Polen 2019 · 114 min. · FSK: ab 16 Regie: Borys Lankosz Drehbuch: Borys Lankosz, Magdalena Lankosz Kamera: Marcin Koszalka Darsteller: Magdalena Cielecka, Marcin Dorocinski, Modest Rucinski, Jerzy Trela, Eliza Rycembel u.a. |
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Gut, facettenreich, untergründig |
Ein Zug fährt durch eine karge, kalte, schneebedeckte Gebirgslandschaft. Es geht in die Provinz und ins Untergründige, auch die Vergangenheit der Personen und des Landes. Die Person, das Alicja, eine Frau um die 40 und von Beruf Journalistin. Schon im Zug liest man eine Zeitungsschlagzeile, auf der in reißerischen Lettern gefragt wird: »Wer entführt die Kinder?« Und bald ist klar: Alicja reist in die polnische Provinz, nach Unterschlesien, um über eine Serie von verschwundenen Kindern zu berichten, die gerade die Region erschüttert.
Auf der langen Zugfahrt fällt Alicja kurz in den Schlaf. Sie träumt schlecht, das ist zu sehen, und der Film visualisiert diese Träume, ebenso wie Erinnerungen von ihr wie von anderen Figuren des Films.
Sind die Kinderstimmen, die sie hört echt, oder geträumt? Beides, Träume und Erinnerungen, die oft traumatische Gestalt haben, sind sehr bewusst in diesem Film nicht leicht auseinanderzuhalten. Von Anfang an mischt sich auch eine Ebene des Mysteriösen und der Kindermärchen und ihrer Figuren unter die Handlung des Films – wie die Legenden der Erwachsenen:
Der polnische Regisseur Borys Lankosz will offensichtlich ein Kino als Bewusstseinsstrom, als Fluss, der das Publikum entfesselt, mitreißt, und in dem Sein und Schein sich bewusst vermengen.
Dazu passt auch die Hauptfigur Alicja. Denn das Städtchen, in das sie kommt, ist ihre Heimatstadt, das Haus, in dem sie wohnt, ihr Elternhaus, und so kommt auch ganz persönlich Verdrängtes und Unterbewusstes wieder zum Vorschein.
Ihr Name deutet das genaugenommen schon an. Denn Alicia ist auch eine erwachsene, polnische Schwester von Alice in Wonderland, ein weißes Kaninchen gibt es
hier auch und das »rabbithole«, in das diese Journalistin stürzt, ist das persönlich Verdrängte wie das der Gesellschaft. Denn ein Erzählstrang führt auch in das Schlesien der Kriegs- und Nachkriegszeit. Die Zeit der Pogrome und der Partisanen.
Solche Verweise auf die wechselhafte Geschichte Polens auf die Verbrechen der SS, und die Sowjets gibt es zuhauf.
Dunkel, fast Nacht ist ein Thriller. Aber ein Thriller, der weniger durch direkten Suspense funktioniert als durch seine Atmosphären, durch eine Stimmung, die schön und rätselhaft ist.
Zugleich ist dies ein Film, der untergründig viel Zeitgeist transportiert, und in seinem sicheren Korsett des Genrekinos en passent wichtige aktuelle Themen anspricht: Fremdenhass, Rechte, Demagogie, die Suche nach Sündenböcken und die Rolle der Medien.
Die besondere Stärke dieses Films ist sein Stil. Die Bilder sind oft Dunkel, und in seinen hervorstechenden Hell-Dunkel-Kontrasten und der Handlung steht der klassische Film-Noir Pate.
In seinen besten Momenten erinnert Dunkel, fast Nacht an große Vorbilder wie die Serien Twin Peaks und Sharp Objects, aber auch sogar an Filmklassiker wie Fritz Langs M – Eine Stadt sucht einen Mörder.
Ein sehr guter, facettenreicher Film, der Aufmerksamkeit erfordert, die aber belohnt wird.