USA 2007 · 156 min. · FSK: ab 12 Regie: Andrew Dominik Drehbuch: Andrew Dominik Kamera: Roger Deakins Darsteller: Brad Pitt, Mary-Louise Parker, Brooklynn Proulx, Dustin Bollinger, Casey Affleck u.a. |
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Brad Pitt als Jesse James |
Er ist ein Mann des unsteten Blicks. Einer, der anderen nicht lang in die Augen sehen kann, der schnell verlegen anfängt umherzuschauen. Einer, dem leicht das Herausfordernde aus dem Geschau weicht, um einer fragenden, unterwürfigen Suche nach Bestätigung, Gefallen zu weichen.
Er ist ein Mann, dessen Mund ihn oft verrät. Ein Mund, der zu bereitwillig lächelt und grinst, um dann genau so eilig ins Schmollen zu verfallen. Ein Mund, der nicht selten halboffen steht, aus
Unverständnis oder im Warten darauf, dass ihm die rechten Worte einfallen, oder dass er gefragt ist.
Er ist ein Mann ohne die Stimme eines Mannes. Kraft und tonlos klingt sie meist, wie heiser. Sie sitzt zu hoch, nicht in der Brust, sondern scheinbar irgendwo über dem Kehlkopf, und manchmal schnappt sie über, wie in einer Erinnerung an den Stimmbruch, der so lang noch nicht zurückliegt.
Robert Ford ist 19 Jahre alt, ein Teenager, der jüngste von drei Brüdern, einer, der die
Zurückweisung kennt und leere Versprechungen. Wie die meisten Teenager ist er erfüllt von einem Gefühl, für Höheres berufen zu sein, erfüllt von Fantasien der Macht und des Ruhms. Und wie bei den meisten Teenagern ist sein Leben eine einzige Erfahrung von Machtlosigkeit, von Gewöhnlichkeit und Unerkannt-, Unverstandensein.
Es ist mithin nichts Ungewöhnliches, dass Robert Ford seine Träume aus zweiter Hand zu leben versucht – durch ein Idol, durch einen Star.
Robert Ford ist ein Fan, er sammelt Reliquien seines Helden in einem Pappkarton-Schrein unter dem Bett, verfolgt obsessiv dessen Abenteuer in den Medien – Groschenheften damals, die nach dem »Print the Legend«-Prinzip funktionieren –, und er sucht gleich eines Esoterikers nach selbst den obskursten Verbindungen, die
ihn mit seinem Idol verbinden: Körpergröße, Beruf des Vaters, Anzahl der Buchstaben im Namen des mittleren Bruders...
Fords Wunsch ist zunächst der jedes Fans: Seinem Star so nah zu sein wie möglich, sich in dessen Glanz zu sonnen. Von ihm die Bestätigung zu bekommen: Ja, eigentlich sind wir ganz ähnlich. Ja, ich bin wie du.
Aber Ford geht, wie die manisch-obsessiven Fans, auch den entscheidenden Schritt weiter: Sein ultimativer Wunsch ist, eins zu werden mit dem Vergötterten,
ihn auszulöschen, ihn sich einzuverleiben, an seine Stelle zu treten. Ford will erst zum Doppelgänger werden – er legt den vom Vater geliehnen Mantel ab und besorgt sich einen Anzug, ganz ähnlich dem seines Idols; er studiert die Manierismen des Stars bis ins Detail; und als Ford, eher durch Zufall, seinen ersten Mord begeht, da kann er nach dem ersten Schock das Grinsen am nächsten Tag kaum verbergen, da lässt er seinen Colt in den Holster wirbeln, als wäre er jetzt von heute auf
morgen auch ein richtiger Gunslinger geworden.
Ist er seinem Star aber erst einmal ähnlich genug, dann will er, muss er im letzten Schritt das Original tilgen.
Robert Ford will ein Parasit sein. Aber was er nicht bemerkt, nicht begreift ist, dass der anvisierte Wirtskörper schon längst leer ist. Sein vermeintlicher Doppel- ist nurmehr ein Wiedergänger.
