Frankreich 2015 · 115 min. · FSK: ab 16 Regie: Jacques Audiard Drehbuch: Jacques Audiard, Thomas Bidegain, Noé Debré Kamera: Époine Momenceau Darsteller: Jesuthasan Antonythasan, Kalieaswari Srinivasan, Claudine Vinasithamby, Vincent Rottiers, Marc Zinga u.a. |
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Jede Szene eine »starke Botschaft« |
Man lernt in diesem Film, dass Flüchtlinge lügen und betrügen. Man sieht und lernt, dass Flüchtlinge nicht die sind, für die sie sich ausgeben. Man sieht, dass sie gewalttätig sind, dass sie die Kriege, vor denen sie fliehen, mitbringen und in unsere Städte tragen. Man lernt, dass sie von Traumata gequält sind, und dass diese früher oder später ausbrechen – bei uns! Man lernt, dass manchen von ihnen nicht zu trauen ist, Man sieht Einwanderer, die mit Drogen dealen und
Einwanderer, die kriminell sind.
Man sieht auch anderes – das stimmt. Aber der überwiegende Eindruck ist der schrecklicher Neuankömmlinge, die man sich doch besser vom Leib hält. Dieses Bild ist schlecht – nicht etwa das, das der Film von der französischen Republik und ihrer Integrationspolitik entwirft.
Das französische Einwanderermelodram Dheepan, für das Jacques Audiard, der amerikanisierteste unter den französischen Autorenfilmern, im Mai leider die die Goldene Palme gewann, war im Festival nicht gut angekommen. Das ist kein Argument für irgendetwas, im Zusammenhang aber doch interessant. Noch einen Tag vor der Preisverleihung hatte es für den neuen Film von Audiard (De battre mon coeur s'est arrêté, Un prophète), normalerweise ein Liebling der französischen Kinoszene, auch in den Zeitungen seines Heimatlandes eher schlechte Kritiken gehagelt.
Und zumindest auf künstlerischer Ebene scheint das auch berechtigt: Denn Dheepan ist ein überaus sentimentaler Film, der lieber Botschaften predigt, als zu beobachten, der wenig sensibel wirkt, eher forciert. Zuviel Loach ist in diesem Film, zuviel Predigt. Und zu wenig Wirklichkeit, zu wenig Beobachtung, viel zu wenig Neugier. Behauptung statt Realismus, der das Leben möglichst direkt spiegelt, der durch die Leinwand hindurch blickt.
Der Held des Films gibt dem Film den Titel. Aber schon das ist doppelbödig, denn Dheepan (mit unvergesslichem Stoizismus gespielt von Antonythasan Jesuthasan) nennt sich nur so – nach einem Toten, dessen Pass er an sich nimmt. Seine wahre Identität erfahren wir nie. Wir wissen nur: Dheepan kommt aus Sri Lanka, war Mitglied der terroristischen »Tamil Tigers«. Und er flüchtet vor dem dortigen Bürgerkrieg, begleitet von einer fremden Frau (Kalieaswari Srinivasan) und einem
Kind (Claudine Vinasithamby), das auch nicht seines ist, sondern eigens in einem Waisenhaus gesucht wurde, weil man als »Familie« bessere Chancen auf Asyl in Europa hat. In Frankreich angekommen geben sich die drei dann so als eine Familie aus und erhalten eine Wohnung in einer Banlieue, in der ein Bandenkrieg zwischen arabisch-afrikanischen Drogengangs tobt. Dheepan wird dort Hausmeister, und gewöhnt sich an diese Patchwork-Familie, die seine neue »echte« Familie wird. Yalini heuert
als Haushaltshilfe beim kranken Vater eines Gangsters an, der die Platte beherrscht. Und das Mädchen muss sich in der Schule durchsetzen, sich aus der Integrationsklasse herauskämpfen und Französisch lernen, um das Bleiberecht zu gewährleisten: Integration oder Ausweisung.
Hier ist der Film relativ stark, denn er zeigt Fremdheit aus Sicht der Ankömmlinge: Ihnen ist nicht nur die neue Heimat Frankreich fremd, sondern erst recht das Ghetto der anderen Einwandererkultur.
