USA 2021 · 109 min. · FSK: ab 12 Regie: Doug Liman Drehbuch: Patrick Ness, Christopher Ford Kamera: Ben Seresin Darsteller: Tom Holland, Daisy Ridley, Demián Bichir, David Oyelowo, Kurt Sutter u.a. |
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Lieber laufen statt leben | ||
(Foto: STUDIOCANAL) |
»Wir müssen, fern allem Idealismus, der uns nur überforderte, zuerst die eigene Person mit allen Unzulänglichkeiten akzeptieren, Geduld mit uns selbst erlernen. Dann könnten wir darauf vertrauen, dass den Einsichten in die Mechanismen der Verlogenheit eine neue Aufrichtigkeit nachreift.« – Arno Plack, Ohne Lüge leben
Dystopische Filme und Serien, in denen jugendliche Protagonisten mit der Zukunft ringen und ihr Coming-of-Age erleben, gibt es nicht erst seit der gegenwärtigen Pandemie wie geschmolzener Sand an verstrahlten Meeren. Der große Erfolg der Tribute von Panem (2012-2015) hat nicht nur Serien wie The Rain und Tribes of Europa inspiriert, sondern nun wohl auch dazu geführt, den Erfolg mit Patrick Ness' exzellenter und sehr erfolgreicher Chaos-Walking-Trilogie, The Knife of Never Letting Go, zu wiederholen.
Das Ungewöhnliche an Buch und Film ist vor allem die Kerngeschichte um den jungen Todd (Tom Holland), der auf einem Planeten geboren wurden, zu dem seine Eltern einst mit einem Generationenraumschiff aufgebrochen waren, der aber in seiner Siedlung der letzte Jugendliche seiner Art ist. Das erinnert in Ansätzen an Alfonso Cuaróns außergewöhnlich anämische Welt ohne Kinder in Children of Men, doch in Chaos Walking gibt es nicht einmal mehr die Frauen, um Kinder zu gebären, da sie, so die Überlieferung, bei einem Angriff der Ureinwohner dieses Planeten gezielt ausgerottet wurden. Dass die Überlieferung, die vor allem vom Bürgermeister Mayor Prentiss (Mads Mikkelsen) bewahrt und erinnert wird, nicht unbedingt der Wahrheit entspricht, ahnt Todd erst, als die Vorhut eines weiteren Generationsraumschiffes der sogenannten zweiten Welle in der Nähe der Siedlung abstürzt und die einzige Überlebende Viola (Daisy Ridley) das ruhige Leben und die etablierten Hierarchien ins Wanken bringt und Todds bis dahin vorhersehbare Zukunft aus der Bahn wirft.
Denn erst jetzt wird ihm klar, dass die Kerndisposition aller Bewohner seiner Siedlung, die Unmöglichkeit, den unerträglichen Lärm der eigenen Gedanken zu verbergen, auf die Männerwelt beschränkt ist, Frauen also weiterhin denken können, ohne dass diese Gedanken gehört werden. Diese Kernidee vor allem macht Chaos Walking zu einem so überraschenden wie intelligenten Spaß. Denn zum einen wird unsere gegenwärtige Reizüberflutung und Durchdringung durch soziale Medien expositionell durchdekliniert und an ihre gesamtgesellschaftlichen Grenzen geführt, zum anderen das interessante Gedankenspiel überprüft, wie es wäre, ohne Lüge leben zu müssen und einem Diktat der Wahrheit unterworfen zu sein, wie und was wäre es, einen Reifeprozess zu durchlaufen, wie ihn Arno Plack im Zitat am Anfang vorgeschlagen hat und wie ihn Todd tatsächlich mit all den bitteren Selbstvorwürfen und Vorwürfen aus seinem Umfeld durchläuft?
Dass diese Gedankenspiele tatsächlich eine furchteinflößende Realität annehmen, ist nicht zuletzt dem überzeugenden Cast um Spiderman Tom Holland, Star-Wars (Das Erwachen der Macht)-Kriegerin Daisy Ridley und Großschauspieler Mads Mikkelsen anzurechnen, allerdings verhindert der insgesamt doch recht thetische Ansatz tatsächlich die beziehungs-dramatischen Momente und großen Gefühle der Tribute von Panem, was nach ersten Test-Screenings zu finanziell aufwendigen Nachdrehs und einem dennoch vernichtenden angloamerikanischen Kritikerspiegel und wohl nicht nur pandemiebedingter Erfolglosigkeit an den Kinokassen (in den USA und Südkorea) geführt hat.
Dabei ist Doug Limans Regie durchaus auf der Höhe seines großen Tom Cruise-Erfolgs Edge of Tomorrow, sind die westernartigen Fremdplanet-Szenarien samt der »einheimischen Aliens« überzeugend umgesetzt, funktioniert der Zerrspiegel auf unsere Gegenwart (siehe z.B. die Social Meltdowns der letzten Monate) und auch die Kernidee ist aufregend implementiert – allein schon Tom Hollands mantraartigen, »Lärm«-vermeidenden »I’m Todd Hewitt« zu folgen und ihn immer wieder verbal stolpern zu sehen, ist es wert, Chaos Walking eine Chance zu geben.