Fords Idol ist Jesse James, doch der Mann, den Ford in den 1880ern trifft, ist selbst nur ein Schatten, ein Überbleibsel seiner Legende, die sich verselbständigt hat. Er trägt nicht einmal mehr den selben Namen, gibt sich als Mr. Howard aus. (Namen sind wichtig in diesem Film voller Brüder,
Cousins, Verwandschaften; immer wieder geht es um das Benennen, Bezeichnen – »You can hide things in vocabulary,« heißt es einmal.) Er ist sesshaft gewordener Familienvater und Geschäftsmann, nicht mehr die überlebensgroße Figur, von der es anfangs heißt »Rooms were hotter when he was in them, rains fell straighter, clocks ticked slower«.
Und er ist müde und krank, sein Körper gezeichnet, genarbt von den wilden Jahren. Er ist angeekelt von der eigenen
Brutalität. Er hat schon einmal einen Fuß ins Jenseits gesetzt, und seither freut ihn das Leben nicht mehr.
Das neue Jahrhundert zieht herauf, seine Städte wuchern und dringen vor, und es hat keinen realen Platz, kein Land mehr für einen Jesse James, dessen Reich bald allein die Legende, der Mythos sein wird.
Ford kann gerade noch am letzten Raubzug der James-Brüder teilhaben, einem nächtlichen Eisenbahnüberfall. Er ist einer der angeheuerten Schergen, die statt der ursprünglichen James-Gang dabei mithelfen – welche längst zerstreut, verhaftet, tot ist. Mit ihren weißen Stoffsäcken mit Augenlöchern als Masken sehen diese Banditen im dunklen Wald im Licht des Lokomotivscheinwerfers aber selbst schon aus wie Gespenster.
Danach sitzt Ford mit Jesse James zigarrerauchend auf
einer Veranda, plappert sein Idol voll, und da gibt es am Ende diesen Blick des großen Outlaws, mit dem er seinen Fan taxiert. Als wolle er Maß nehmen. Und es fällt nicht schwer zu glauben, dass James bereits in diesem Moment alles begreift und plant und in Bewegung setzt: Denn dieser Möchtegern-Parasit bietet sich für Jesse James perfekt zur Symbiose.
James hält, wie gesagt, nicht mehr viel in dieser Welt, diesem Leben, und er trägt – wie er Fords Bruder einmal auf einem
zugefrorenen See erklärt – schon lange den Gedanken in sich, sich daraus zu verabschieden. Aber ein einfacher Selbstmord kommt für einen Jesse James nicht in Frage, ohne das rechte Dahinscheiden wird eine Legende nicht zur Legende. Ein Heiland braucht seinen Opfertod – und in James ist wohl dort auf der Veranda die Erkenntnis gekeimt, dass ihm dieser 19-jährige Gernegroß als Judas taugen könnte, dass er ihn zum Instrument seines Suizids und seiner Vollendung formen
könnte.
Ford ist, trotz all seiner Machtfantasien, ein zögerlicher Mensch, der zu fast jeder Handlung gedrängt und gestoßen werden muss. Es dauert, bis James ihn dort hat, wo er ihn braucht, ein kompliziertes Geflecht aus Verrat ist notwendig, und James muss ihn in sein Heim aufnehmen, muss ihn beherbergen und nähren, muss ihm den letzten Schritt unausweichlich machen. Und selbst als James mit schwerem Herzen und langem Blick auf seine draußen spielende Tochter endgültig Abschied genommen
hat von der Möglichkeit, einfach völlig zu »Mr. Howard« zu werden, selbst als James sich wie ein Opferlamm waffenlos und mit dem Rücken zugewandt Ford präsentiert – Ford, den er hat wissen lassen, dass sein Verrat durchschaut und damit eigentlich SEIN Todesurteil unterzeichnet ist –, selbst da braucht Ford noch quälende Sekunden, bis er endlich, endlich abdrückt und Mr. Howard sterben lässt, damit »Jesse James« das ewige Leben erlangt.
