Deutschland/F 2013 · 230 min. · FSK: ab 6 Regie: Edgar Reitz Drehbuch: Edgar Reitz, Gert Heidenreich Kamera: Gernot Roll Darsteller: Jan Dieter Schneider, Antonia Bill, Maximilian Scheidt, Marita Breuer, Rüdiger Kriese u.a. |
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Im Wilden Zentrum |
»Den 20. ging Lenz durch›s Gebirg. Die Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, die Täler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen. Es war naßkalt, das Wasser rieselte die Felsen hinunter und sprang über den Weg. Die Äste der Tannen hingen schwer herab in die feuchte Luft. Am Himmel zogen graue Wolken, aber alles so dicht, und dann dampfte der Nebel herauf und strich schwer und feucht durch das Gesträuch, so träg, so plump. Er ging gleichgültig weiter, es lag ihm nicht‹s am Weg, bald auf- bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehn konnte. Anfangs drängte es ihm in der Brust, wenn das Gestein so wegsprang, der graue Wald sich unter ihm schüttelte, und der Nebel die Formen bald verschlang, bald die gewaltigen Glieder halb enthüllte; es drängte in ihm, er suchte nach etwas, wie nach verlornen Träumen, aber er fand nichts. Es war ihm alles so klein, so nahe, so naß, er hätte die Erde hinter den Ofen setzen mögen, er begriff nicht, daß er so viel Zeit brauchte, um einen Abhang hinunter zu klimmen, einen fernen Punkt zu erreichen; er meinte, er müsse alles mit ein Paar Schritten ausmessen können«.
(Georg Büchner, »Lenz«, 1839)
Das passiert selten – ein Film, nachdem man gar nicht so recht weiß, wo man anfangen soll zu erzählen, ein Film, der den Betrachter aus den Angeln reißt. Ein Film, dessen kristallklare Bilder bis in nächtliche Träume verfolgen, wohl auch, weil sein historisches Licht dem von Stanley Kubricks Barry Lyndon in nichts nachsteht, dessen historische Akribie ebenfalls an Kubrick erinnert. Ein Film, der berührt, obwohl er fast semidokumentarisch mehr als 150 Jahre alte Geschichte erzählt, dabei aber dennoch so nah am gegenwärtigen Zeitgeschehen ist, dass einem Angst und Bange wird und der dann auch als filmisches Konzept, nun ja, fast überaktuell ist. Wie also anfangen? Etwa so wie Edgar Reitz selber, der mit Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht ebenfalls am Anfang beginnt, nachdem das Ende schon längst erzählt ist? Denn wir erinnern uns: Heimat ist seit 1984 Jahre Edgar Reiz' Opus-magnum-Projekt, das auf fiktiver Ebene die große deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts mit Hilfe der Geschichte des kleinen Dorfes Schabbach im Hunsrück erzählt. Dabei ist Reitz durch ähnliche finanzielle Niederungen gegangen, aber auch in ähnliche künstlerische, mit Preisen und Kritikerlob erfüllte Höhen katapultiert worden, wie Barbara und Winfried Junge mit ihrem dokumentarischen Äquivalent Die Kinder von Golzow. Wie die Junges hat auch Reitz durchgehalten und sich vor 10 Jahren mit Heimat 3 – Chronik einer Zeitenwende bis in die jüngste Vergangenheit gefilmt.
Dass Reitz damit nicht nur den in diesen Monaten vielbeschworenen innovativen Boom um den langen erzählerischen Atem amerikanischer Fernsehserien von den Sopranos bis Breaking Bad vorweggenommen hat, ist nicht mehr wert als ein nachdenklicher Hinweis über die nur allzu bekannte kapitalistische Methode, Altes neu zu verpacken, um es noch gewinnbringender zu verkaufen. Etwas überraschender ist es dann schon eher, dass ausgerechnet Reitz, der sich wiederholt negativ über die gegenwärtige Film- und Fernsehkultur geäußert hat, sich für seine neue, andere Heimat, der im gegenwärtigen Filmgeschäft so beliebten Form der »Prequel« bedient. Er umgeht dabei allerdings geschickt die Gefahren allzu gegenwartsnaher Zeitschleifen, wie sie etwa in Star Wars und Star Trek und ihren ungeahnten Tiefen der Banalität bedient worden sind.
