Chile 2019 · 107 min. · FSK: ab 16 Regie: Pablo Larraín Drehbuch: Guillermo Calderón, Pablo Larraín, Alejandro Moreno Kamera: Sergio Armstrong Darsteller: Mariana Di Girolamo, Gael García Bernal, Paola Giannini, Santiago Cabrera, Cristián Suárez u.a. |
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Aus der unübersichtlichen Gegenwart Freiheit schöpfen | ||
(Foto: Koch Films) |
»You wouldn’t believe what I've been through/ You've been so long/Well it’s been so long/
And I've been putting out the fire with gasoline/ Putting out the fire/ With gasoline«
David Bowie »Cat People«
Die Bilder zeigen die Nacht über einer Hafenstadt. Eine Verkehrsampel steht in Flammen. Eine junge Frau blickt auf sie, geht dann seelenruhig weg. Es sind rätselhafte, poetische Bilder, manchmal surreal, manchmal sozialrealistisch, mit denen dieser Film beginnt. Es dauert eine Weile, bis sich aus ihnen doch ein Zusammenhang und damit eine Geschichte herausschält. Aber dieser fragmentarische, dezentrierte Eindruck hat Gründe. Er entspricht den Figuren und Situationen, von denen Pablo Larraín erzählt. Mit seinem siebten Spielfilm kehrt der chilenische Filmemacher nach seinen etwas betont »politischen« Filmen und seinem fragwürdigen Hollywood-Ausflug mit Jackie wieder nach Chile zurück, genau gesagt in die Hafenstadt Valparaiso.
Eine Ahnung davon, was dies für ein Film ist, gibt der Trailer, auch wenn hier fälschlicherweise der Eindruck erweckt wird, es könne sich um ein Musical handeln. Im Zentrum steht die Titelfigur »Ema«, eine junge Frau (gespielt von der super-charismatischen Mariana Di Girolamo), die als Tänzerin in einer Compagnie arbeitet, und nebenbei an Schulen unterrichtet. In kurzen
facettenhaften Momenten, die sich in Ort und Figuren schnell abwechseln, in der Chronologie springen und getrieben von der modernen Musik von Nicholas Jaar, zu der Ema tanzt, schält sich folgendes heraus: Ema ist mit dem Choreographen Gaston (Gael García Bernal) zusammen; weil er zeugungsunfähig ist, hatten sie ein Kind adoptiert. Doch dieser Polo entpuppte sich als destruktives und gefährliches Kind: Er verbrannte das Gesicht von Emas Schwester schwer, worauf Ema und Gaston den
Jungen den Behörden zurückgaben. Die Umgebung bestraft vor allem Ema dafür: An der Schule wird sie von den übrigen Lehrern gemobbt; zwei Szenen zeigen die Sozialarbeiterin, die den Ex-Eltern sagt: »fix your rotten heads before you adopt children.«
Ema stellt fest: »Die Leute schauen uns an, als ob wir einen Hund mit einer Plastiktüte erstickt hätten.«
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Ema, eine Millennial der besseren Art, also ein Mensch ohne Skrupel und Hypermoralismus, eine spirituelle Cousine des »Girl with the Dragon Tattoo« und Verwandte der postapokalyptischen Mad Max-Heldin-Furiosa, erscheint als Drifterin; sie will kein »good girl« sein. Wir folgen ihr durch die Nacht und ahnen, dass sie schon längst über Wege nachdenkt, Polo, der bei neuen Adoptiveltern lebt, zurückzugewinnen. Der Film flaniert auf ihren Spuren durch ein poetisch verfremdetes Chile von heute. Man kann das prätentiös finden, aber eigentlich ist es auch sehr beiläufig erzählt. Man sieht Ema tanzen, neue Freundinnen gewinnen, in Bars und auf Partys, bei Sex mit Männern wie Frauen, mit Freunden. Und sie kommt ihrem Ziel näher.
