Die geraubte Sicherheit |
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»Ein Film ist 24 mal Lüge pro Sekunde« Caché von Michael Haneke |
Anfang Dezember gewann Michael Hanekes neuer Film Caché, einer beklemmenden Studie über Terror und Paranoia, über die Wiederkehr des Verdrängten, die eine großbürgerliche Pariser Familie heimsuchen, insgesamt fünf europäische Filmreise, darunter die Auszeichnung für den »Besten Film« und die »Beste Regie«. Auch beim Festival von Cannes wurde der Film mit dem Regiepreis ausgezeichnet.
Der 1942 in München geborene Österreicher Michael Haneke gehört zu den spannendsten Filmregisseuren der Gegenwart. Mehrfach war er mit seinen Filmen – Benny’s Video, Funny Games, Code inconnu, La pianiste – im Wettbewerb von Cannes vertreten, und gewann jeweils wichtige Preise – die »Goldene Palme« blieb ihm bisher allerdings versagt. Hanekes Filme sind psychologische Fallstudien über die Pathologie der reichen Konsumgesellschaft und bewegen sich im Bereich des Unbewussten, der Angst und der versteckten Gewalt.
Mit dem Regisseur sprach Rüdiger Suchsland.
(Das Interview wurde in Köln am 16. Juni 2005 geführt – aus Anlass der bevorstehenden Deutschlandpremiere des in Deutschland geförderten Films beim NRW-Filmkongress – vielen Dank an Katharina Blum und die Filmstiftung NRW für Vermittlung.)
artechock: Warum sind Sie Filmregisseur geworden?
Michael Haneke: Das frage ich mich auch manchmal. Ich wäre lieber Pianist geworden, aber leider hat mein Talent nicht gereicht. Gott sei Dank. Denn ich kenne viele Pianisten, die mittelmäßig begabt sind. Das ist schrecklich. Natürlich kann jeder machen, was er will. Es interessiert mich dann nur nicht.
Warum habe ich, nie Shakespeare oder Tschechow aufgeführt, obwohl ich 20 Jahre am Theater gearbeitet habe, und beides für mich das
Beste sind, was es in der dramatischen Literatur gibt? Weil ich mich das nicht getraut habe. Weil ich es unverantwortbar fand, notwendig so meilenweit hinter dem Autor zurückzubleiben. Diese permanente Form von Scheitern wollte ich mir nicht antun. Als Filmemacher fühle ich mich dem Autor Haneke gewachsen. Das ist eine gute Lösung.
[Ich wollte auch etwas werden, das mir angemessen ist, bei dem ich mich nicht verbiegen muss.] Wenn Sie selber die Drehbücher schreiben und sie
verfilmen, ist die Chance, eine Identität zwischen Inhalt und Form zu finden, größer, als in jeder anderen Kunst.
artechock: Wie hat sich Ihr eigener Blick entwickelt? Was ist Ihre erste Kinoerinnerung?
Haneke: Meine Großmutter hat mich ins Kino mitgenommen – da war ich vielleicht vier oder fünf Jahre alt. Der Film war Hamlet von Lawrence Olivier. Am Anfang dieses Films braust draußen ein heftiger Sturm, die Wogen des Meeres klatschen an das Schloss, es ist Nacht und alles sehr dunkel. Ich habe so vor Angst geschrieen, dass meine Großmutter mit mir nach drei Minuten wieder gehen musste. Ich weiß nicht genau, ob das meine erste Erinnerung ist, oder ob mir das meine Großmutter später erzählt hat.
artechock: Es gibt den speziellen Haneke-Touch, einen Blick auf die Dinge und die Verhältnisse. Wie hat sich dieser Blick entwickelt?
Haneke: Es gibt für mich drei Kinoerfahrungen: Die erste mit meiner Großmutter, die ich gerade erzählte. Dann wurde ich als Sechsjähriger – es gab damals so ein Programm von skandinavischen Ländern für die Kinder der Kriegsverlierer – zur Erholung drei Monate nach Dänemark geschickt. Eine Familie nahm mich auf, die waren sehr nett, aber für einen Sechsjährigen ist es trotzdem der absolute Horror, so lange von zuhause weg
zu sein. Die haben mich mit ins Kino genommen. Da gab es einen Film, der spielte in der Savanne, man sah Giraffen, Löwen – es war super. Aber draußen regnete es. Und ich habe nicht verstanden, warum ich dann plötzlich nach der schönen Sonne wieder im Regen stand. Das war die zweite Erfahrung.
