Dancer in the Dark

Dänemark/S/FIN 2000 · 140 min. · FSK: ab 12
Regie: Lars von Trier
Drehbuch:
Kamera: Robby Müller
Darsteller: Björk, Catherine Deneuve, David Morse, Peter Stormare u.a.

Hybride Tränen

Wie, wenn Lars von Trier das alles nur ironisch meinen würde? Wenn alles ein einziger großer Scherz wäre? Wenn er es einfach nur einmal mehr allen hätte zeigen wollen, die ihm gläubig noch die absur­deste Absur­dität abnehmen, wenn er sich seinen Scherz machen würde, mit den Kritikern, den Festi­val­jurys und allen anderen, die einfach nicht ausspre­chen möchten, was sie sehen, sondern sehen, was sie glauben wollen?

Sage keiner, dass Lars von Trier nicht ein großer Ironiker sei. Dass er keiner ist, der die Gesetze des Kinos bis in ihre Details durch­schaut, und alle Register ziehen kann, der mit dem Pathos spielt. Lars von Trier mag vieles sein, aber er ist immer auch ein Ratio­na­list, einer der weiß, was er tut und der die Vernunft schätzt – und sei es nur, um ihre Grenzen zu über­schreiten. Katholik, aber kein Mystiker.

Kann man denn eine solche Geschichte überhaupt ernst meinen: Vom Opfergang der jungen Selma, einer Heiligen mögli­cher­weise, so selbstlos und ohne Harm, so engels­gleich wie sie ist. Und so nett, so putzig, so offen zu allen. So herz­er­grei­fend. Und dann noch gespielt von Björk, diesem islän­di­schen Wunder mit ihrer hellen, bezau­bernden Stimme, so licht und klar. Wenn Björk singt, scheint die Welt still­zu­stehen. »I ve seen it all« lässt sie wissen, dass es nicht mehr zu sehen gibt, dass es Todsünde wäre, noch mehr zu wollen.

Und dann ist da die böse Welt: Amerika als ein sich verdüs­ternder Traum. Der Kapi­ta­lismus, der schnöde, verkör­pert von herzlosen Vorar­bei­tern, Ärzten, die man betrügen muss, weil sie die Augen­kranke vor sich selbst schützen wollen, ohne zu sehen, dass sie ihr dadurch erst alles nehmen. Und die Maschinen, die 1964 noch so richtig hart und metal­lisch klirrten, Malmzähne eines Indus­trie­zeit­al­ters, das heute vorbei ist. Besonders böse der Polizist, der doch Arm des Gesetzes sein sollte, und um Selmas Schicksal weiß. Er wird zum Vollender der Tragödie, und das irdische Gesetz zum Werkzeug des Teufels.

Und es gibt noch die Eska­pismen: Amerika, dass trotzdem Traum bleibt, mit seinen tech­ni­schen Möglich­keiten, den Ärzten, die Heilung verspre­chen für versehrte Körper. Und seinem Sound of Music, der Heilung verspricht für die Seelen auch der Ernied­rigten; Verheißung des Glücks – im Kino zumindest. »It’s a musical, of course they dance.« Kann man das ernst meinen? Viel­leicht schon, wenn man Lars von Trier heißt.

Man kann nun sagen: »Genie­streich«. Ein Melodram, so perfekt, wie sonst nur Vorabend­se­rien. Der dänische Regisseur hat dann einfach einen heraus­for­dernden, aufwüh­lenden Film gemacht. Wer reinkommt ist drin. »Die Welt braucht solche Filme« hat einer in Cannes geschrieben.
Was aber, wenn man nicht »aufge­wühlt« ist? Ist man dann nur einer von den ganz Abge­brühten, Über­coolen, die zu inten­siven Erleb­nissen nicht mehr fähig sind? Mora­li­sie­rende Ästhetik: wer es nicht schön findet, ist eigent­lich ein schlechter Mensch.

Man kann alles aber auch so sehen: Präten­tion von der aller­ersten Minute an. Die fünf­minü­tige schwarze Zumutung am Beginn (Andacht, bitte, jetzt kommt die Kunst), Tagträume (Magie!), Kamerakreisen und Zeitlupe (Poesie!), Wackel­ka­mera (Sehen wird plötzlich nicht mehr selbst­ver­s­tänd­lich), reak­ti­onäre Opfer­my­then (Frau einmal mehr als Hyste­ri­kerin und schöne Leiche), außerdem eine behin­derte Mutter (Natur!), auch noch Auslän­derin, die in ihrer Person also all jene senti­men­talen Affekte vereint, auf die die kunst­du­se­ligen Bildungs­bürger in Europas Städten am liebsten herein­fallen. Und Björk, die so gut ist, »gerade weil sie keine Schau­spiel-Ausbil­dung hat«. Von wegen – so ein Quatsch!

Was also? Die Spannung zwischen beiden Möglich­keiten ist der Reiz dieses Films. Ernst, wo er ausge­spro­chen, gar einge­for­dert wird, funk­tio­niert nicht mehr. Darum kann man nur noch auf ihn anspielen, darf nicht mehr glauben. Ernst ohne Pathos heißt diese Grad­wan­de­rung. Von Trier spielt frech mit dem Kanon. Und mit den Mythen des Kinos. Der Traum des Musicals ist der Traum vom utopi­schen Ausweg. Davon, das man das Blut wieder abwaschen kann, danach. Ein Traum.

Nein, Lars von Trier kann das alles nicht ernst meinen.