Eine Vorstellung davon, was nun in ihren Köpfen und Herzen vor sich geht, lässt sich nur aus ihren fassungslos blickenden Gesichtern gewinnen. Dheepan und Yalni sind dieser Welt, in die sie geflüchtet sind, völlig fremd, hier am Fenster wird diese Fremdheit augenscheinlich. Zunehmend eskalieren die Verhältnisse in Dheepans Wohnblock. Und der Hausmeister kann die bösen Kinder weder bändigen, noch zivilisieren und greift deshalb notgedrungen zu anderen, gewalttätigeren Mitteln.
Dheepan ist anzurechnen, dass er die vielen auf den Nägeln brennenden Sujets Migration und Integration in den Blick nimmt – wie er das tut, ist aber mindestens unausgegoren. Der Film verkündet in jeder Szene eine »starke Botschaft« – nur für was jetzt nochmal genau?
Denn auch, wenn Auduard mit seiner Hauptfigur sympathisiert, sind die Migranten in dem Film meist genau so, wie sie auch die rechtsextremistische Front National gern
beschreibt: Sie täuschen und belügen die Behörden, erschleichen sich mit falschen Identitäten zu Europa und seinen Sozialleistungen, sie bleiben am liebsten unter sich, sie sind faul, und entweder dumm, oder kriminell und latent gewaltbereit. Sie tragen den Krieg aus ihren Ländern in unsere Städte, und zwischen den Zuständen in den Banlieus und denen im tamilischen Dschungel, oder in denen im Gaza-Streifen. Der Staat hingegen macht auf der Leinwand, wenn er denn auftaucht, immer alles
richtig. Dem Staat, das zeigt der Film deutlich, fehlt es nicht an gutem Willen – er ist nur überfordert.
So ist Dheepan ein ungleichgewichtiger, mit Handlungswendungen vollgepfopfter Film, der Fremdheit und Migration zum Thema macht, dabei aber gelegentlich in den Klischees des Sozialdramas hängenbleibt, der sich einerseits politisch engagiert gibt, anderseits auch recht spekulativ. Das wird besonders im gewalttätigen, blutigen, harten Finale deutlich.
Denn irgendwann übernehmen dann doch Audiards schlechteste Eigenschaften, übernimmt sein Hang zu Kitsch und Exploitation, sein schlechter Geschmack das Zepter, der Film reißt sich die Maske des Engagements herunter und zu sehen ist die Fratze eines der letzten Liam-Neeson-Filme. Da spürt man: Audiard ist endlich bei sich, jetzt kann er wüten und verwüsten, ohne Rücksicht auf Verluste. Eigentlich, seien wir ehrlich, macht er das in all seinen Filmen so.
Zuvor mischte die Tonspur die exotistischen Erwartungen des Publikums durch Rap und ceylonesische Musik mit Vivaldis Wellnessklassik, die im Kino immer gut kommt. Dann wird geballert
Gut Ding will Weile haben: Erstmals wurde ein größeres Publikum auf den 1952 geborenen Jacques Audiard aufmerksam, als im Jahre 2005 dessen Drama Der wilde Schlag meines Herzens in die Kinos kam. Der internationale Durchbruch gelang dem französischen Filmemacher sogar erst vier Jahre später mit dem Mafia-Thriller Ein Prophet (2009). Jetzt gewann Audiard für Dämonen und Wunder – Dheepan (2015) sogar die Goldene Palme in Cannes. Eine berechtigte Entscheidung.
Der Film zeigt, wie der Bürgerkrieg in Sri Lanka drei Unbekannte zu einer Zweckgemeinschaft zusammenfügt, die sich als eine Familie ausgibt, um in Frankreich Asyl zu erhalten. Dies gelingt. Doch in den heruntergekommenen Wohnblocks in der Banlieue von Paris, wo sie unterkommen, herrschen ebenfalls kriegsähnliche Zustände. Dabei will der einstige tamilische Tiger Dheepan (Jesuthasan Antonythasan) nur ein ruhiges Leben als Hausmeister führen und auch die zunächst von allem überforderte Yalini (Kalieaswari Srinivasan) nimmt mit der Betreuung des alleinstehenden, dementen Habib (Faouzi Bensaïdi) schließlich eine Arbeit im Block an. Am leichtesten fält die Integration der neunjährigen Waisen Illayaal (Claudine Vinasithamby), die sich freut, zur Schule gehen zu dürfen. Dafür leidet sie unter der Kälte ihrer angeblichen Mutter.