Die dritte Erfahrung war ein Film von Tony Richardson. Da dreht sich plötzlich der Darsteller in die Kamera und wendet sich an die Zuschauer – ich fiel vom Stuhl, dass man mir so die
Illusion nahm. Ich glaube, wenn man diese drei Erfahrungen zusammen denkt, dann sagt das was über meine Position dem Kino gegenüber: Wer das Kino nicht kennt, hat nicht die Distanz, die für seine Erfahrung nötig ist. Und die Gefahr der Manipulation ist somit viel größer. Das ist das Thema. Ich erfahre es immer wieder – selbst bei meinen Wiener Studenten, die sich immerhin mit Film beschäftigen, aber doch in einer ganz naiven Weise mit dem Medium umgehen.
artechock: Wie ließe sich solche Naivität aufbrechen?
Haneke: Über den Schock. Filme müssen einen Nerv treffen. Je schmerzhafter die Wunde ist, um so mehr werden sich die Leute auch dafür und dagegen entscheiden. Und das ist es schon, was ich als Filmemacher will, denn das ist auch das, was ich selber will, wenn ich ins Kino gehe.
Der Film, der mich in meinem Leben am meisten weiter gebracht hat, war seinerzeit Saló oder die 120 Tage von Sodom von Pasolini. Der Film hat mich völlig fertig gemacht. Pasolini zeigte Gewalt als das, was sie wirklich ist: Leiden der Opfer. Das fand ich unerträglich. Das ist bis heute der Film, der mich am meisten aus der Bahn geworfen hat. Ich hab den auch nur einmal gesehen. Zuhause liegt eine DVD, aber ich habe bis heute nicht gewagt, ihn mir noch mal anzuschauen. Der hat mich wirklich… Damals habe ich mich
ununterbrochen gefragt: Halte ich das noch aus? Muss ich jetzt kotzen? Ich war drei Wochen krank nach diesem Film. Der ist ja unerträglich. Aber der hat mich wirklich über sehr sehr viel nachdenken lassen.
In einer Gesellschaft wie der unsrigen kann man Kino oder dramatische Kunst im weitesten Sinn nur so machen. Man kann sie nicht konsensuell machen. Dann ist man dumm. Oder feig, oder zynisch.
artechock: Bei Ihrem Film Funny Games ist Ihnen ja auch von Teilen der Kritik vorgeworfen worden, dass Ihr Umgang mit Gewalt Selbstzweck sei, dass es Ihnen nur um Provokation ginge...
Haneke: Ich bin überhaupt kein Provokateur! Da hat man den Film falsch verstanden. Ich habe immer geglaubt, das kann man gar nicht so verstehen. Man kann ihn nur als einen Tritt in die Magengrube verstehen. Und so sollte es auch sein.
Man sagt ja von mir oft: Das ist ein Provokateur. Aber mit dem Film wollte ich tatsächlich provozieren. Der Film sollte eine Ohrfeige sein, eine aufdeckende Ohrfeige. Weil mich diese Art, wie Gewalt
normalerweise im Kino dargestellt wird, einfach ankotzt. Weil sie immer konsumierbar dargestellt wird. Und ich wollte sie einmal unkonsumierbar machen. Ich habe einmal einen zynischen Satz gesagt – der aber stimmt – weil mich jemand gefragt hat: »Ja wollen Sie denn die Leute aus dem Kino treiben?« Darauf habe ich geantwortet: »Schauen Sie: Wer den Film angeschaut hat, der hat ihn offenbar nötig gehabt. Wer ihn nicht nötig gehabt hat, ist vorher rausgegangen. Also kommen
Sie mir jetzt nicht, und beklagen sich, dass der Film so gruselig war. Denn offenbar wollten Sie ihn ja doch sehen, sonst hätten Sie, wenn er ihnen zu grausig war, ja gehen können.«
artechock: Aber es kann ja eigentlich nicht ein gewünschter Erfolg sein, wenn man dann als Zuschauer rausgeht...
