USA 1998 · 100 min. · FSK: ab 16 Regie: Alex Proyas Drehbuch: Alex Proyas, Lem Dobbs, David s. Goyer Kamera: Dariusz Wolski Darsteller: Rufus Sewell, Kiefer Sutherland, Jennifer Connelly, William Hurt |
In dieser Welt nimmt die Nacht kein Ende. Vom ersten Augenblick an weiß der Zuschauer, daß er sich im Nirgendwo von Zeit und Raum befindet, in einer Stadt ohne Namen, die aussieht, wie eine düstere Kreuzung aus Chicago, Gotham City und Metropolis, und in einem Ort, in dem es Aliens gibt, Außerirdische, die ein undefiniertes, jedenfalls aber böses Spiel treiben.
Alex Proyas (The Crow) verlangt viel. Zwar ist Dark City unterhaltsam, spannend und über weite Stecken zügig erzählt, aber zugleich eine Zumutung: Lange nicht sah man ein solches Gemisch von Genres, eine solche Menge angedeuteter Themen. Selten ist klar, wohin die Reise geht, Zitate überlagern einander: Der Getriebene, der sein Gedächtnis verloren hat, und versucht sein
Leben zu rekonstruieren; der sensibel-melancholische Polizist der seinen Fall sucht; ein frankensteinartiger Psychiater. Dazu die Szenerie der Stadt als Universum, in der das Kollektivgedächtnis der Masse von einem charismatischen Diktator beherrscht wird, wie man es aus Langs Metropolis kennt.
Fast alles ist aus zweiter Hand: Offen wird aus expressionistischen Filmen der 20er Jahre
zitiert, allen voran aus Fritz Langs Metropolis, das den gesamten Bezugsrahmen von Design, Technik und Architektur liefert.
Vor allem der Film Noir gibt das Vorbild ab, jene schwarzen amerikanischen Filme aus den 30er bis 50er Jahren. Spätestens vor 30 Jahren schienen deren Themen ausgereizt: Die quasi-existentialistische Entgegensetzung Einzelner vs. Gesellschaft schien untauglich
geworden, um Alltagserfahrungen zu einer Logik der Ausweglosigkeit zuzuspitzen. Düstere Science-Fiction-Filme (Alien) waren offenbar ein tauglicheres Medium, um Paranoia und Orientierungsverlust darzustellen.
In der Gestalt des Science-Fiction kehrte der Film Noir aber bald zurück. Schon Blade Runner barst nur so von entsprechenden Anspielungen, und galt bald als »Neo-Noir«. Und Dark City ist lange nichts anderes. Ähnlich wie bei Blade Runner geht es auch hier um Infragestellungen von Identitäten: Denn die Außerirdischen manipulieren die Erinnerung, und greifen willkürlich in das Leben der Stadtbewohner ein. Deren Identität wird flüssig, ein aktuelles Thema zu einer Zeit, in der die Medizin dabei ist, die letzten Reste menschlicher Individualität technisch reproduzierbar und verfügbar zu machen.
So gesehen ist Dark City auf der Höhe seiner Zeit. Ein intelligenter, vielschichtiger, mutiger Film, der die grellen Effekte des alten Kinos zu grandiosen Bildern bündelt, und guten Schauspielern (William Hurt, Kiefer Sutherland, Ian Richardson) schöne Auftritte gibt.
Und dennoch: Dark City ist zu weit, zu kompliziert, zu riesig angelegt, als das Proyas alle Skizzen und netten Einfälle auch nur ansatzweise unter Kontrolle bekommt.
Identitätsverlust, Detektivjagd auf Serienkiller, Menschen als Spielball von Außerirdischen, subtile Psychostudien und filmgeschichtliche Videoclipsall das glaubt der Regisseur wahrscheinlich selbst zu einem zweiten Metropolis verrührt zu haben.
Wie sehr er sich dabei verhoben hat, offenbart vor allem das Ende: Proyas bekommt seine Story nämlich nur dadurch unter Kontrolle, daß er die
bis dahin ganz annehmbar durchgehaltene Film Noir-Doppelbödigkeit in eine kitschige Idylle auflöst. Die Nacht, sprich das Janusgesicht der Welt und die Schattenseiten der Moderne, muß kurzerhand für allezeit verschwindenfür immer geht die Sonne auf.