Unterbrochen wird das immer wieder von Bild-Montagen, Passagen, in denen wir der Figur einfach folgen und sich Szenen lose aneinanderreihen. Von Tanzszenen wie dieser, die sich aus der Filmhandlung halb lösen, sich zugleich verdichten und beschleunigen, und mit Poesie aufgeladen sind. Und einen Flammenwerfer, der die Leinwand kurz in ein riesiges Feuer taucht. Man sieht, wie Autos abgefackelt werden – Berlin grüßt voll klammheimlicher Freude.
Für Ema ist das Ernst und Spaß zugleich, feuriger Exzess, wenn sie ein Feuerteufel wird und in einer Szene Feuer spuckt, »wie das feurige Sperma eines Elefanten«, in einer anderen mit ähnlichem Vergnügen den Wasserwerfer eines Feuerwehrmannes betätigt.
Auch sonst ist Ema ein Kino-Märchen im Delirium. Larraín, der weißgott schon andere, schlechtere Phasen als Regisseur hatte, propagiert hier ein Kino, das die Idee einer photographischen Reproduktion der äußeren Welt, jenes Ideal der Kino-Spießer, ablehnt, und stattdessen dynamische Empfindungen zeigen will. Gezeigt wird nicht ein Gegenstand, sondern ein Rhythmus, Bewegung, eine Atmosphäre. Und das ist so rätselhaft, wie schön.
Alle Formen von Nachahmung und Spiegelung – der Künstler und der Betrachter auf der einen, das Abgebildete auf der anderen Seite – sind überholt und haben nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Man muss das alles nicht überhöhen. Man sieht es einfach gern.
Das alles kommt mir sehr typisch chilenisch vor, ich kann mir Ema nicht als einen Film aus Argentinien oder Mexiko vorstellen. Auch nicht aus Spanien – was ich schreibe, weil man den Film am ehesten noch mit Melodramen vergleichen kann.
Gerade all jenen, die Pablo Larraín – wie ich – bisher nicht mochten, möchte ich diesen Film ans Herz legen. Allen, die seinen Stil gewollt und um Aufmerksamkeit buhlend fanden, manieriert, von falschem Formalismus geprägt, allen, die ihn bislang verdächtigten, politisch eine erzkonservative bis reaktionäre Agenda zu propagieren. Nichts von alldem könnte man auch über »Ema« sagen.
Endlich mal ein Film, der nicht nach 20 Minuten verstanden und vorhersehbar ist, nicht glatt ist, sondern gegenwärtig, rau und unklar. Larraín erzählt in Facetten, in unzusammenhängenden Szenen und immer wieder überraschenden Bildern. Ein Film, der aus der unübersichtlichen Gegenwart nicht Nihilismus schöpft, sondern vollkommene Freiheit.
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Dietmar Dath hat es vor einem Jahr im FAZ-Blog aus Venedig besser und schöner gesagt, als ich es kann: »Bei 'Ema' hört das Spiel der Frau, die hier eine Frau spielt, welche mit sich und anderen spielt, an keinem der Punkte auf, über die alle anderen Filme nicht heraustreten, es wird mit Haut und Haaren der Ernst vom Spiel verschlungen und umgekehrt, das Werk ist komplett pervers und Pablo Larraín ein Irrer. Aber ein sehr ruhiger. Ich meine das als Lob. Ich fürchte mich vor diesem Mann und vor seinem Star, der unbegreiflichen Mariana Di Girolamo. Die sind nicht von hier, von dieser Welt, wo man Handeln einerseits und So-tun-als-ob andererseits unterscheiden kann. Die sind von einem Planeten, wo böse Musik wie Grundwasser unter allem strömt, siedend heiß, von Feuer nicht verschieden. Wer auf eine Pressekonferenz geht, um sich Filme wie 'Ema' erklären zu lassen, wird nicht viel erfahren. Wer aber den Kopf auf den Boden legt, damit dieser Film drüberfahren kann, wird was ganz Besonderes erleben.«
»I teach freedom« beschreibt Ema sich selbst. Für den Film gilt das auch.