verlag. Es herrscht eine gepflegte, kultivierte Atmosphäre in der Altbauwohnung mit modernstem Komfort. Das Video bringt nun ein nicht faßbares Gefühl der Bedrohtheit in diese wohlbestellte Welt, zumal auch anonyme Anrufe erfolgen und weitere
Videos zugestellt werden, die zudem mit einer Art Kinderzeichnung versehen sind, die eine recht blutige Szene evoziert. Eine Karte mit diesem Motiv traf auch in der Schule ein, auf die der Sohn geht.
Wie in einem Thriller verdichtet sich die Spannung zunehmend, in deren Zentrum zunächst die kriminalistische Frage nach den Urhebern der anonymen Botschaften und nach deren Absichten steht. Diese Frage wird in dem Maße dringlicher, als Georges und Anne unter dem Druck immer gereizter
werden, zumal die Polizei, der sie das Ganze melden, wegen der wenig konkreten Anhaltspunkte keinen Anlaß sieht, der Sache nachzugehen. Die beiden können nicht mal sagen, daß sie jemanden im Verdacht haben. Wobei sich dann herausstellt, daß Georges sehr wohl einen Verdacht hat, nur will er über den nicht sprechen, auch mit Anne nicht. Er will diesen Verdacht nicht einmal sich selbst wirklich eingestehen, denn damit rührte er an verdrängte Schuldgefühle.
Mit diesem wiederum versteckten Spiel Georges' verlagert sich die Spannung auf eine andere Ebene, auf die es Haneke im Grunde mehr ankommt als auf die detektivische Aufklärung des Falles einer anonymen Bedrohung. Anhand von Georges zeigt Haneke nämlich ein weiteres Beispiel dessen, was er schon anläßlich seines Filmes Benny’s Video aus dem Jahr 1993 als »emotionale Vergletscherung in
den hochindustrialisierten Ländern« bezeichnete.
Georges' Versagen liegt darin, nicht angemessen mit den Folgen einer Tat umgehen zu können, die er sich als Sechsjähriger gegenüber einem algerischen Einwandererkind zuschulden kommen ließ. Er ist nicht einmal bereit, die Folgen seines Verhaltens als solche anzuerkennen, auch als er nun, im Zusammenhang mit den Videobändern, wieder unmittelbar damit konfrontiert wird. Diese Gefühlspanzerung wird von Haneke in einer
schockierenden Szene einer ultimativen Prüfung ausgesetzt, doch Georges ist aus seiner moralischen Starre nicht zu lösen. Daß Haneke die Rolle Georges' mit Daniel Auteuil besetzt hat, ist dabei eine raffiniert kalkulierte Wahl, dürfte Auteuil doch so manchem Kinobesucher am besten in Erinnerung geblieben sein als Protagonist aus den Sautet-Filmen Ein Herz im Winter oder Einige Tage mit mir. Dort spielte er scheinbar gefühlskalte Einzelgänger, unter deren abweisender Haltung jedoch noch nicht alle Empfindungen abgestorben waren.
Allerdings zielt Haneke mit Georges' Erstarrung stellvertretend auf die Haltung einer ganzen bürgerlichen Schicht der westlichen Welt. In dem spezifisch französischen Zusammenhang, in dem der Film situiert ist, erinnert Haneke dabei höchst vielsagend an ein in Frankreich lange tabuisiertes und bis heute wegen mangelnder Aktenfreigabe immer noch nicht ausreichend aufgeklärtes Massaker, das in der Zeit des Algerienkriegs in Paris stattfand. Dort protestierten am 17. Oktober 1961 in einer Massenkundgebung etwa 30000 Algerier gegen eine nur für sie geltende, vom Polizeipräfekten verhängte Ausgangssperre. Infolge eines umstrittenen gewaltsamen Polizeieinsatzes sollen dabei um die 200 Algerier umgekommen und über 10000 verhaftet worden sein. Verantwortlich war der damalige Polizeipräfekt Maurice Papon, der 1998 zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt wurde – nicht wegen dieses Massakers, sondern weil er als Polizeipräfekt des Vichy-Regimes in den vierziger Jahren für die Deportation von über tausend Juden verantwortlich war. Das Massaker vom 17. Oktober 1961 bildet den Hintergrund des verdrängten Ereignisses in Georges' Kindheit, und ähnlich wie Georges sein Vergehen verdrängte die Öffentlichkeit in Frankreich lange Zeit die Toten jenes Tages.
Aber Haneke versucht seiner Fallstudie neben den kriminalistischen und den individualpsychologischen Motiven somit nicht nur historisch-gesellschaftliche Hintergründe zu geben, sondern versieht seine Geschichte auch noch mit einer medientheoretischen Komponente. Diese ist festzumachen an dem nicht genau verortbaren Status der Bilder auf den Videobändern. Die Videoaufnahmen in dem Film haben keinen identifizierbaren Urheber, so wird dem Zuschauer mit Nachdruck vermittelt. Die Interpretationen, die sich anbieten, können aber nicht so recht befriedigen, zumal sie sich auch gegenseitig ausschließen. Einmal könnte es sein, daß die Bilder Manifestationen des Unbewußten von Georges sind, sie werden in der Montage anfangs tatsächlich auch mit Erinnerungsfetzen von Georges durchsetzt. Man könnte in ihnen aber auch den externalisierten Blick einer moralischen Instanz sehen, der man nicht entkommt, zugleich könnten sie den allgegenwärtigen Überwachungsblick einer Kontrollgesellschaft repräsentieren. Andererseits veranschaulichen diese Bilder streckenweise ein reines, phänomenologisches Sehen, das nichts will, als nur die Dinge zu zeigen. Die Anfangseinstellung etwa ist in diesem Sinn einfach als schön zu bezeichnen. Aber der Zusammenhang, in dem diese Bilder hier eine besondere Hinweisfunktion bekommen, zerstört den schönen Schein schnell. Daß dieser unschuldige Status medial vermittelter Bilder trügerische Illusion ist, könnte einer der Schlüsse sein, die Haneke dem Zuschauer nahelegen möchte.