Statt also mit den Vorwirren zum 1. Weltkrieg einzusetzen – und damit direkten narrativen Anschluss an den ersten Teil der Heimattrilogie zu setzen – haben sich Reitz und sein Mitautor Gert Heidenreich für die nicht weniger verworrenen Vormärz-Jahre der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entschieden. Doch Reitz und Heidenreich bleiben in Schabbach und sie bleiben im Kern ihrer Erzählung auch bei der »Trilogie-Familie« Simon, deren einziges Bindeglied zur Ersten Heimat vor allem schauspielerischer Art ist. Die »Mutter« Margarethe, von einer großartigen Marita Breuer verkörpert, ist auch im ersten Heimat-Film die »Mutter« der Familie Simon. Doch die Verhältnisse der Familie in Vormärz-Zeiten erinnern weniger an gemeinhin angelesene und erinnerte Geschichte als an das, was man heutzutage aus Regionen in Zentralasiens, Südamerika und Afrika kennt. Ein despotisches Staatenwesen verhindert breiten Teilen der Bevölkerung die Teilnahme an erfolgreichen, gewinnbringenden wirtschaftlichen Prozessen. Die Armut ist groß, die Sehnsucht nach Veränderung ebenfalls, so dass es zu einer bis in die jüngste Gegenwart bekannten Dynamik kommt – die Leute wollen weg, Deutschland wird Auswanderungsland, Brasilien ist das Land der Träume. Auch Schabbach ist davon betroffen.
Wie bislang in der gesamten Heimat-Trilogie gelingt Reitz auch in Die andere Heimat eindrücklich, große Weltgeschichte fassbar und fühlbar zu machen, indem er sich den Lebenslinien der kleinen Leute zuwendet. Der fast kristalline Schwarzweißfilm in Cinemascope, dem sich Reitz und sein Kameramann Gernot Roll für ihre Darstellung bedienen, ist auch diesmal mit impressionistischen Farbmomenten versehen und deutet damit auch an, dass Geschichte durch unsere mediale Fotosozialisation zwar in unseren Köpfen monochrom ist, aber im Grunde natürlich voller Farben war, Geschichte somit nicht nur farblich neu geschrieben, sondern grundsätzlich immer auch konstruiert ist.
Aber das ist schnell vergessen. Denn die Lebenslinien, die Reitz in den schwierigen historischen Rahmen bettet [1], sind derartig zärtlich, spannend und immer wieder auch überraschend erzählt – kurzum: »wirklich« – dass es fast weh tut, dass der Film nach vier Stunden bereits vorbei ist und damit zu einem der kürzesten des Heimat-Opus' wird. Reitz ist dabei nicht nur die fast schon ethnografisch-historische, luzide Akribie hoch anzurechnen: von der authentischen, ärmlich-funktionalen Kleidung bis zum strohhüttenartigen armseligen Inneren der Häuser, den kargen nächtlichen Lichtverhältnissen bis zu den frugalen Mahlzeiten. Reitz gelingt es darüber hinaus, dieses museale Setting mit »wirklichem« Leben zu füllen: einer facettenreichen Eltern-und-Söhne-Geschichte, einer mit religiösen Konflikten untermalten Vater-Tochter-Beziehung, einer Dreiecks-Liebesgeschichte, die auch deshalb überzeugt, weil sie nicht den Fehler begeht die Moral von damals mit der Moral von heute zu infiltrieren. Und nicht zuletzt mit der Geschichte des eigentlichen Helden des Films, Jakob Simon, die als Bindeglied und Kern alle anderen Geschichten durchzieht und eine unbändige Sehnsucht verkörpert, die sowohl scheitert als auch gewinnt, auf jeden Fall besser dasteht als jene Sehnsucht von Lenz in Büchners Vormärz-Erzählung. Eine Sehnsucht, die die andere Heimat nicht nur zu einer notwendigen Prequel für Reitz eigenes Werk werden lässt, sondern auch eine für ein ganzes Filmgenre – die bislang fast unerschlossene Geschichte der Siedler des Wilden Westens, denen bis auf wenige Ausnahmen fast stets nur die leidige Rolle verängstigter, naiver Statisten zufiel.
