Deutschland 2019 · 79 min. · FSK: ab 6 Regie: Carlos Andrés Morelli Drehbuch: Carlos Andrés Morelli Kamera: Friede Clausz Darsteller: Mark Waschke, Anne Ratte-Polle, Finnlay Jan Berger, Kasimir Brause, Anna Brüggemann u.a. |
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Das »innere Kind« in Sicherheit bringen | ||
(Foto: W-film / Friede Clausz) |
»Vanja lief mit Achilles im Schlepptau mit Volldampf durch den Flur und in ein Zimmer, das vermutlich das Schlafzimmer war und aus dem unmittelbar darauf ihre exaltierte Stimme ertönte. Der Gedanke, wieder hineinzugehen und mich an den Küchentisch zu setzen, sagte mir nicht sonderlich zu, so dass ich die Tür zum Badezimmer öffnete, sie hinter mir abschloss und einige Minuten reglos stehen blieb. Abschließend wusch ich mir das Gesicht mit kaltem Wasser, trocknete es sorgfältig mit einem weißen Frotteehandtuch ab, begegnete im Spiegel meinem sehr finsteren Gesicht, das in einer solchen Frustration erstarrt war, dass ich fast erschrak, als ich es sah.« – Karl Ove Knausgård, Lieben
Kindergeburtstage sind der vielleicht größte Horror, den Eltern mit Kleinkindern durchleben können. Um eine Ahnung von diesem mal subtilen und dann wieder völlig offensiven Grauen zu erhalten, lohnen sich nicht nur die 45 Seiten über einen Kindergeburtstag in Karl Ove Knausgårds »Lieben« (aus seinem Romanzyklus »Min Kamp«), sondern seit diesem Donnerstag auch Carlos A. Morellis so überraschend wie subtile filmische Umsetzung des Kindergeburtstagthemas. Denn dem in Uruguay geborenen Morelli, der 2017 mit seinem Langspielfilmdebüt MI MUNDIAL den zweitgrößten nationalen Box-Office-Erfolg in der Kinogeschichte Uruguays erzielte, gelingt in Der Geburtstag ein kleines Kunststück. Nicht nur erzählt er souverän und gnadenlos von dem getrennten Paar Matthias (Mark Waschke) und Anna (Anne Ratte-Poll), die trotz gegenseitiger, immer wieder enttäuschter Erwartungshaltungen versuchen, ihrem siebenjährigen Sohn Lukas (Kasimir Brause) einen der üblichen, alle Parteien überfordernden Kindergeburtstag auszurichten, sondern er verwebt sein klassisches »Beziehungsdrama« mit klassischen »Film-Noir«-Elementen.
Denn um den Kindergeburtstag und das Beziehungsdrama erzählt Morelli auch die Geschichte um ein nach dem Geburtstag nicht abgeholtes Kind, das Matthias versucht am späten Abend seinen Eltern zurückzubringen, dadurch aber einem Spießrutenlauf durch die dunklen, verwunschenen und dann auch verlassenen Orte Halles an der Saale ausgesetzt wird, ein Spießrutenlauf, der ein wenig an Martin Scorseses fast vergessene Komödie After Hours erinnert, in der ein Programmierer nach seiner Arbeitszeit aus den Fugen seines normalen Lebens geworfen wird.
Aus den Fugen wird auch Matthias geworfen. Nicht nur durch ein Halle, das Morellis in Halle geborener Kameramann Friede Clausz in fantastischen Schwarz-Weiß-Bildern in einen faszinierenden »Un-Ort« transformiert und wie schon in Nicolette Krebitz' Wild (2016) oder in Norbert Lechners Ente gut! Mädchen allein zu Haus einmal mehr deutlich wird, wie großartig Halle als Drehort funktionieren kann. Sondern auch durch die verzweifelte Suche von Matthias und seine düsteren Begegnungen, Gespräche und fatalen Fehler im nächtlichen Halle, die ihn schließlich zu einem neuen Menschen transformieren werden. Und zwar nicht nur zu einem, der erstmals seine Paarbeziehung versteht, sondern erstmals vielleicht auch so etwas wie väterliche Verantwortung nicht nur zu übernehmen bereit ist, sondern sie in dieser Nacht auch emotional zu spüren gelernt hat.
Damit sind die Toten dieses ungewöhnlichen Hybrids aus Beziehungsdrama und »Film Noir« also einmal nicht die Gegenüber, so wie im klassischen »Film Noir«, sondern das erfolgreich bekämpfte, alte Ich. Ein fast schon klassischer psychoanalytischer Ansatz, der aus Morellis Geburtstag damit nicht nur eine faszinierende Reise durch das alte Halle an der Saale, auf einen Kindergeburtstag und in die Trennungswehen eines Paares macht, sondern darüber hinaus zu einer faszinierenden, höchst symbolischen Reise ins Innere einer geschundenen und dann neugeborenen Seele ist, die ihr bis dahin verloren geglaubtes, »inneres Kind« endlich in Sicherheit bringt.