Und dann hat Ford nicht das Rückrat,
der von ihm eben zur Witwe gemachten Mrs. Howard ins Gesicht zu sehen und zu seiner Tat zu stehen, er druckst etwas von einem »Unfall«. Erst das Telegramm, dass er dann absendet, »I shot Jesse James«, das macht ihn vermeintlich zum Helden.
Selbst wenn sie ihre Rollen nicht so unerwartet überzeugend, nuanciert, punktgenau verkörpern würden, wie sie es tun: Casey Affleck und Brad Pitt wären an sich schon eine ideale Besetzung für The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford. Pitt, der große Star, der aber inzwischen seine jugendliche Eitelkeit und Glätte abgelegt hat, der möglicherweise die größten Höhen seines Ruhms hinter sich hat, dem man hier abnimmt, dass er einer sein könnte, der mit Mitte 30 schon müde ist. Und dagegen Affleck, der jüngere Bruder eines von keinem so recht ernst genommenen Nicht-ganz-A-Listen-Stars, einer, der alles zu beweisen hat, dem man das Frische und Unsichere sofort glaubt. Es ist eine dieser Konstellationen, wo ein Film die Hierarchie des Hollywood-Starsystems, den öffentlichen Mythos der Darsteller nutzt, um die (noch) fiktiv(er)en Charaktere zu bereichern.
Die Medialität ist Andrew Dominiks großartigem Film überhaupt sehr wichtig – aber nie mit distanzierender Absicht. Im Gegenteil: The Assasination of Jesse James by the Coward Robert Ford ist eine einzige Totenbeschwörung, ist ein einziger Versuch, eine vergangene Zeit sicht-, hör-, greif-, riechbar zu machen. Wie durch die schlecht geschliffenen Linsen früher Foto- und Filmapparate sieht man die Sequenzen, in denen eine Erzählerstimme im
raunenden Imperfekt die Figuren und ihre Welt situiert. Und das spiegelt sich wieder in den Unebenheiten des Glases bei Blicken aus Fenstern im Rest des Films. Das vergegenwärtigt die Unzulänglichkeit, die Bedingtheit des Blicks – aber es macht auch eine Stofflichkeit erfahrbar: The Assassination of Jesse James ist (vor allem auf richtig großer Leinwand in scharfer Projektion genossen) ein ungemein taktiler Film. Das Gewebe der Stoffe, das Tanzen der
Staubpartikel im Sonnenlicht, das Versickern des Bluts in den Diehlenboden-Ritzen, der Qualm des Schwarzpulvers nach einem Schuss, der Weizen auf den Feldern, die Schneeflocken in der klaren, kalten Luft: All das meint man regelrecht zu spüren, anfassen zu können.
Und das macht Dominiks Film zu etwas anderem als z.B. einem bloßen Essay über Legende und Wahrheit. Er ist kein Spätwestern, dem es darum ginge, die klassischen Zutaten des Genres zu dekonstruieren, zu
hinterfragen, umzudeuten. Er weiß, dass John Ford selbst dazu alles Wesentliche geleistet hat. Er ist kein apokalyptisches Fanal des Westerns, wie die Filme Peckinpahs, und auch kein »Neo-Western« im Sinne von Unforgiven oder Open Range.
Am ehesten könnte man ihn mit den »Post-Western« der ‘70er
vergleichen, Filmen wie The Hired Hand, McCabe & Mrs. Miller oder Jeremiah Johnson – Filme, die das Western-Genre mehr transzendieren als interpretieren. Filme, die für eine sehr europäische Sensibilität
offen sind, die mehr impressionistisch wahrnehmen und erzählen. Und eben Filme, die an der Stofflichkeit, Wahrhaftigkeit, am Konkreten ihrer Welt viel mehr interessiert sind als an einer Einreihung in eine Genre-Tradition.