So löst sich die Beklemmung des Film Noir in kitschige Idylle auf, und alles, was zuvor als etwas manirierter, aber ernstzunehmender »Neo Noir« gelten konnte, als inspiriertes Nachdenken über Filmgeschichte, wird zum Verrat am Genre und macht aus dessen Gesten einen reinen Kunststil, von dem nur Unauthentisches und Stilisiertes übrigbleibt.
In einer namenlosen, ständig nächtlichen Stadt sucht ein Mann (Rufus Sewell), aufgewacht in einer Badewanne neben einer ermordeten Prostituierten, nach seiner verlorenen Identität. Da er keine Erinnerungen hat, beginnt er die Realität erst langsam, wie ein Puzzlespiel zusammenzusetzen.
Auf der Flucht vor einem Polizeiinspektor (William Hurt), der ihn wegen Mordes sucht, gerät er an die Nachtclub-Sängerin Emma, die sich als seine Frau ausgibt. Zudem wird er von merkwürdigen Männern verfolgt, die ihn mit telepatischen Kräften angreifen, gegen die er sich aber mit gleichen Mitteln zur Wehr setzen kann. Mit Hilfe des dubiosen Dr. Schreber (Kiefer Sutherland mit einer grandiosen Show) kommt er langsam einen geheimen, die Realität verändernden Experiment unbekannter Mächte auf die Spur. Bei dem mysteriösen Ort Shell Beach, der nur in seinen Erinnerungen zu existieren scheint, scheinen die Fäden schließlich zusammenzulaufen.
Anfangs besticht Dark City durch ein extrem düsteres Film Noir-Design, daß vom Baustil der Stadt an die 40er Jahre erinnert und durch seine merkwürdige Detailarmut ein seltsam befremdliches Gefühl auslöst. Aber die eklektizistischen Zutaten bauen viel umfangreichere Dimensionen auf: die weit fortgeschrittene Macht, die unter der Stadt unbemerkt die Kontrolle übernommen hat, tritt ähnlich den Zeitdieben aus Momo auf und besitzt starke Ähnlichkeit mit den Dämonen aus Hellraiser. Wie die Borg (Star Trek) haben sie ein kollektives Bewußtsein.
Die bedrückend-paranoide Atmosphäre erinnert stark an Brazil oder den orwellschen Alptraum 1984 – und an ungefähr ein Dutzend weitere Filme. Denn: Der Hauptakteur scheint der einzige zu sein, der Zeuge der nächtlichen, unheimlichen Veränderungen ist, alle anderen fallen solange in einen seltsamen Schlafzustand. Derweil entstehen durch die unheimlichen Kräfte neue Identitäten, Bauten, sogar ganze Staßenzüge wachsen aus dem Nichts. Die Stadt ist eine abgeschottete Mausefalle, aus der es in keine Dimension, auch nicht die Zeit, eine Ausflucht gibt.
Als hätte David Lynch Pate gestanden ziehen einen die kafkaesken Phantasien in einen ausschweifend surrealistischen Alptraum um totale Auslieferung der eigenen Vergangenheit an manipulierende Mächte: eine Chance zur Gegenwehr ist angesichts der Einsamkeit des Erkennenden so gut wie unmöglich. Das Verwirrspiel um die tatsächliche Realität oder doch nur implantierter Erinnerungen, siehe Total Recall, ist optimaler Nährboden für ständig wachsende Hilflosigkeit des Protagonisten.
Allein das Vertrauen zu Emma scheint hier die einzig berechenbare Größe. Schließlich kommt die Intensität der Beziehung zu ihr im Gefängnis zur Geltung, als er durch pure Willenskraft eine Glasscheibe zerbricht, die beide getrennt hat, um sie küssen zu können – eine wunderbar überwältigende Szene und mit Sicherheit der
elektrisierendste Augenblick im gesamten Film. Zum Ende hin stellt Regisseur Alex Proyas dem vorherrschenden Nihilismus einen völlig übertriebenen Gigantismus gegenüber, der seinesgleichen am ehesten bei Werken wie den exzentrischen Anime Akira sucht und mit einem phantastischen, optimistischen Schluß gipfelt.
Auf jeden Fall ist Dark City das Beste, was phantastische Erzählung seit Langem zu bieten hat. Es ist ein überfrachteter Trip in abgelegene Sphären menschlichen Bewußtseins, eine Reflexion gemeinster, verborgener Urängste, oder kurz: Fantasy für Fortgeschrittene auf höchstem Niveau.