Dogville

DK/S/F/NL/D/I 2003 · 178 min. · FSK: ab 12
Regie: Lars von Trier
Drehbuch:
Kamera: Anthony Dod Mantle
Darsteller: Nicole Kidman, Harriet Andersson, Lauren Bacall, Jean-Marc Barr u.a.

Homo homini canis ...

oder: Einiges von dem, was es über Dogville zu sagen gibt

Ist es arrogant, sich zum Straf­ge­richt, zu Herr­schern über Leben und Tod aufzu­spielen, wie es – hier – die Gangster tun, vor denen Grace (Nicole Kidman) sich im winzigen Gebirgs­kaff Dogville in den Rocky Mountains versteckt? Oder ist es nicht viel arro­ganter, den Menschen bedin­gungslos alles zu verzeihen im Hinblick auf die schwie­rigen Verhält­nisse – hier – im Amerika der Depres­sion der 1930er Jahre? In seiner filmi­schen Versuchs­an­ord­nung wirft Lars von Trier Fragen auf, deren Beant­wor­tung er voll und ganz den Zuschauern (und ihrem Gewissen) überlässt.

Drei Stunden dauert seine Parabel über die mensch­liche Natur, die auf den ersten Blick so wenig nach »großem Kino« aussieht: das Bergdorf ist mit Kreide auf dem Fußboden skizziert, nur wenig Mobiliar markiert die Häuser: hier ein Stockbett, dort ein mit Gardinen verhängtes Panora­ma­fenster. Nicht einmal eine Kirche hat das Nest: das Missi­ons­haus besteht aus Bänken, einem Harmonium und der Spitze des Glocken­turms, die ohne Verbin­dung nach unten mitten ins Studio gehängt wurde. Selbst die Stachel­beer­bü­sche sind mit groben Strichen auf den Boden gemalt. Die Abstrak­tion einer Kulisse.

Die Perspek­tive wechselt zwischen stati­schen Totalen aus extremer Obersicht und hektisch-nahen Reiß­schwenks, um die Hollywood-Illusion der abwe­senden Kamera gar nicht erst aufkommen zu lassen. Die Beleuch­tung ist thea­tra­lisch. Ein Off-Kommen­tator (in der Origi­nal­fas­sung John Hurt) schiebt sich zwischen Bühnen­dar­steller und Zuschauer, die Geschichte besteht aus Prolog und neun Kapiteln. Brecht'scher V-Effekt in Rein­kultur.

Und doch funk­tio­niert der unaus­ge­spro­chene Vertrag zwischen Publikum und Schau­spie­lern (wir tun so, als glaubten wir, was ihr vorgebt zu sein ...), nach erstaun­lich kurzer Gewöh­nungs­zeit nimmt man nur noch die Figuren wahr, fast froh, nicht durch Details der Umgebung abgelenkt zu werden. Und folgt bewegt, erstaunt, erschreckt, erschüt­tert der Geschichte einer unschul­digen Frau, die alles zu tragen gewillt ist, die alles versteht und vergibt, einer Märty­rerin der Humanität, wie Lars von Trier sie schon in den Filmen seiner Goldherz-Trilogie (Breaking the Waves, Idioten, Dancer in the Dark) gezeichnet hat.

Jedoch weicht die Glori­fi­zie­rung dem kriti­schen Blick, stößt das Dulden hier an seine Grenzen, und die Erkenntnis der mensch­li­chen Natur führt zu einem ganz anderen Ende, als man es nach den genannten Filmen erwarten kann. Nicht umsonst ist es Bert Brechts Lied »Seeräuber-Jenny« aus der Drei­gro­schen­oper, dass das Drehbuch inspi­rierte, nur dass hier kein »Schiff mit acht Segeln und mit fünfzig Kanonen« die Wendung bringt, sondern der Cadillac eines Gangs­ter­bosses. »Und an diesem Abend wird es still sein im Hafen, und man fragt sich, wer nun sterben muss« ...