Noch Wochen nach dem Film verfolgen, nein: begleiten einen die Bilder dieses großartigen Films. Bilder von wildem Aufbegehren, vorsichtiger, spontaner Politisierung, idyllischen Weinernten, bitterem Alltag und zarter Alltagspoesie, irrsten Hoffnungen und einem glücklichmachenden Verstehen für das, was Geschichte und Zukunft sind, was Deutschland war und was Deutschland ist und irgendwann wieder sein wird. Bilder einer faszinierenden Verzahnung von Vergangenheit und Gegenwart. In einem historischen Augenaufschlag wird Brasilien zu Lampedusa, wird Deutschland zu Eritrea und Vergangenheit zu nicht mehr und nicht weniger als einer immer wiederkehrenden Gegenwart.
[1] Aus dem sich Deutschland durch eine mühsam erzwungene Industrialisierung und damit Partizipierung weiter Bevölkerungsschichten wenig später gerade noch so retten kann und die »Grenzen zur Armut« in den Osten verschiebt. Die eigenartigen Wege dieser Entwicklung für Europa lassen sich sehr präzise im zehnten Kapitel von Daron Acemoglus und James A. Robinsons »Why Nations Fail – The Origins of Power, Prosperitiy, and Poverty« nachlesen.
Immer wieder rollen sie in der Ferne, die Trecks der Auswanderer, über den Hügel oder durchs Tal. Ein schier endloser Zug. Die Wagen sind vollbepackt. Sie rollen aus dem Hunsrück an die Mosel und an den Rhein, dort schiffen sich ihre Besitzer ein in Richtung Nordsee und dann weiter nach Nord- oder Südamerika, das Land ihrer Sehnsucht. Dort wollen sie eine neue Heimat finden, denn in der alten ist keine Hoffnung mehr. »Chronik einer Sehnsucht« hat Edgar Reitz im Untertitel seinen neuen Film betitelt, ein ganz eigenständiges Werk und zugleich je nach Zählweise der vierte oder fünfte Teil seines »Heimat«-Epos. Und tatsächlich geht es hier, wie immer bei Reitz um Sehnsucht, und das, was ihr entgegensteht, das Wechselspiel aus Praxis und Theorie, um Romantik und die Illusionen, die mir ihr einhergehen.
Wieder wendet sich Reitz dem Dorf Schabbach in den Wäldern des Hunsrück zu, und mischt, indem er vom Leben dieses Dorfes und seiner Bewohner erzählt, Reales und Fiktion zu einem unverwechselbaren Ganzen. Doch nachdem er in den bisherigen Folgen das Wechselverhältnis zwischen Alltagshistorie und großer Weltgeschichte im 20.Jahrhundert erzählte und dabei bis in unsere Gegenwart nach der Jahrtausendwende vorgedrungen war, springt Reitz nun weit zurück ins 19. Jahrhundert, in die Zeit des »Vormärz« zwischen 1840 und 1847.
Im Zentrum steht ein Brüderpaar, Jakob (Jan Dieter Schneider) und Gustav Simon (Maximilian Scheidt), womöglich Vorfahren der anderen Simons, denen wir in »Heimat« begegnet sind. Ihr Leben als Söhne des Dorfschmieds ist hart, die Bauern hungern, von Missernten, Seuchen, hoher Kindersterblichkeit heimgesucht werden, während die Feudalherren versuchen, die in den Revolutionen erkämpften Rechte der Bürger wieder zurückzuschrauben. Viele wanderten aus. Dieses Historische der Anfänge unserer Globalisierung ist in jedem Fall gut recherchiert – und zugleich unerwartet. Wer weiß schon noch, dass viele Deutsche damals Migranten waren?