Haneke: Doch, in einem gewissen Maße. In so einem Fall schon. Es ist vielleicht kein Erfolg… Aber das so genannte „normale“ Publikum, das emotional reagiert – warum müssen die sich das anschauen, obwohl es eigentlich widerlich ist? Nur weil es spannend ist? Ich will den Zuschauer zu der Frage bringen, warum er nicht raus geht. Im Hollywood-Mainstream zahlt der Zuschauer dafür das Geld, dass er seine Aggressionen ausleben kann ohne schlechtes Gewissen. Das finde ich zynisch. Wir, die wir hier sitzen, sind dafür überhaupt nicht repräsentativ, denn wir sind alle Fachidioten. Wir sind professionell interessiert, an fachlichen Fragen, und das ist eine ganz andere Art der Rezeption.
artechock: Aber Filmkritiker reagieren natürlich auch emotional...
Haneke: Ja klar. Ich habe gar kein Problem damit, dass Leute meine Filme missverstehen. Das liegt in der Natur der Sache. Es ist ja ein Thema von allen meinen Filmen, dass Kommunikation eine sehr beschränkte Sache ist.
artechock: Sind Sie Zivilisationspessimist?
Haneke: Natürlich.
artechock: Warum?
Haneke: Aufgrund von Beobachtung. Da muss ich gar nicht forschen. Das fällt ins Auge. Ich glaube in der Tat, dass wir alle versaut sind. Durch eine Form von Realitätswiedergabe und Illusionierung in den Medien, der wir nicht gewachsen sind. Und je jünger Menschen sind, um so weniger sind sie diesen Formen gewachsen. Ich selbst gehöre noch zu der Generation, die noch ohne Fernsehen aufgewachsen ist. Als der Fernseher rauskam, hatten wir nicht gleich eins zuhause. Heute ist das leider ganz anders.
artechock: Aber auch die Kindheit erlebt doch eine Evolution. Kinder haben heute doch schon mit acht, neun Jahren eine klare Distanz zu Bildern aus Kino und Fernsehen...
Haneke: Ich halte die Bedingungen unter denen Kinder heute aufwachsen, die Fernsehen und Kino vom Babyalter an inhalieren, in der Tat für eine Gefahr. Weil die Fähigkeit zur Distanzierung fehlt. Darum polemisiere ich immer wieder über solche Fragen. Nicht, weil ich die Leute für deppert halte.
artechock: Zugleich arbeiten Sie selbst in Ihren Filmen oft mit Kindern. Was suchen Sie da? Vielleicht eine verlorene Unschuld? Oder eher gerade das Gegenteil davon, einen ganz erwachsenen Sinn für die Wirklichkeit?
Haneke: An eine Unschuld der Kindheit glaube ich nicht. Ich arbeite gern mit Kindern, weil es mit ihnen lustig ist. Nur – man muss sie halt finden. Um die Kinderdarsteller für meine Filme zu finden, habe ich so eine Frau, die spezialisiert ist auf das Suchen von Laien und Kindern. Die sucht sehr lange, und schleppt Hunderte von Kindern an, mit Fotos und Tests. Das ist immer eine mühsame Prozedur. Aber wenn man dann eines hat, das gut ist, dann ist es ganz leicht. Kinder können ja nicht lügen. Jedenfalls nicht als Schauspieler. Wenn sie richtig verstehen und empfinden, was sie spielen sollen, dann stimmt jeder Satz. Wenn nicht, dann kann man machen, was man will – es wird nie hinhauen. Insofern ist die Arbeit leichter, als mit mittelmäßigen Schauspielern.
artechock: Gibt es Filmemacher, denen Sie nacheifern, die Sie beeinflusst haben?
Haneke: Inwieweit ich „beeinflusst“ bin, das müssen die Kritiker feststellen. Ich will es gar nicht wissen. Da wird man nur steril. Einflüsse, sofern sie bewusst werden, lähmen einen ja. Es kostet Kraft, zu vermeiden, dass sie sichtbar werden. Bresson hat einmal mit einem Stendhal-Zitat geantwortet: Es sind die anderen Künste, die mich die Kunst des Schreibens gelehrt haben. So könnte ich es auch sagen. Literatur ist mir am
wichtigsten. Dann kommt die Musik. Aber ich könnte keinen Einfluss geltend machen.