Aber von Anfang an: Bei einem Spazier­gang grübelt der Dorf­phi­lo­soph Thomas Edison jr. (dank der Pension seines Vaters, eines Arztes, von der Notwen­dig­keit wirk­li­cher Arbeit verschont), wie er auf der Versamm­lung des folgenden Abends den Bewohnern Dogvilles ein Beispiel ihrer Mensch­lich­keit abver­langen kann. Da hört er in der Ferne Schüsse, und wenig später erscheint Grace, auf der Flucht und mittellos, wie gerufen für die geplante »Veran­schau­li­chung« des jungen »Schrift­stel­lers«, der noch keine Zeile zu Papier gebracht hat.

Er bittet also vor seinen Mitbür­gern um Unter­s­tüt­zung für Grace und bewegt diese, im Gegenzug kleine Arbeiten in den Haus­halten zu erledigen, die zunächst »eigent­lich gar nicht nötig« sind, aber mit der Zeit immer unver­zicht­barer werden. Die anfäng­liche Skepsis der Menschen von Dogville wandelt sich im Laufe des Frühjahrs zu Akzeptanz, zwischen Tom und Grace entwi­ckelt sich gar eine zarte Liebe, und auch der Vermiss­ten­aus­hang der Polizei kann das besser werdende Verhältnis zu Grace zunächst nicht trüben.

Doch als am 4. Juli die junge Frau als Verbre­cherin zur Fahndung ausge­schrieben wird, wächst die Macht der Dörfler über ihr Wohl und Wehe. Im Bewusst­sein der eigenen Großher­zig­keit und Risi­ko­be­reit­schaft (nimmt man nicht eine Verbre­cherin auf, gibt ihr Wohnung und Auskommen?) nehmen die Ansprüche (auch sexueller Art) an Grace zu. Statt ihre frei­wil­ligen Hilfs­leis­tungen freudig anzu­nehmen, verfügt man über ihre Arbeits­kraft und ihren Körper. Nach einem geschei­terten Flucht­ver­such wird sie an die Kette gelegt, an das schwere Schwungrad der einstigen Erzmühle, die Grace' Wohnung war nun ist sie ihr Gefängnis. Doch mit der Willkür wächst auch die Angst der »Dogvil­lains«, ihr Verhalten könnte bekannt werden. Der Expe­ri­men­tator Tom, endgültig vor die Entschei­dung zwischen Grace und der Gemein­schaft gestellt, ringt sich zu einem folgen­schweren Entschluss durch ...

Die in den 70er Jahren noch häufigen Fern­seh­be­ar­bei­tungen von Dramen waren von Trier eine wichtige Quelle für seinen filmi­schen Versuch, (auch andere Elemente, von film noir bis zum Rachekult des Italo-Westerns, lassen sich finden). Der Vergleich zu Thornton Wilders Drama »Unsere kleine Stadt«, in einem ähnlich kargen Bühnen­bild angelegt, drängt sich auf, auch wenn von Trier inhalt­liche Bezüge negiert und beteuert, das Stück erst während der Dreh­ar­beiten gelesen zu haben. Die Ähnlich­keit findet sich insbe­son­dere in der Anordnung, der Abstrak­tion des Spiel­raumes, die von Trier wie einen Filter zwischen die emotio­nale, anrüh­rende Geschichte und die einfüh­lungs­be­reiten Zuschauer setzt, um sie vor dem Abrut­schen in melo­dra­ma­ti­schen Kitsch zu bewahren. Diese Verfrem­dungs­di­men­sion wurde dem 2000 entstan­denen Drehbuch im Nach­hinein hinzu­ge­fügt. Eine weitere ist die teilweise sperrige Sprache (in der deutschen Fassung leicht depla­ziert wirkende Worte wie »Geschenk«, »Veran­schau­li­chung« oder »Trans­port­in­dus­trie«), die durch eine absicht­lich unper­fekte Über­set­zung des dänischen Textes entstand; der Autor nennt das »my Kafka-Thing«.