Der jüngere Sohn, Jakob träumt vom Auswandern nach Amerika. Aber er ist ein Träumer, kein Macher. Das ist sein Bruder Gustav, und darum wird er es sein, der auswandert, während Jakob das Land der Phantasie genügt. So zeigt Reitz, wie sich Idee und Handwerk, Traum und Realismus auseinander bewegen: Die Tragik der Ausdifferenzierung, die Reitz sehr wohl auch überindividuell, prinzipiell und symbolisch meint.
Über diese Jakob-Figur hat Andreas Kilb in der FAZ einige wunderbare Zeilen geschrieben:
»Und doch ist Jakob Simon ein ganz besonderer Filmheld, vielleicht der faszinierendste im Kosmos des Edgar Reitz. Wenn man seine Stimme hört, die aus dem Tagebuch vorliest, und dann den Alltag um ihn herum betrachtet, bekommt man eine Ahnung davon, was es bedeutete, im neunzehnten Jahrhundert jung zu sein – in einer Zeit, die schon Dampfmaschinen baute, aber noch an den Teufel glaubte.
Einer Epoche ungeheurer Hoffnungen, in der Kinder noch an Diphtherie starben, Kartoffeln von Hand ausgegraben, die Ähren mit der Sichel geschnitten wurden. Die Kamera Gernot Rolls stellt diese Gegensätze nicht aufdringlich aus, sondern lässt sie beiläufig mitschwingen. Einmal hat Jakobs Mutter, die, wie schon die Mutter des Helden in Heimat, von der wunderbaren Marita Breuer
gespielt wird, auf dem Feld vor dem Dorf einen Erstickungsanfall, und als sie wieder zu sich kommt, sagt sie, sie habe all die Kinderchen gesehen, die der Herrgott ihr genommen habe. Sechs Geschwister waren es, und sie erinnert sich an jedes einzelne genau.«
Im Zentrum stehen nämlich auch die »kleinen Leute« als solche, die Unterschicht, die – Binsenweisheit, die gleichzutrifft – von der Geschichtsschreibung oft ignoriert worden ist. So wie man Reitz' »Heimat«-Projekt oft – zu recht oder unrecht sei hier einmal dahingestellt – nachgesagt hat, ihm gehe es darum, die Heimat zu rehabilitieren, so sehr geht es ihm wohl auch um Aufwertung dieser kleinen Leute. Ihrer Alltagserfahrung: »Wenn wir das Leben der Armen und Underdogs erzählen wollen, finden wir nichts – denn sie haben nichts hinterlassen und meist war es ja so, dass sie bereits in der nächsten Generation ihre Häuser abgerissen haben und ihre Gebrauchsgegenstände erneuert. Es ist ja klar: Wenn man arm ist hat nichts zu vererben, auch an seine eigene Zukunft nicht. Und dieser Verlust aller Dinge, die wir in die Hand nehmen ist ein großes Thema für mich geworden.«
In nur zwei Jahren wanderte fast eine Million Deutsche aus. In Südwestdeutschland entleerten sich ganze Ortschaften. Denn in den von Napoleon eroberten Gebieten wurde die Leibeigenschaft abgeschafft. Nach dem Sieg der Gegenrevolution 1815 verarmten viele dieser neuen Kleinbauern, die mit der Freiheit, die sie unvorbereitet ereilte, nicht zurechtkamen. Gerade die jüngeren Geschwister, denen man nichts vererben konnte, litten Not.
Warum wanderten diese Leute plötzlich in Scharen aus? Reitz hat dafür eine eigenartige, unerwartete, aber spontan überzeugende Erklärung: Weil sie lesen konnten! 1815 führte der preußische Staat als Teil der großen Reformen die Schulpflicht ein, und sobald eine erste Generation alphabetisiert war, bildeten sich bald gerade auf dem Land allerorten Lesekreise. Und was lasen die Leute? Bücher über ferne Länder, Abenteuer- und Reiseliteratur. Die Medien lösten ein Fernweh aus
– wie man heute im Fernsehen oder Internet erfährt, wie gut es den Europäern geht, das weckt ihre Sehnsucht. Die Leute wanderten nicht wegen der Armut aus, sondern wegen ihrer Lektüre.