Ein Film über einen Kindergeburtstag und einen stümperhaften Vater auf Läuterungstour als Noir-Thriller?! Verwegen ist die Idee zu Carlos A. Morellis zweitem Langspielfilm Der Geburtstag allemal. Doch was auf den ersten Blick abwegig klingt, bringt der in Uruguay geborene Regisseur mit ausgeprägtem filmhistorischen Bewusstsein zusammen, zumindest in großen Teilen.
Inhaltlich kommt Der Geburtstag als Familiendrama daher: Lukas (Kasimir Brause) soll, allen Widerständen zum Trotz, eine tolle Feier zum siebten Geburtstag bekommen. Piñata und Torte stehen bereit, der Garten ist geschmückt, die Freunde sind eingeladen. Für die getrennt lebenden Eltern Matthias (Mark Waschke) und Anna (Anne Ratte-Polle) das perfekte Terrain, um die nicht geheilten Beziehungswunden zu diskutieren, denn: der unter Strom stehende Vater hat das gemeinsame Wochenende mit dem Sohn und den noch ausstehenden Zoobesuch abgesagt. »Jetzt hör doch mal auf mit diesem scheiß Zoo!«, meckert Matthias seinen nach einem Babyelefanten verrückten Sohn an.
Das Setting von Morellis Film ist im Hier und Jetzt verortet und scheint doch wie aus der Zeit gefallen. Auf der Tonspur drängen immer wieder Jazzklänge nach oben, während Kameramann Friede Clausz das Treiben in feinem Schwarzweiß einfängt: Die Schatten sind lang, das Licht ist diffus und der Regen, der die Party ins Haus treibt, ist, wie so vieles in diesem Film, verheißungsvoll. Er wird große Teile jener Tour de Force begleiten, auf die sich Matthias schließlich begibt. Der soll nämlich den neuen Mitschüler Julius (Finnlay Jan Berger) nach Hause fahren, dessen Mutter ihn einfach nicht von der Party abgeholt hat.
Dieser Ritt durch Halle an der Saale, das so wohl noch nie im Kino zu sehen war, ist das Herz des mit 80 Minuten Laufzeit sportlich geratenen Films. Nervöse Scheibenwischer, die vergebens gegen den Sturzregen ankämpfen, eine mysteriöse französische Doppelgängerin von Julius’ Mutter, die Matthias als »bizarre« beschimpft, hallende Schritte auf menschenleeren Straßen, auf Häuserzeilen tanzende Schatten und ein nach Krankenhaus riechendes Kinderbett: Mit seinem Hang zum Düsteren und Surrealen macht Morelli Carol Reeds Klassiker Der dritte Mann (1949) alle Ehre. Wenn sich eine Wendeltreppe durch das Bild schraubt, weckt dieser ohnehin zitierfreudige Film etwa auch Erinnerungen an Alfred Hitchcocks Vertigo (1958).
Auch wenn nicht alles gelungen ist, manche Dialoge und Schauspieler in Nebenrollen etwas stockig wirken und das Ende vielleicht eine Nummer zu glatt daherkommt: Man muss einfach seinen Hut davor ziehen, wie Morelli hier einem modernen Stoff mit cinephiler Nostalgie etwas Neues abgewinnt. Die Jagd durch Halle inklusive Begegnungen mit streunenden Katzen, schiefäugigen Obdachlosen und der Polizei ist dicht inszeniert und spannend. Und das, obwohl eigentlich die ganze Zeit klar ist, dass Matthias’ Umgang mit Julius ihm die Augen für den eigenen Sohn öffnen wird. Mark Waschke spielt den Vater auf Umwegen kongenial mit jener mürrischen, aber im Grunde genommen liebevollen Schnauze, die auch dem ein oder anderen klassischen Schnüffler eigen ist.
Mit Der Geburtstag lässt sich in der ersten Post-Shutdown-Kinophase ein bisschen Filmgeschichte atmen und vielleicht auch zu der Gewissheit kommen, dass historische Reanimationen dem jungen deutschen Kino gut stehen. Das ist schon eine witzige Verbindung: In Jan-Ole Gersters sagenhaftem Debüt Oh Boy sind es 24 Stunden im Leben eines slackenden Endzwanzigers auf der Suche nach einer Tasse Kaffee in existenzialistischem Schwarzweiß, bei Morelli ist es ein Tag im Leben eines Vaters bis zu der Erkenntnis, dass der »scheiß Zoo« mit dem Babyelefanten eben doch wichtig ist.