USA 2021 · 114 min. · FSK: ab 6 Regie: Mike Mills Drehbuch: Mike Mills Kamera: Robbie Ryan Darsteller: Joaquin Phoenix, Gaby Hoffmann, Woody Norman, Scoot McNairy, Molly Webster u.a. |
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Menschen im Leben, Menschen, denen man begegnen möchte. | ||
(Foto: DCM Film Distribution GmbH) |
»Ich will nicht, dass mir jemand zu nahe kommt, ich will nicht, dass mich jemand sieht, und so ist es dann auch gekommen: Niemand kommt mir nahe und niemand sieht mich.«
― Karl Ove Knausgård, Min kamp. Første bok.
Man könnte fast glauben, dass die gegenwärtige Welle autofiktionalen Erzählens im Film etwas Neues ist. Doch das liegt höchstens an der dicht getakteten Frequenz der letzten Zeit, denkt man etwa an die Höhepunkte, an Nadav Lapids Aheds Knie, Paul Thomas Andersons Licorice Pizza, Paulo Sorrentinos Die Hand Gottes, Steve McQueens Small Axe, Édouard Bergeons Das Land meines Vaters oder Janna Ji Wonders Walchensee Forever.
Aber schon lange vor dieser Welle hat Mike Mills mit seinen beiden Filmen Beginners (2010) und Jahrhundertfrauen (2016) bahnbrechende Grundlagenarbeit geleistet, indem er die Biografien seiner Eltern kongenial mit seinem eigenen Leben und gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen verknüpfte. Mit Come on, come on schafft Mills nun so etwas wie ein filmisches Triptychon, denn dieses Mal ging die Inspiration nicht von seinen Eltern, sondern von seinem eigenen Sohn und den Badewannengesprächen mit ihm aus.
Mills' Alter Ego in Come on, come on ist der Radioreporter Johnny, den Joaquin Phoenix so dezidiert neugierig und gleichzeitig verschlossen spielt wie den Privatdetektiv in Paul Thomas Anderson Inherent Vice. Denn so verletzt und verschlossen er durch seine letzte Liebesbeziehung, den Tod der Mutter und die ins Stocken geratene Beziehung zu seiner Schwester Viv (Gaby Hoffman) ist, so sehr öffnet er sich der äußeren Welt, bereist mit seinem Team die USA, um Kinder für seine Radioessays nach ihren Lebensbedingungen und Wünschen für die Zukunft zu befragen. Erst als seine Schwester ihn bittet, auf ihren 9-jährigen Sohn Jesse (Woody Norman) aufzupassen, weil sie sich um ihren bipolaren, von ihr getrennt lebenden Mann kümmern muss, beginnt Johnny sich auch im Privaten wieder zu öffnen.
Diese Entwicklung, die Mills hier so zärtlich wie poetisch zeichnet, ist die vielleicht schönste Charakterstudie zwischen einem Erwachsenen und einem Kind seit Wim Wenders' Alice in den Städten, als die neunjährige Alice (Yella Rottländer) dem Journalisten Philip Winter (Rüdiger Vogler) die Augen für die Welt öffnete. So wie Robby Müllers Kamera damals die Widersprüche zwischen Städten wie New York und Wuppertal in kristallklarem, konzentriertem Schwarz-Weiß fixiert hat, so fixiert in Mills' Film Robby Ryan, der bereits in so großartigen Filmen wie American Honey, Sorry We Missed You und Marriage Story mit seiner so dokumentarischen wie lyrischen Kamera auffiel, die sozialen Widersprüche der USA und die Zerrissenheit ihrer Menschen, ihrer Hoffnungen und Verluste. Und das ebenfalls in einem Schwarz-Weiß, das den Fokus auf die Interaktion, auf die Menschen richtet.
Die Kamera geht dabei mit Mills' Plot und Regie eine fast schon unglaubliche Synthese ein. Selbst die vorgelesenen Zitate aus feministischer und soziologischer Gegenwartsliteratur werden von Robby Ryans Kamera derartig intensiv und kreativ umkreist, dass der Inhalt der Textstellen sich in den fotografierten Momenten zu konturieren beginnt und zu etwas ganz Neuem wird – großer Kunst. Denn das, was die Kamera macht, entsteht auch auf der narrativen Ebene, entsteht über die sich herausbildenden Beziehung zwischen Johnny und Jesse etwas Neues für beide, ist gewissermaßen das Private der Beziehung das Versuchsfeld, um sich im Umgang mit anderen Menschen (und der Welt) emanzipieren zu können und wirklich souverän, unabhängig zu werden.