Die große Pauperisierungswelle und reaktionären Regierungen kam einfach hinzu. Viele gingen damals nach Brasilien, denn der dortige Kaiser schickte Werbeagenten durch Europa, die Bauern und Handwerker von den Vorteilen des Landes überzeugen sollten.
So vergehen wie im Flug vier Filmstunden mit einer dicht gestrickten, breit ausgreifenden, ebenso leidenschaftlichen wie unsentimentalen Beschreibung eines Dorflebens vor 170 Jahren. Edgar Reitz hat eine einmalige Art, Geschichten als epische Chronik zu erzählen, voller Ruhe und Schönheit. Woraus besteht diese einmalige Methode von Edgar Reitz, die seinen Filmen einen so einmaligen, auch eigenartigen Klang gibt? Wie im italienischen Neorealismus eines Roberto Rossellini werden auch bei Reitz manche Figuren von Laien gespielt, und immer haben alle eine überaus präzise soziale Position. Das Geschehen zwischen Einzelnem und der Gruppe – die manchmal wie ein Chor wirkt – ist immer eng verbunden, sodass man einem sozialen Körper zuguckt, einer Einheit. Beziehungen werden visuell hergestellt, über Blicke und Kamerabewegungen. Und wieder hat der Regisseur hier in Jakob ein Alter Ego – mit ihm begibt er sich auf Augenhöhe mit seinen Protagonisten. Wieder ist alles Schwarzweiß und zwischendurch gibt es ein wenig Farbe an sehr markanten Stellen. Gernot Rolls Bilder erinnern oft an niederländische Malerei – sie sollen das allerdings auch. Ein ganz eigenes Kapitel wäre einmal, die Beziehung von Reitz zur Malerei zu betrachten, besonders zu einem Maler wie Cezanne.
Die Grundhaltung ist wie immer die eines Chronisten. Reitz erzählt mit »und dann, und dann«, nicht mit straffem dramatischem Bogen. Die andere Heimat ist gelegentlich stilisiert, dabei anti-sentimental, kühl, und trotzdem voller Sehnsucht, Romantik. Das Symbolische und das Historische stehen hier gleichberechtigt nebeneinander. Man denkt bei diesem hervorragenden Film zwar nie und nimmer an John Ford, aber dafür natürlich auch ein paarmal an Bertoluccis 1900, das ähnlich »große« und »kleine« Geschichte mischte.
Die Tragik dieser Familiengeschichte wird durch Komik und heitere Gelassenheit abgefangen. Reitz spezielle Poesie liegt in den Bildern genauso, wie in schönen, stilisierten Sätzen: »Es ist der Menschen Natur, Ernst zu machen.« Und: »Freiheit ist nicht das Gegenteil von Gefangenschaft. Sondern etwas in uns.«
In Schabbach glauben nicht wenige Zuschauer so etwas wie eine Wahlheimat gefunden zu haben; ein Land, in dem der hässliche Kapitalismus noch nichts zerstört hat, wo das besteht, was aus ihrer Sicht zum Wertvollsten gehört: Fruchtbare Erde, Autarkie, Erzählgemeinschaft, bukolische Tauschverhältnisse, Sprache, eine Welt ohne Coca Cola und McDonalds – vorkapitalistische Wunschfantasien zwischen Boheme und Ackererde. Reitz kann man das nicht vorwerfen, aber er bedient all diese Affekte zumindest mit, distanziert sich nicht vor ihnen, schützt seinen Film nicht davor.
Geht es ihm denn nun darum, die Heimat zu rehabilitieren? Gewiß doch. Aber die Frage musste eher lauten: Welche Heimat? Um Aufwertung geht es nicht. Aber in Interviews formuliert Reitz Sätze, die kulturpessimistischer klingen, als er es meint: »Auf jeden Fall habe ich das Gefühl, dass die nächste Generation eigentlich nur Müll findet von uns. Kaum etwas können wir unseren Kindern vererben – kein iPhone, keinen Computer – nichts von den heißbegehrten Gegenständen unserer Zeit. Und doch sagen wir, es sei unsere Freiheit, alles dieses zu besitzen.«
Trotzdem hat Reitz das Sujet »Heimat«, den Begriff wie die ihn umgebenden Mythen von dem Ballast befreit, der ihn umgab. Seine »Heimat« ist keine Idylle. Kein Blut-und-Boden-Paradies, keine Folklore.
