Deutschland 2009 · 151 min. · FSK: ab 12 Regie: Dani Levy, Fatih Akin, Nicolette Krebitz, Sylke Enders, Dominik Graf, Hans Weingartner, Tom Tykwer u.a. Drehbuch: Angela Schanelec, Isabelle Stever, Romuald Karmakar, Wolfgang Becker, Christoph Hochhäusler u.a. Kamera: Martin Gressmann, Bella Halben, Rali Raltschew, Bernadette Paassen, Frank Griebe, Jürgen Jürges u.a. Darsteller: Dani Levy, Denis Moschitto, Helene Hegemann, Josef Bierbichler, Johanna Nagel, Benno Fürmann u.a. |
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Land der Dichter und Denker |
In einem der Zimmer des Krankenhauses brennt Licht. Auf der Station selbst herrscht kaum Betrieb. Eine Schwester geht in ein kleines Zimmer. Sie greift zum Telefon und wählt. Ein ICE rast unterdessen durch eine unwirkliche Landschaft. Die Felder sind in tiefdunkles, diffuses Licht getaucht, der Himmel ist in weiter Ferne. Das Land scheint in einem Dämmerzustand zu sein, kurz bevor die Nacht zum Tag wird.
In der Wohnung einer Trabantenstadt steht ein Mädchen im T-Shirt am Esstisch. So allein wirkt sie sehr erwachsen. Das Telefon klingelt. Das Mädchen nimmt den Anruf entgegen. »Ja, ist aus«, sagt sie mit monotoner Stimme und fährt mit ihrer Hand über die Gasschalter am Herd. Imposant erstreckt sich der Himmel über einen Fluss, langsam ziehen Nebelschwaden über das Gewässer. Ein erstes Tageslicht dringt durch die Wolkendecke. Für einen kurzen Moment denkt man an das Land der deutschen Dichter und Denker. Schließlich sehen wir an einer Kreuzung, wie sich ein Bus in die Abbiegespur vor einer Ampel einreiht. Dann werden wir auch schon mit einem Zitat aus dem Film Erster Tagentlassen. »Im Moment habe ich keinen Hunger, obwohl ich weiß, daß der Hunger weiter macht, der Moment weiter macht, die Erde weiter macht, die sozialen Lagen machen weiter, und der Hund, der in der Nachbarwohnung eingesperrt ist und schon den ganzen Morgen bellt, macht weiter.« Rolf Dieter Brinkmann schrieb diese Zeilen 1974 in Köln.
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Auffällig viele alleinerziehende Mütter mit ihren Kindern tauchen in Deutschland 09 auf. »13 kurze Filme zur Lage der Nation« soll dieses Sammelsurium sein. Also etwas von Gehalt und was man ernst nehmen können sollte. Umso erstaunlicher, dass den Filmemacherinnen Angela Schanelec, Nicolette Krebitz und Sylke Enders (aber auch Isabelle Stever) das Thema, wie berufstätige Frauen und ihre Kinder den Alltag meistern, auf den Nägeln brennt. Aus verschiedenen Blickwinkeln nähern sie sich diesem schwierigen subject an.
Angela Schanelec fängt in Erster Tag die Stimmung einer Morgendämmerung ein. Ein klassisches deutsches Thema, denkt man allein an das Gedicht »Morgendämmerung« von Joseph von Eichendorff. Doch statt Deutschland in der ersten Morgenstunde in romantischem Lichte zu zeigen, tastet Schanelec in streng komponierten Bildern die Wirklickeit ab. Und diese besteht eben darin, dass ein Zug frühmorgens Menschen zur Arbeit in die Stadt bringt, eine Frau im Krankenhaus Nachtschicht schiebt und ihre Tochter zuhause alleine ist. Ob ein Mann zu dieser Familie in Erster Tag gehört? Auszugehen ist davon erst einmal nicht. Lediglich die Natur birgt einen Moment der Ruhe und Erhabenheit, als das erste Tageslicht durch die Wolken schimmert. Der Gedanke kommt auf, dass der Tag auch anders beginnen könnte. Aber nur einen Moment lang, denn immer noch hat man das Bild im Kopf, wie das Mädchen im T-Shirt ganz auf sich selbst gestellt den Tag angeht. Ändern wird sich da nichts, daran lässt das Zitat keine Zweifel. Etwas verhuscht lässt Schanelec den Zuschauer mit diesen Eindrücken zurück. Aber das Statement, dass die soziale Lage für alleinerziehende Mütter alles andere als rosig aussieht, bleibt.