Wie in Karl Ove Knausgards Hauptwerk steht auch hier die gesprochene Sprache im Zentrum, sie ist wie ein Spaten, mit dem die Wahrheit ausgehoben und gestochen wird, denn nur im Aufreißen der Erde und im immer tiefer Buddeln dringt man in unberührte und »wahrhaftige« Schichten vor, so wie mit totaler Transparenz und Ehrlichkeit zu neuen, aufrechten Beziehungen, nicht nur im eigenen Umfeld, sondern auch in der Beziehung zu sich selbst. Mills gelingen hier wunderbare Erkundungen, denn gnadenlos offen sprechen die Kinder hier über Tod, Leben, Familie, Liebe und Ängste, also basalste Themen, und verändern damit auch den erwachsenen Blick, wird durch das stetige Wechseln zwischen Mikro- und Makro-Ebene ― der privaten Beziehung zwischen Johnny und Jesse und den gesamtgesellschaftlichen Interview-Sequenzen ― auch deutlich, wie eine wirkliche emanzipierte Beziehung zwischen Eltern und Kindern aussehen könnte. Ein gegenseitiges Geben und Nehmen, aber auch das Eingeständnis, dass nicht immer alles geht, dass es tagesformabhängige Tiefs geben muss, in dem das Kind den Erwachsenen genauso nervt wie der Erwachsene das Kind.
Es ist diese Ehrlichkeit, dieses Eingeständnis von Schwäche, diese so radikale wie empathische Suche nach Wahrheit und Identität – auch auf nationaler Ebene –, die Mills' Film zu einem so großartigen Erlebnis macht.
Dies liegt aber nicht nur an Mills' fantastischem Drehbuch und seiner Regie und der großartigen Kamera von Robby Ryan, sondern auch an den Schauspielern. Wer hier Woody Norman als Jesse zusieht, wie er sich Johnny nähert, wird Céline Sciammas Petite Maman mit einer neuen Sehnsucht sehen, was hätte sein können. Und wer Gaby Hoffman (die ja schon in Transparent Identitätsschwerstarbeit vom Feinsten leistete) hier zusieht, wie sie sich mit Joaquin Phoenix zu einer neuen Beziehung hinarbeitet und Joaquin Phoenix mit Jesse zu einem anderen Menschen wird, der hat das Gefühl, hier nicht Schauspielern in einem Film, sondern Menschen im Leben zuzusehen; Menschen, denen man wie in Sarah Polleys Stories We Tell am liebsten selbst begegnen möchte, um mit ihnen das eigene Leben zu leben und sich mit ihnen und durch sie zu verändern. Aber zum Glück ist das nicht notwendig, denn dafür gibt es ja Mike Mills' Film.
»Wie stellst du dir die Zukunft vor?« Johnny ist Radiomoderator. Er ist vielleicht Mitte Vierzig und reist für ein Projekt durch verschiedene Städte der Vereinigten Staaten, für das er Kinder und Jugendliche aus unterschiedlichen sozialen Schichten über ihre Vorstellungen von der Zukunft befragt.
Eines Tages telefoniert er mit seiner Schwester. Sie bittet ihren Bruder, sich ein paar Tage um ihren neunjährigen Sohn Jesse zu kümmern. Der Grund? Jesses Mutter, die in Los Angeles lebt, braucht Zeit, um ihren Mann, einen Musiker des Oakland Symphony Orchestra, davon zu überzeugen, seine psychischen Probleme in den Griff zu bekommen und sich dafür selbst in eine Klinik einzuweisen.
So begleitet Jesse dann Onkel Johnny auf seiner Reise von Los Angeles über New York nach New Orleans und zeichnet so eine Art Landkarte eines Gebiets, das sich im Wandel und im Niedergang befindet. Dazu kommen abendliche Lesungen vorm Zubettgehen aus dem »Zauberer von Oz«, einer mythischen amerikanischen Geschichte.
Die beiden müssen sich zunächst überhaupt erst einmal richtig kennenlernen. Dazu gehört, dass sie diskutieren, wie sie sich anreden sollen: »So should I call you Papa or Dad or just John?« Und dann gibt es da ein merkwürdiges Rollenspiel, das Jesse immer mit seiner Mutter spielt, auf das sich Johnny aber partout nicht einlassen will oder kann:
»I am just very sorry that your children died...« sagt der Junge zum Erwachsenen.
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Dieser Film ist eine hochsensible Studie über die Beziehung zwischen Kindern und Erwachsenen in einem Kontext jener allgemeinen Unsicherheit, die die westlichen Gesellschaften und speziell Amerika spätestens in den letzten zwei Jahrzehnten, seit dem »11. September« erfasst hat.