Viele Motive in dem neuen Film werden Reitz-Liebhaber wiedererkennen: Die Suche nach dem Absoluten, bei gleichzeitiger Versenkung in die Details des Alltags. Die Lust an der Überhöhung, die Lust an einer Ordnung. Das Schwärmerische, die Grenze zum Kitsch, die Reitz wohl bewusst in Kauf nimmt, um die Sehnsucht im Kern zu treffen. Vielleicht ist Sehnsucht prinzipiell naiv. Vielleicht ist Naivität also berechtigt? Diese Fragen werden nicht direkt gestellt, aber umkreist.
Es gibt nervtötende altkluge Moralismen in diesem Film, wie: »Pass gut auf, was du träumst. Träume haben ihre Zeit und gehen in Erfüllung.« Es gibt wunderbar poetische Formulierungen: »die Heimat die treulose, die nichts als Knechtschaft für ihre Kinder bereit hielt.« Und es gibt schöne Bosheiten, wie dieses Lied, das womöglich erfunden ist, jedenfalls nicht in alten Quellern zu entdecken: »Über die Berge kommt die Republik/ und das ganze Räuberpack/ kriegt die rechnung präsentiert/ und muss dafür bluten.«
Warum hat seinerzeit Die Dritte Heimat nicht wirklich funktioniert? Vielleicht, weil wir die Welt selber kennen, um die es da geht. Weil wir uns nie ganz in ihr verlieren können, nichts in ihr entdecken können, weil wir es besser wissen. Die Frage, die sich da nun stellt, ist eine doppelte: Wie wenn sein Bild der Vergangenheit genauso historisch schief wäre, wie das der Gegenwart? Und: Wäre dies schlimm?
Es gibt ein Gegenmodell zur Heimat in »Heimat«. Das ist die Technik. In diesem Fall beispielhaft an der Geschichte der Dampfmaschine des Schmiedes erzählt. An ihr wird die ganze Zeit gebaut. Einmal fliegt sie fast in die Luft. Bis Jakob dann vom Prinzip des Fliehkraftreglers erfährt und so einen einbaut – ihr Prinzip wird so beschrieben, »dass die Maschine auf sich aufpasst.« Auch die Arbeitsteilung kehrt ein: »Ihr baut und ich sage Euch ob das richtig ist.«
Der Zufall ist ein wichtiger Hauptdarsteller in »Heimat«. Schon in früheren Teilen rückte der Regisseur die Zufälligkeit im Leben, besonders in Liebesdingen ins Zentrum,. Wer zusammenfindet und glücklich zusammenlebt, ist nicht immer der der zusammengehört, oder gar »füreinander bestimmt« war.
Ein anderer Hauptdarsteller ist die Neugier der Menschen. Die Weltentdeckung, der Aufbruch, der es schon bei den »Argonauten«, einem seiner ersten Filme im Zentrum stand. Das
Begehren danach, eine andere Wahrheit zu suchen. Die Wissenschaft und hochfliegenden Träume werden in Schabbach immer konterkariert durch die Bodenständigkeit und enge, auch durch den ernst des Handelns. Richtig verspielt wirken die Figuren in dieser ausgezeichneten, schönen und sehr besonderen Film-Chronik selten.
Noch einmal Andreas Kilb, dessen Fazit nichts hinzuzufügen ist:
»Nach Heimat 3, der Geschichte der neunziger Jahre in Schabbach, schien es, als könnte nichts mehr den Glanz der ersten Heimat zurückbringen, ihre Schlichtheit, ihre Tiefe, ihre visuelle Kraft. Mit der Anderen Heimat hat Reitz das alles wiedergefunden. Und er hat dafür weder elf noch fünfundzwanzig Stunden gebraucht. In einer Zeit, in der alle vom Siegeszug der Fernsehserie reden, hat Edgar Reitz einen epischen Kinofilm gedreht, den schönsten, den es seit langem aus Deutschland gab.«