Deutschland 2022 · 100 min. · FSK: ab 12 Regie: Claudia Müller Drehbuch: Claudia Müller Kamera: Christine A. Maier Schnitt: Mechthild Barth Stimme: Ilse Ritter, Sandra Hüller, Stefanie Reinsperger, Sophie Rois, Maren Kroymann u.a. |
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…aber nicht den Hund | ||
(Foto: Farbfilm) |
»Seht mich jetzt an!« Eine junge Elfriede Jelinek hält ein Pappschild hoch und protestiert damit gegen die sehr begrenzte Sendezeit, die Autorinnen in einer österreichischen Fernsehsendung zugestanden wird. Ihre Forderung, gesehen zu werden, ist aus heutiger Sicht umso kurioser, als sie selbst sich inzwischen längst aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hat und aufgrund ihrer Agoraphobie noch nicht einmal an der Verleihung ihres eigenen Nobelpreises 2004 teilnehmen konnte.
Was macht eine Filmemacherin also, wenn ihr dokumentarisches Thema eine Einsiedlerin wie Elfriede Jelinek ist? Claudia Müller, Regisseurin mehrerer biografischer Fernsehdokumentationen, wählte einen üblichen dokumentarischen Ansatz, und löste dieses Dilemma in ihrem ersten abendfüllenden Kinodokumentarfilm aber kreativ: Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen zeigt fast ausschließlich Archivmaterial und beginnt mit diesem alten Ausschnitt von Jelineks Protest im österreichischen Fernsehen.
Müller hat in einer offensichtlich gründlichen Recherche und Vorproduktionsphase alles perfekt geplant. Ihr Film folgt zwar nicht unbedingt einer chronologischen Zeitlinie, aber er weiß, wo er beginnt, wo er weitergeht und wann er aufhört. Diese Genauigkeit mag Jelinek nicht sehr ähnlich sein, und der Film ist auch nicht so kontrovers und provokativ wie ihre Schriften, aber beide teilen das gemeinsame Interesse an Montage. Jelineks frühe Romane waren von Pop-Mythologien und Cut-up-Texten beeinflusst, wie sie selbst sagt, und auch ihre Entdeckung des Fernsehens, spät, im Alter von 20 Jahren, war für ihr Werk sehr einflussreich. Der Filmschnitt ist zweifellos das stärkste Merkmal von Müllers Dokumentarfilm. Es gibt in ihm eine Fülle von Archivmaterial, vor allem aus dem Archiv des österreichischen Fernsehens, das sorgfältig ausgewählt und zu einer Erzählung verwoben wurde.
Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen ist keine reine Biografie, daher erfahren wir auch nicht alles über das Leben der Autorin. Müller interessiert sich vielmehr für den Konflikt, der durch den Widerspruch zwischen dem entsteht, was Jelinek mit ihrem Werk bezweckt, und seiner Wahrnehmung durch die Mehrheit der Öffentlichkeit. Dieser Dokumentarfilm kommt zur rechten Zeit, denn Jelineks Vorliebe für sexuell explizite Situationen und Pornografie, um die Machtstrukturen in der Gesellschaft zu sezieren (trotz der Gegenreaktion der überwiegend männlichen Kritiker), könnte durch die Linse des heutigen politischen Klimas und der heutigen Sensibilität besser verstanden und nachempfunden werden. Auch die Diffamierung einer andersdenkenden Künstlerin und Intellektuellen durch die Rechte nach ihrer internationalen Anerkennung ist leider nur allzu bekannt und immer noch aktuell.
Der Film endet damit, dass Jelinek erläutert, warum sie keine Interviews mehr gibt: »...wenn man seine Arbeit erklärt, wird man schwach«, sagt sie. Dennoch gelingt es Müller mit ihrer Dokumentation, die Welt dieser umstrittenen und leider allzu oft missverstandenen Künstlerin zu erschließen und ihr Werk zugänglicher zu machen. Es handelt sich um einen relativ dynamischen, eingängigen Dokumentarfilm, der sicher längst nicht nur für Jelinek-Verehrer oder Literaturliebhaber geeignet ist. Offensichtlich hat Jelinek ihren Segen zu diesem Projekt gegeben, daher ist das erwähnte Eröffnungsfoto absolut zutreffend. Sehen Sie sie an, sehen Sie sie jetzt an!