Die zwei Filmemacher, die mich am meisten beeinflusst haben, sind sicher Bresson auf der einen Seite, Hitchcock auf der anderen. Weil beide in ihrem Bereich absolute Meister sind.
artechock: Also die Reduktion und die Manipulation?
Haneke: Hitchcock ist ja nur an der Oberfläche ein Manipulator. Wenn man genau hinschaut, ist er der Analysator der Manipulation. Einfach so die Leute zu manipulieren, ist ja leicht.
Aber der Thrill ist bei ihm nur ein Mittel, um die Geschichte zum Rollen zu bringen. Das gilt auch für meine Filme Funny Games oder den neuen Film Caché. Darum gibt es dort gar keine Lösung am Schluss. »Wer es war«, ist völlig uninteressant.
artechock: Ist das eine Absage an das Geschichten erzählen?
Haneke: Nein, ich muss die Geschichte als Vehikel benutzen, um etwas erzählen zu können. Was ich erreichen will, ist die Irritation der Zuschauer. Nur eine Irritation bewirkt wirklich etwas. Man will aus dem Kino nicht so rauskommen, wie man reingegangen ist – das wäre verlorene Zeit. Aber Thriller oder andere Genrestoffe interessieren mich überhaupt nicht. Ich könnte am laufenden Band Thriller drehen. Wenn man das einmal kann, dann kann man es.
artechock: Ihre eigenen Filme bedienen sich auch der Reduktion...
Haneke: Ich würde es eher Aussparen nennen. Kinozuschauer sind durch die irre Geschwindigkeit heutiger Filme dazu verdammt, nur noch passiv zu reagieren und die Wirklichkeit auf der Leinwand nur noch in Fragmenten wahrzunehmen. Gucken Sie sich doch bitte mal diese wahnwitzigen Schnitte in einem 08/15-Hollywood-Film an! Darum redet man ja von „Zerstreuungskino“, weil die Zuschauer darin zerstreut werden – wahrsten Sinn des Wortes: In tausend Stücke zerfetzt werden sie von den Eindrücken in ihrer Fülle. Man muss dem Zuschauer die Zeit zurückgeben, Zeit, die er braucht, um einen Gedanken zu fassen. Und die er braucht, um einen Schritt zurück zu gehen, Distanz einzunehmen und das Ganze zu betrachten. Obwohl ich natürlich mir bewusst bin, dass die Welt sich uns immer fragmentarisch darstellt, dass Kommunikation sich immer nur in Fragmenten ereignet.
artechock: Gibt es Einflüsse auf Ihr Werk, die außerhalb des Films liegen? Sie haben einst am Theater begonnen...
Haneke: Theater interessiert mich nicht. Der einzige, der mich interessiert, ist Tschechow. Das habe ich aber immer vermieden selbst zu machen, denn das kann man nur machen, wenn man die absolute Topbesetzung hat.
artechock: Sie haben dann lange fürs Fernsehen gearbeitet, und auch Ihre ersten eigenen Regiearbeiten sind Fernsehfilme...
Haneke: Ich war beim Südwestfunk, als Redakteur, der jüngste Fernsehdramaturg Deutschlands. Das erste, was ich als Regisseur gemacht habe, hieß »Was kommt danach?«, eine Produktion für das Dritte Programm, ein Zweipersonenstück. Dann gab es eine ZDF-Produktion, die ist gottseidank verschwunden – ein völliger Scheißdreck. Es gibt eine VHS-Kasette. Bei all meinen Retrospektiven ist die nie aufgetaucht. Es war eine
Katastrophe, der ganze Film von A bis Z, ein furchtbar rührseliger Mist. Das mache ich nie wieder: Etwas machen, von dem ich glaube, dass es nichts wird. Und Bedingungen zu akzeptieren, die es unmöglich machen, dass etwas Gutes dabei herauskommt. Dann kam noch mal der Südwestfunk mit »Drei Wege zum See« nach Ingeborg Bachmann. Heute interessiert mich Fernsehen überhaupt nicht. Finanziell ist es nicht interessant, und man muss das Niveau so weit herunterschrauben.
Damals war es
auch schon schlecht, aber es gab noch einzelne gute Leute. Etwa Peter Beauvais. Das war ein Besessener. Der hat tolle Fernsehfilme gemacht. Der Beauvais war super. Ein Vollprofi. Er hat von Schauspielern viel verstanden. Ein Arbeitstier, ein Worcaholic, der hat zwei, drei Produktionen gleichzeitig gemacht. Aber er ist heute in Vergessenheit geraten. Das ist das Schicksal der TV-Regie. Wenn Du tot bist, bist Du tot. Es gab natürlich Ausnahmen: Peter Lilienthal – ein Genie!