Erstmals sorgten die Banlieues für internationales Aufsehen, als diese bei den Unruhen von Paris im Jahre 2005 in Flammen standen. Damals gingen Bilder um die Welt, wie man sie von den westlichen Industrienationen bisher nur von den USA kannte. Dass solche bürgerkriegsähnlichen Zustände plötzlich mitten im Herzen von Europa ausbrachen, war ein gewaltiger Schock. In Dheepan zeigt Jacques Audiard, dass der Bürgerkrieg in den Banlieues in Wahrheit konstant latent vorhanden ist und dass jederzeit ein einziger Tropfen das Fass erneut zum Überlaufen bringen kann.
Trotzdem verursacht es Magenschmerzen erkennen zu müssen, wie aktuelle Dheepan innerhalb kürzester Zeit wieder geworden ist. Mit den Attentaten von Paris in diesem Jahr hat sich erneut mit Schrecken gezeigt, auf welchem Pulverfass wir sitzen. Zwar geht es in Dheepan nicht um religiösen Fundamentalismus, sondern vorrangig um die Bedrohung durch Drogendealer, welche die Kontrolle über ihr Viertel übernommen haben. Aber, dass so eine verzweifelte Situation jegliche Art von Fanatismus fördert und im Extremfall sogar Kurzschlusshandlungen provozieren kann, zeigt sich anhand des namensgebenden Protagonisten Dheepan, der in seiner neuen Heimat einen heftigen Kampf mit seinen inneren Dämonen austrägt.
Das Scheitern der Integration am mangelnden Willen von Seiten des französischen Staats wird in Dheepan am Beispiel der neunjährigen Illayaal deutlich. Zuerst kommt das aufgeweckte Mädchen in eine „Integrationsklasse“, was bedeutet, dass dort fast nur Ausländer sind. Dass sie kurze Zeit später den Wechsel in eine normale Klasse – also eine mit Franzosen schafft – geschieht nicht aufgrund ihrer staatlichen Förderung, sondern trotz der Abwesenheit einer solchen. Aber der Augenblick, als Illayaal erstmals ihre „Integrationsklasse“ betritt und fast nur Farbige und Asiaten sieht, ist ein einmaliger Moment bitterer Heiterkeit der wortlosen Erkenntnis als Fremde »Fremdheit« zu erfahren
In letzterer liegt eine der größten Stärken von Dheepan: Auf fantastische Weise hat sich Audiard die Perspektive seiner Protagonisten zu eigen gemacht, die zunächst dadurch geprägt ist, dass sie in Frankreich kein Wort verstehen. Die Kamera von Éponine Momenceau – der hier sein Spielfilmdebüt gibt – übernimmt den forschenden Blick der Neuankömmlinge, die zunächst ohne die Hilfe von Sprache die sie umgebende Welt in sich aufnehmen und zu verstehen suchen. Ein tastender Blick über die Hausdächer zeigt bewaffnete Posten. Bei einem eskalierenden Konflikt kann man nur vermuten, was der Auslöser dafür ist.
Auf der anderen Seite offenbart sich im Mikrokosmos dieser Zweckfamilie ein großer Reichtum, der in starkem Kontrast zu ihrer kalten und abweisenden Umgebung steht. Obwohl sie noch nicht einmal genug Geld haben, um sich ihre karge Wohnung richtig einzurichten, zeugen doch die wenigen bunten Tücher aus ihrer Heimat davon, dass sie aus einer Welt kommen, die – jenseits des mörderischen Bürgerkriegs – voller Schönheit und voller Reichtum an Licht, Farben und an Haptik ist. Es ist dieser Reichtum, den zu erschließen sich die französische Gesellschaft so schwer tut.