Deutschland/Frankreich 2024 · 221 min. · FSK: ab 12 Regie: Guillaume Cailleau, Ben Russell Drehbuch: Guillaume Cailleau, Ben Russell Kamera: Ben Russell Schnitt: Guillaume Cailleau, Ben Russell |
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Reißt die Mauern ein, die uns trennen! | ||
(Foto: © CASKFILMS · Berlinale 2024) |
Close-up auf eine riesige Wanne, in die weißes Pulver rieselt, in großen Mengen. Dazu literweise Wasser aus Eimern. Hände mantschen in der Materie, rühren kräftig herum, bis ein undefinierter Brei entsteht. Was wird hier nur zusammengemischt? Gips, um Wände zu verputzen? Sind wir auf einer Baustelle? Nach Minuten beginnt der Brei seine Identität zu zeigen, Fäden ziehen sich durch die Masse, Kleber entsteht. Hier wird in großer Dimension Brotteig mit bloßen Händen angerührt. Ein erstaunlich kompakter Klumpen kündigt an: Der Teig ist fertig. Und mit ihm die filmische Einstellung. Das nächste Tableau beginnt.
Wieder eng geframet, wieder monothematisch, wieder fragmentarisch, ohne Anfang, höchstens noch mit einem Abschluss, reiht sich Tableau an Tableau. Minutenlanger Blick auf einen rätselhaften Aussichtsturm mit Windrädchen: Direct Action beginnt wie eine Rede, von der man erst einmal nur wenig versteht. Weil einem der Kontext fehlt. Umso begieriger saugt man das grobe Filmkorn der auf Super-16 gefilmten Bilder in sich auf, während man sich in den fixen Einstellungen umsieht, als hätte man einen unbekannten Raum betreten. Ein bisschen ist das wie bei den Landschaftsfilmen von James Benning: Ten Skies, 13 Lakes … – nur sind hier bald die Gesten der Menschen zu sehen. Mit Hammer und Amboss wird Eisen geschmiedet. Auch das 16mm-Material ist ein von Hand hervorgebrachtes Objekt der analogen Welt, ein Resultat von Belichtungs- und Entwicklungsprozessen: Der Film entspricht der gezeigten Welt.
Die beiden Regisseure des Films, Guillaume Cailleau und Ben Russell, haben für Direct Action nicht zum ersten Mal zusammengearbeitet. 2012 entstand der gemeinsame Kurzfilm Austerity Measures, in den sie dem Widerstand in Athen gegen die Austeritätspolitik der EU nachspürten. Mittlerweile lebt der Amerikaner Russell in Marseille, Cailleau in Berlin. Mit Direct Action haben sie einen außergewöhnlichen Film über den politischen Widerstand gemacht, der jetzt als Bester Film der »Encounters«-Sektion der Berlinale ausgezeichnet wurde.
Wie in einer Spiralbewegung von den handwerklichen Grundtätigkeiten wie dem Teiganrühren und Eisenschmieden führen die Filmemacher Einstellung für Einstellung in eine große kollektive Gemeinschaft – gezeigt wird ein Kindergeburtstag im Kita-Format, manuelle Crêpes-Herstellung im Akkord. So nähert sich Direct Action seinem titelgebenden Kern: Dem politischen Widerstand gegen die ökonomische und politische Macht, in der Unmittelbarkeit des Protests.
Die »direkte Aktion«: Der Hambacher Forst als Symbol für den Widerstand der Anti-Kohlekraft-Bewegung wäre dafür ein Beispiel aus Deutschland. Langlebiger, intensiver und auch ikonischer ist die von Cailleau und Russell portraitierte ZAD (»zone à défendre«) von Notre-Dame-des-Landes, rund 25 Kilometer nordwestlich von Nantes. Sie ist eine der berühmtesten existierenden autonomen Zonen Westeuropas, geprägt vom zivilen Widerstand gegen den kommerziellen Ausverkauf der Lebensgrundlage. Ein Flughafenprojekt wurde in der Vergangenheit bereits verhindert, im Film geht es gegen das »Méga Bassin«, einem Reservoir, das Grundwasser für Mais-Monokulturen sammeln soll – und den örtlichen Bauern buchstäblich das Wasser abgräbt.
Darum wird es aber erst nach der »Intermission« gehen. In ihrem dreieinhalbstündigen Film haben die Filmemacher fest eine Pause installiert – wiederum als gefilmtes Tableau. Wer den Saal nicht verlässt, kann fünf Minuten lang auf einen überwucherten Weg mit verrostetem landwirtschaftlichem Gerät im Dauerregen blicken. Danach geht es dann zur Sache, zunächst bei einem Punk-Konzert, die Tonalität des Films wird rauh und zornig. Nicht aber die Ästhetik: die fixe, minutenlange Einstellung auf die Tanzenden evoziert auch Ben Russells Kurzfilmserie Trypps (2005-2010), wo er (u.a.) die Extase tanzender Jugendlicher zeigte.
Selbst wenn die zweite Filmhälfte auch unmittelbare politische Bilder hervorbringt: Direct Action unterminiert und konterkariert fortwährend das, was der Titel verspricht. Der Film ist nicht direkt, sondern subtil. Er entfaltet behutsam, sanft und allmählich, dabei bruchstückhaft und ohne es beim Namen zu nennen, sein Thema. Die »direkte Aktion«, das sind für Cailleau und Russell die Vielzahl von Gesten der Kollektivität, die erst die Voraussetzung für den gemeinsamen politischen Widerstand bilden.
Wie etwa die Durchquerung eines Grabens am Rande einer Demonstration gegen das »Méga Bassin«. Im Bildvordergrund die zahlreichen Demonstranten, die auf die andere Seite des Feldes müssen, Hände strecken sich ihnen entgegen, um sie aus der Tiefe des steilen Grabens hochzuziehen, eine und einer nach dem anderen, Menschen, Graben, Hände, Hochziehen, so geht das minutenlang. Dies sind die eigentlichen Gesten des Widerstands, die Gemeinschaft im Handeln.
Einstellung für Einstellung, es sind insgesamt »41 shots«, muss man in diesem Film ohne erklärende Worte selbst die Bilder erkunden und sie nach ihren Bedeutungszusammenhängen befragen. Auch wenn immer wieder Transparente mit politischen Claims im Bild zu sehen sind: Um eine vordergründige politische Aussage geht es Cailleau und Russell nicht. Die Politik von Direct Action teilt sich statt dessen in den Bildern, im Framing, in den gefundenen Sujets, im Rhythmus der wenigen Schnitte und in der Langsamkeit der Echtzeit-Einstellungen mit. Die Zuschauer müssen zur Ruhe kommen, wollen sie die Bilder rezipieren, müssen die Erwartung an »Action« ablegen. Die titelgebende »Direct Action« meint – bei aller absichtsvollen Erwartungsenttäuschung – auch die Filmaufführung an sich: als Intervention in einen auf Kommerz und Konsumierbarkeit angelegten Kinomarkt.
Godard hat es mal die Quintessenz des politischen Filmemachens genannt: Keine politischen Filme, sondern Filme politisch machen. Cailleau und Russell verweigern so auch die oberflächliche, allzu offensichtlich politische Vereinnahmung. Und negieren durch die Fragmente die Illustration. Die gezeigten Szenen weisen immer über sich selbst hinaus, auf das große Ganze, das sich erst im Zwischenraum der Bilder ergibt. In der Montage findet Direct Action so zu einer denkenden, dabei überaus sinnlichen und eindrücklichen politischen Form.