Seine Fernsehfilme waren absolut genial. Ich hab von dem im Fernsehen Filme gesehen – die waren zum Niederknien gut. Um Lichtjahre allem anderen, was da zur gleichen Zeit in Deutschland im Kino passiert ist, voraus. Das ist heute im Fernsehen nicht mehr möglich. Weil das Fernsehen sich das nicht leisten kann. Fernsehen muss Quote haben und der Lilienthal war teilweise natürlich ein Quotenkiller. Aber das war das Spannendste, was es im Fernsehfilmraum gab.
Noch besser war
der Eberhard Fechner mit seiner Biographie der „Comedian Harmonists“ – grandios! So etwas wäre heute nicht mehr möglich. Das ist einfach nicht mehr drin. Es geht nicht. Und das ist ein Jammer.
artechock: Warum gibt es das heute nicht mehr?
Haneke: Heute sind die Ausnahmen nicht mehr möglich. Es sind immer nur die Ausnahmen, die zählen. Die Möglichkeit der Ausnahmen. Ich glaube aber überhaupt nicht, dass sich irgendetwas beim Fernsehen in den letzten 30 Jahren verbessert hat. Ich glaube, dass das intellektuelle Durchschnittsniveau der Drehbücher enorm gesunken ist. Das Fernsehen gleicht sich immer mehr dem Mainstream-Kino, das von Hollywood diktiert ist, an, auf einer
ganz simplen Ebene. Und das muss es auch. Sonst kann es in diesem Kontext nicht bestehen. Das ist ja kein Vorwurf, es ist nur eine Feststellung.
Natürlich: Der Durchschnitt von heute ist genau so ein Durchschnitt wie ehedem. Aber ehedem waren eben Lilienthal, Fechner und solche Leute möglich. Und heute sind sie es nicht mehr. Weil das Fernsehpublikum inzwischen auf eine bestimmte Art von Niveau programmiert ist. Das ist ja das Dilemma: Wenn Sie dort etwas machen, was über das
Niveau hinausreicht, verlieren Sie ja den Zuschauer, Sie gewinnen ja keine. Es ist das Gesamtsystem, das diesen Effekt hat.
artechock: Sie sind ein Regisseur des Schreckens, des Horrors, der sich im Alltäglichen verbirgt. Wie weit ist Ihr Werk von Edgar Allen Poe und von Franz Kafka über den Sie ja mal einen Film gedreht haben, mitbeeinflusst?
Haneke: Ich muss Ihnen sagen, ich kenne Poe überhaupt nicht. Das hat mich auch nie interessiert. Ich habe öfter versucht, was zu lesen, aber es hat mich gelangweilt. Kafka ist für mich ganz was anderes. Kafka ist eine der Säulen der Moderne. Ich habe »Das Schloß« verfilmt.
artechock: Kommen wir auf Ihren neuen Film Caché: Er handelt von einer Familie in Auflösung. Das Werkzeug dieser Auflösung ist ein Videofilm. Man weiß nicht recht, was er eigentlich zeigt, aber er scheint eine versteckte »höhere Wahrheit« zu befördern. Sie selbst betonen immer wieder, dass Film ein Mittel der Manipulation und der Lüge ist, nicht der Wahrheit.
Haneke: Meine Filme fragen natürlich danach, was Wahrheit in den Medien und besonders im Kino überhaupt bedeuten kann. Als Filmemacher kann ich nur nach Wahrhaftigkeit fragen. Ich bezweifle, dass ein Zuschauer durch das Betrachten eines Films der Wahrheit näher kommt. Ein Film ist 24 mal Lüge pro Sekunde. Vielleicht dienen diese Lügen einer höheren Wahrheit, aber längst nicht immer. Das gilt natürlich auch für meine eigenen Filme. Code: inconnu ist von allen meinen Filmen noch derjenige, von dem am wenigsten erfunden ist.