Es ist deutlich mehr als abge­filmtes Theater, was hier zu sehen ist, die Belebung der kargen Kulisse gelingt: Wer weiß denn nicht, dass auch in »realis­ti­scheren« Filmen Kunst­schnee rieselt? Farbiges Laub reicht als Kenn­zei­chen für Herbst. Gab es nicht schon in der Stumm­film­zeit Konven­tionen, durch Farbig­keit des Films inhalt­li­ches anzu­deuten? Nachtblau, Feuerrot, Tag weiß etc. Welche noch so schöne Aussicht käme an Inten­sität der Szene gleich, als Grace das Fenster des blinden McKay öffnet und ihr Gesicht in den Farben des Sonnen­un­ter­gangs glüht? Einzig die Fahrzeuge haben einen »wirk­li­chen« Innen­raumder im Falle des Last­wa­gens durch die trans­pa­rent gemachte Plane schon wieder aufge­bro­chen wird.

Man muss eine Tür nicht sehen, um sie zu erkennen, wenn man die Gesten der Schau­spieler und das Geräusch des in’s-Schloss-Fallens hat. Der sparsame Einsatz von Geräu­schen wird ergänzt und kontras­tiert durch die Musik: So bricht die Stimmung, die durch elegische Streicher entstand, nach dem furiosen Show-Down durch Musik David Bowies. Der Abspann, unterlegt mit Fotos von Armut in den USA, stellt akustisch und visuell die Genug­tuung in Frage, die sich des Zuschauers bemäch­tigt haben mag.

Auch sonst zeigt sich, dass von Trier, in Perso­nal­union Regisseur, Autor und »camera operator«, im Einsatz seiner Mittel als Filme­ma­cher sehr bewusst und erfolg­reich vorgeht. Er zeigt seine Haupt­figur nicht als über­mensch­liche Heldin, sondern als irrendes Indi­vi­duum mit all seinen Schwächen. Die Rolle der Grace wurde Nicole Kidman auf den Leib geschrieben, und sie erweckt die Figur in allen Facetten unnach­ahm­lich zum Leben (die Hymnen in den aktuellen Film­zeit­schriften sind verdient). Ebenso hat er bei der rest­li­chen Besetzung seines All-Star-Casts eine geschickte Hand bewiesen, auch, wenn er die Dreh­ar­beiten mit Solitären wie Andersson, Bacall, Caan, Gazzara, Sevigny, Skarsgard und anderen als anspruchs­voll beschreibt (einige, wie Udo Kier und Jean-Marc Barr, müssen sich mit winzigen Neben­rollen begnügen). Denn dem sicher nicht unwill­kom­menen Werbe­ef­fekt der großen Namen steht eine unprä­ten­ziöse, zurück­hal­tende Spiel­weise der genannten gegenüber, die deren Schau­spiel­kunst beweist.

Dogvil­ledie Hunde­stadt: dieser Name lässt einige Deutungen zu. Heißt das Nest am Ende einer Straße so, weil die Menschen hier leben wie Straßen­köter, elend, von der Hand in den Mund? Oder sind sie deshalb mit den Tieren zu verglei­chen, weil sie an ihrem Rudel fest­halten, aber gegenüber Fremden keine mora­li­schen Grenzen kennen, wenn es um den eigenen Vorteil gehtso lange man diese Grenzen nicht mit harter Hand setzt? Oder ist Dogville die Stadt des Wach­hundes Moses, der Grace als erstes bemerkt und als letzter verab­schiedet? Es gibt keine vorge­fer­tigten Antworten, man muss sie selbst heraus­finden.

(Aller­dings bleibt es einem unbe­nommen, die Antworten des Regis­seurs nach­zu­lesen: die offi­zi­elle Website des Films der Produk­ti­ons­firma Zentropa bietet diese und andere Infor­ma­tionen auf dänisch und englisch unter www.dogville.dk)