Die Spannung, die der Film auf mehreren Ebenen sehr raffiniert aufbaut, wird letztlich nicht aufgelöst, das darf sie nach dem Konzept Hanekes auch nicht. Am Ende soll sich der Effekt der Verunsicherung, der am Anfang bei Georges und Anne stand, nämlich auch auf den Zuschauer übertragen. Das Schlußbild ist in geradezu aufdringlicher Weise ambivalent und offen und überläßt es ganz dem Zuschauer, die Akte des vorgeführten Falles zu schließen oder weiterzuführen. Sollte letzteres der Fall sein, so hat man wohl den Schwarzer Peter bekommen, nach dem Motto: Honni soi qui mal y pense – Ein Schelm, wer sich Böses dabei denkt.
Vater, Mutter, Kind. Das ist ein beliebtes Kinderspiel. Die Rollen sind klar verteilt, Unglück kommt nicht vor. Der Vater kommt abends von der Arbeit nach Hause, das Kind hat Freunde und auch sonst keine größeren Probleme, die Mutter arbeitet halbtags, manchmal kommen Abends Freunde zum Essen. Die Familie, die Burg: Sie schützt ihre Mitglieder durch den inneren Zusammenhalt vor Eindringlingen, Fremdkörpern. Doch was passiert, wenn die Verunsicherung langsam einsickert, diffus, nicht greifbar bleibt? »Keine Hochs, keine Tiefs, allen geht es gut« wiederholt der Vater auf Nachfragen.
Ein Wohnhaus in der Stadt, bei Tag und bei Nacht. Ganz statisch, der Eingangsbereich. Vereinzelt gehen Menschen ein und aus. Mehr ist nicht zu sehen auf den Videobändern, die, eingewickelt in verstörende Kinderzeichnungen vor der Tür der Familie Laurent liegen. Es ist ihr Haus, ihr Eingangsbereich. Ein ganz normaler Kriminalfall, so scheint es. Georges Laurent (Daniel Auteuil) ist ein prominenter Fernsehmoderator. Entführungen, Erpressungen sind da nicht so unwahrscheinlich. Die Eltern haben Angst um ihren Sohn, passen besser auf. Aber es passiert nichts. Nur Videobänder, mysteriöse Anrufe, Kinderzeichnungen. Auf einem Band ist dann etwas anderes zu sehen: Das Landgut, auf dem Georges aufwuchs. Das ist der entscheidende Verweis. Georges hat jetzt ein Geheimnis, er weiß, was seine Familie bedroht. Seine eigene Schuld ist es, aus einer Zeit, als er im »Vater, Mutter, Kind«-Spiel noch das Kind war.
Caché ist ein Film, der weh tut. Michael Haneke zerstört eine wesentliche Säule der modernen Gesellschaft: Die Kernfamilie. Jeder ist am Ende für sich allein; Familie, Gemeinschaft, Liebe sind nicht mehr als eine dienliche Einbildung. Der Burggedanke verkommt von der Hilfskonstruktion zur hilflosen Illusion. Und Haneke macht klar: Das ist ein Exempel. Trojanische Pferde gibt es in jeder Familie. Seine Reflexionen über Schuld und Sühne in Caché sind auch deshalb so schmerzhaft, weil sie keinen Ausweg kennen. Der Weg zurück wird unmöglich, und wie soll es erst in die Zukunft weiter gehen?
Wie schon in Funny Games oder Benny’s Video beginnen sich auch in Caché nach und nach die Grenzen zwischen medialer Dauerpräsenz und Realität aufzulösen. Der Flachbildschirm in der Bücherwand füllt bald die Leinwand, ob es sich um eine Videoaufzeichnung, die Realität oder eine Rückblende handelt ist nicht mehr zu trennen. Ein entscheidender Streit von Anne (Juliette Binoche) und Georges findet vor dem Bildschirm statt, über den unausgesetzt Kriegshandlungen im Nahen Osten laufen. Nicht nur der Bildschirm entwickelt in Caché den Sog eines schwarzen Loches, hinein in den seelischen Abgrund. Die Farben sind gedämpft, Kleidung und Innenräume – insbesondere die Wohnung der Familie – beschränken sich fast ausschließlich auf eine Variation von beige, schwarz und weiß. Wie in der Anfangsszene von David Lynchs Lost Highway, in dem zu Beginn ebenfalls ein mysteriös statisches Video vor der Tür liegt, gewinnen die Gegenstände ein düsteres Eigenleben. Das schwarze Telefon, die schwarze Art-Deco Lampe, der beige, beunruhigend fleckenlose Teppich verschlingen langsam die Menschen, die sich in der Kontrolle glauben.