Mein Umgang mit den Bildern will genau diese Frage aufwerfen: Inwieweit man den Bildern über den Weg trauen kann. Man kann es nicht – weder dem, was man sieht, noch dem, was vermeintlich dahinter steckt, kann man wirklich trauen. Natürlich muss man dazu auch den Zuschauer hart angehen, ihm etwas
zumuten. Der Film hat offenbar einen Nerv getroffen, der wichtig ist. Und den kann man nur auf eine zerspaltete, zumutende Weise treffen. Das ist natürlich ein Gegenprojekt zu aller Hollywood-Ästhetik.
artechock: Ihre Figuren sind diesmal wieder – im Gegensatz zu Ihrem vorherigen Film Wolfzeit – wohlsituierte Bürger.
Haneke: Meine Filme wenden sich natürlich an die Zuschauer der reichen Länder Europas. Das ist eine ungemein verwöhnte Gesellschaft, die andere Gebiete der Erde ausnutzt. Und die nicht teilen möchte. Diese verwöhnte Gesellschaft erlebt nun eine Katastrophe – in einem privaten Raum ereilt sch der Schrecken. Natürlich nicht so, wie in einem Hollywood-Film. Hollywood entwirklicht den Schrecken und Gewalt immer.
artechock: Jenseits solcher Themen – die Wahrheit in den Bildern – die in allen Ihren Filmen präsent sind, geht es diesmal auch um etwas anderes: den Umgang mit einer verdrängten Vergangenheit, gut freudianisch (und wienerisch): die Wiederkehr des Verdrängten. Der Titel spielt darauf an: Caché, „Verborgen“, ist nicht nur der geheimnisvoll Beobachter, der die Hauptfigur belauert und terrorisiert, versteckt ist auch eine zentrale Episode aus seiner Vergangenheit...
Haneke: Das gibt es in allen Ländern. In jedem Land ist es anders, weil das Verdrängte eine andere Gestalt hat. Persönlich betrifft mich natürlich die Reaktion in meiner Heimat Österreich am meisten. Aber in allen Ländern kommt das vor. Natürlich ist Verdrängung schlecht. Das ist meiner Ansicht nach ein gefährlicher Trend – dagegen wollte ich angehen.
Und dazu muss ich eine normale, aber offenkundig in Wohlstand und Bildung lebende
Familie nehmen, und ihr die Sicherheit rauben. Nur so geht das auch für die Zuschauer. Und dass ist ja die Aufgabe von Kino: Nicht Zerstreuung, sondern das Nehmen der Sicherheiten. Die Zuschauer sollen sich infrage stellen. Darum zeige ich Figuren, die sich infrage stellen – als Stellvertreter des Publikums sozusagen. Aber glauben Sie jetzt nicht, ich wüsste immer die Antwort. Ich weiß vielleicht eine Frage. Und ich finde es viel produktiver, dem Publikum Fragen mitzugeben, als
Antworten.
artechock: Was werden Sie als nächstes tun?
Haneke: Keinen Film. Ich erhole mich mal. Der Druck ist für mich immer größer. Bei jedem Film erwartet man, dass er immer besser wird, als der vorherige. Ich mache jetzt als nächstes eine Oper. Auf meine alten Tage kann ich mir das noch gönnen. Ich bin ein großer Musik-Fan. Und weil 2006 Mozart-Jahr ist, und Mozart-Opern für mich das Non-plus-ultra sind, inszeniere ich in Paris den »Don Giovanni« – ich wollte immer »Cosi fan tutte« machen.
Das macht aber der Chereau jetzt. Ich habe 20 Jahre am Theater gearbeitet, aber ich war immer an Häusern, die keinen Opern-Teil hatten. Dadurch hat sich das nie ergeben. Aber es macht mir natürlich Spaß – ich habe schon fürchterliches Bauchweh. Die Oper ist ja im Prinzip viel näher am Kino dran, als das Theater. Ein guter Theaterregisseur ist ja ein Reagierer. Im Film ist es ganz anders. In der Oper haben sie noch ein strengeres Konzept. In der Zeit, in der die Musik von A nach B
kommt, muss auch die Szene von A nach B. Das heißt, es ist eine Frage kompletter Planung.
Das Pariser Opernpublikum ist ja genauso reaktionär wie das Wiener. Aber wenn Gerard Mortier mich für eine Inszenierung anfragt, weiß er ja, dass er nicht die 365te Inszenierung in Pumphosen bekommt.