Von fern erinnert das auch an Alice in den Städten. In seinem Film aus dem Jahr 1974 erzählt Wim Wenders von dem deutschen Journalisten Philip Winter, der in New York gestrandet ist. Er hat den Auftrag, einen Artikel über amerikanische Landschaften zu schreiben, doch der scheitert. Winter ist vom Leben in New York, vom modernen Leben überhaupt, der Entfremdung und latenten Depression, die ihn umgeben, überfordert. Er reist zurück nach Deutschland, und dort durch das Land, begleitet von dem Mädchen Alice, das ihm anvertraut wurde. Das Mädchen scheint in mancher Hinsicht reifer und klüger als er und mit ihrer Hilfe entdeckt der Journalist seine Heimat Deutschland neu.
Ähnlich geht es jetzt Johnny. Es gibt klare Ähnlichkeiten zwischen beiden Filmen: Schwarzweiß, Roadmovie-Format, ein kluges Kind, das einem erwachsenen Mann etwas über den Sinn des Lebens beibringt. Aber Come on, Come on ist keine bloße Neuformulierung des Vorgängers, kein Plagiat, sondern eher eine Hommage.
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Seit etwa 30 Jahren interessiert sich das anspruchsvollere amerikanische Kino (zumindest ein großer Teil davon) für Jugendliche, die emotionale und psychologische Probleme haben und sich verloren fühlen. Diese sind die typischen Protagonisten einer Spätmoderne, die von beschleunigten Transformationen durchzogen ist.
Durch das Leitmotiv der Kinderinterviews beginnt Come on, Come on eine Art »Chronik des Dazwischen« anzulegen, also der Zwischenräume und Lücken zwischen den Generationen: Während viele Erwachsenen heute über die Vergangenheit und deren Gespenster grübeln, scheinen ihre Kinder noch ratloser und orientierungsloser, aber im Hinblick auf die Zukunft. Die Befragten, die über ihre Erwartungen sprechen, erwähnen überaus häufig Ängste über die globale Erwärmung,
über die Zunahme der Fremdenfeindlichkeit und andere Sorgen, die gerade sehr in Mode sind.
Neffe Jesse wird dagegen zum vermittelnden Element, weil er nicht weiß, wie er mit der Gegenwart umgehen soll. Der Junge mit den exzentrischen Manieren, der zu unerwarteten Handlungen fähig ist und über eine große Neugier verfügt, leidet auf seine Weise unter den unmittelbaren familiären Problemen. Plötzlich muss er bei einem Onkel leben, der ihm praktisch unbekannt ist, und mit dem Mangel
an Informationen über seinen Vater fertig werden, der in einer anderen Stadt an psychischen Störungen leidet. Aus der Beziehung zwischen Johnny und Jesse entsteht natürlich der Versuch eines Dialogs zwischen sehr unterschiedlichen Perspektiven, die sich jedoch inmitten des zeitgenössischen Chaos gegenseitig helfen.
Trotz der Schönheit der Bilder und der Symbolik der Befragungen der Kinder, die sich vorstellen, wie es morgen sein wird, gewinnt Come on, Come on noch an Kraft, weil er es zulässt, dass einfache Gesten und Pausen die Bemühung der Figuren vorantreiben, sich gegenseitig zu verstehen und zu versuchen, sich sozial zu arrangieren.
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Come on, Come on ist auch eine Untersuchung über Journalismus und Kunst, über das Ego oder seine Selbstaufgabe, wenn wir unsere volle Aufmerksamkeit auf den anderen richten. Auch im Verhältnis zu Jesse versucht das der Onkel, aber der Junge lässt ihn auflaufen. Erst nach mehreren Zusammenstößen nähern sich beide und werfen die eigenen Masken ab.
Das Ergebnis ist ein humorvolles, sehr sensibles, bittersüßes, trotzdem optimistisches Portrait einer modernen Patchworkfamilie, das auch das Portrait der besseren Seite Amerikas ist. Was Mike Mills' neuen Film nach Beginners (2011) und 20th Century Women (2016) so persönlich und liebenswert macht, ist die Tatsache, dass der Regisseur zum ersten Mal nicht Jahre in die Vergangenheit zurückgeht, sondern zusammen mit Joaquin Phoenix eine schöne, einzigartige und schwierige Erfahrung erforscht, die zudem für beide neu ist: die Verwandlung des Onkels und Ersatzvaters in den besten Freund des Kindes. Irgendwann sprechen beide darüber, was sie für Kinder sein wollen.