Unter klaren Vorgaben dagegen startet Nicolette Krebitz ihren Beitrag Die Unvollendete. In ihrem Was-wäre-wenn-Spiel lässt sie Helene Hegemann, Susan Sonntag (Jasmin Tabatabai) und Ulrike Meinhof (Sandra Hüller) in einer Berliner Wohnung aufeinander treffen. Ein Trick ermöglicht die Zusammenkunft der Powerfrauen, die zu verschiedenen Zeiten leben bzw. lebten. Bei diesem Treffen wird getanzt, geraucht, gelacht. Und viel über die Rolle der Frau in der Gesellschaft diskutiert. Was sie zurückwirft, was sie in ihrem Dasein vorwärts bringt. Euphorisch wird ein Manifest getippt. Ein sinnlich anregendes Spiel. Dabei scheint es, dass nichts dieses Polit-Trio stoppen könnte. Bis Helene den Vorschlag macht, Susan und Ulrike sollten ihre Identitäten tauschen. Susan könnte in Hamburg oder Berlin leben, Ulrike in New York. »Das geht nicht« ist beider Antwort. Harsch erinnert Susan Helene an die Existenz ihres Sohnes, Ulrike an die ihrer Tochter. Mitten in ihrem Diskurs über alleinerziehende Mütter und die Rollenaufteilung zwischen Mann und Frau lösen sich die Hedonistinnen der Moderne schließlich in Luft auf. Und lassen eine ernüchterte Helene zurück.
Recht unvermittelt bricht in dem 10-Minüter die Diskussion über alleinerziehende, intellektuelle Mütter ins Geschehen ein; aber sie reibt sich nicht minder an der Wirklichkeit auf. Frauen, Kinder und Beruf – ein Dilemma, für das es trotz Feminismus und gender studies keine Lösung zu geben scheint. Zumindest bietet Nicolette Krebitz in Die Unvollendete keine an. Und der Titel suggeriert, dass es auch in Zukunft keine geben wird. Zweifel schleichen sich da ein. Was wäre, wenn sich die drei Protagonisten tatsächlich begegnet wären? Hätten sie die Rollenverteilung zwischen Mann und Frau so traditionell diskutiert? Wären sie tatsächlich ohne ein politisches Konzept für Frauen, und somit auch für alleinerziehende Mütter, auseinander gegangen? Wenn ja, wozu dann dieser Hokuspokus? Man tappt im Dunkeln.
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In Schieflage würgt ein Junge seine Mutter während der Autofahrt. Von hinten. Klar, es ist ein Spiel. Aber gleich mit der ersten Szene sehen wir eine überforderte Mutter. Der Verkehr geht nur schleppend vorwärts, die Kinder auf der Rückbank nörgeln gewaltig. Regisseurin Sylke Enders geht ihre Story frontal an. Spielfilmartig, fernsehtauglich. In verschiedenen Milieus zeigt sie, wie zwei alleinerziehende Mütter mit ihren Kindern zurecht kommen. Eine
Mutter ist Journalistin (mit Haus und einem Garten), die andere wohnhaft in einer Plattenbausiedlung. Mehr erfahren wir über sie nicht. Dazwischen steht ein Sozialarbeiter, der eine Suppenküche für hungernde Kinder betreibt. Zu besseren Zeiten hatte er studiert; vielleicht sogar Geisteswissenschaft.
Die Mütter strampeln sich ab, wollen zur Gesellschaft dazugehören. Während eine ein Pony für die Geburtsparty ihrer Tochter organisiert, schafft die andere vieles nicht mehr
aus eigener Kraft. Das Essen muss ihr Sohn aus der Suppenküche besorgen. Egal welche Strategie die Mütter fahren, die Kinder entziehen sich ihnen. Weil die Zeit fehlt? Oder der Vater? Das lässt sich nur vermuten. Trotz der klischeehaften Darstellung legt die Regisseurin den Finger in die Wunde. In der Absicht, eindringlich aufzuzeigen, dass die Löcher im sozialen System größer werden und die Leidtragenden in erster Linie Kinder sind. Dann endet der Film auch schon.
Eigentlich könnte man auch Isabelle Stever Dokumentation Eine demokratische Gesprächsrunde zu festgelegten Zeiten in diese Reihe mitaufnehmen. Vorausgesetzt eines der Kinder aus der Schulklasse im multikulturellen Münchner Stadtviertel Hasenbergl würde von der Mutter allein aufgezogen. Auszuschließen ist das keineswegs. In ruhigen Bildern verfolgt Stever, wie eine Lehrerin einen Kinderrat mit Schreiber, Moderator und Gesprächsteilnehmern einberuft, um das Problem »Marco will nicht mehr Volleyball spielen« friedlich zu lösen. Ein engagierter Versuch (und ein ebenso engagierter Film), um die auseinanderklaffende Nahtstelle zwischen Familie und Gesellschaft zu kitten. Da kann die Erzieherin auch schon mal zu einer pädagogisch nicht 100% korrekten Methode greifen.
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Alles in allem: Es bleibt erstaunlich, wie schwer in den unterschiedlichen Kurzfilmen das Gewicht des Alltags auf den Schultern der Mütter (und ihren Kindern) lastet, und die Gesellschaft dabei auseinander zu driften droht. Ja, »die sozialen Lagen machen weiter«, tagtäglich, und das lässt in Deutschland 09 aufhorchen. Auch wenn diese Beiträge, die subjektive Sichtweisen auf das eigene Land sind, nicht immer mit hoher Filmkunst einher gehen.