Zwei Pointen hat The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford am Ende für seinen zweiten Titelhelden parat. (Drei sind es, wenn man mitzählt, dass freilich bei dem erst am Ende des Films eingeblendeten Titel der Name »Jesse James« mindestens dreimal so groß in der Mitte prangt wie der Fords darunter – es wird immer klar bleiben, wer von den beiden der Star ist.)
Es ist nicht Robert Ford, der schließlich dem Ziel nahe kommt, (wie) Jesse
James zu werden. Zusammen mit seinem Bruder zieht Ford durchs Land und gibt, über 800 mal, auf den Theaterbühnen zum besten, wie er den berühmten Outlaw erlegte. (Das war die Haupt-Verwertungsmöglichkeit, die das 19. Jahrhundert solchen mehr oder minder zweifelhaften Berühmtheiten bot, wo es noch keine TV-Movies-der-Woche, Nachmittags-Talkshows und kaum »Promi«-Biografie-Bestseller gab...) Ford spielt sich selbst, sein Bruder übernimmt den Part James' – anfangs schrecklich
unbeholfen, aber dann, von Krankheit gezeichnet und zernagt von Zweifeln am eigenen Tun, schleicht sich etwas Dunkles in ihn hinein und lässt ihn dem Ermordeten immer ähnlicher werden. Wunsch zum Selbstmord einbenommen.
Und schließlich wird Ford selbst das Opfer eines Parasits zweiter Ordnung – eines Mannes, der sich Heldenruhm nicht davon verspricht, dass er einen legendären Outlaw erschießt, sondern davon, dass er einen Mann erschießt, der einen legendären Outlaw erschossen
hat. Zwischen Ford und seinem Mörder gibt es keine Symbiose mehr, keine Nähe, kein Sich-Erkennen. Es ist ein spontanes Verbrechen, schmutzig, planlos, unnütz, überfällig.
Wenn, dann hat Ford, der Sterbliche, überhaupt nur sehr spät begriffen, dass nur die wahren Stars den Luxus haben, im Tod unsterblich zu werden.
1881-1882, als der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche gerade an seiner »Fröhlichen Wissenschaft« schreibt, erlebt Jesse James die letzten Monate seines Lebens, und ist, wenn man Andrew Dominiks Film glauben darf, auch damit beschäftigt, die verschiedenen Charaktere – oder Ungeheuer – in seinem Inneren unter Kontrolle zu halten. Die Geschichte, die dieser Film erzählt, ist auf den ersten Blick überaus schlicht, und schon ganz und gar in seinem barocken Titel enthalten. The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford, beschreibt mit historischer Akkuratesse fast dokumentarisch die letzten Monate des zum Mythos zu Lebzeiten gewordenen amerikanischen Gangsters Jesse James und den einigermaßen gut belegten, zugleich von Legenden umrankten Vorgang seiner Erschießung durch Robert Ford 1882. Ford gehörte zum erweiterten Kreis der James-Bande, und ließ sich 1881, als alle außer Jesse und Frank im Gefängnis oder tot waren, vom Gouverneur Missouris und dem ausgesetzten Kopfgeld zum Verrat überreden. In heutigen Begriffen war er ein Killer im Regierungsauftrag. Jesse James wurde ermordet, weil er lebend in Haft den Politikern zu gefährlich war, und weil sich die Behörden an ihm auch für jahrzehntelange Demütigungen rächen wollten.
Die Essenz des Films liegt aber ganz woanders. Regisseur Andrew Dominik, ein Neuseeländer, der zuvor nur einen einzigen Film gedreht hat, Chopper, geht weit über die allzu vorhersehbare Nacherzählung des Historischen hinaus. Er zeigt den Mord an Jesse James als zeitgemäßes existentielles Drama: Ein Versuch über den Western und das Verbrechertums, ein Beitrag zur reichen Kulturgeschichte des Verrats, ein Zen-Western, im schlafwandlerischem Stil inszeniert: Wie für die Figuren ist auch für die Zuschauer der Weg das Ziel, denn dieses kann nur der Tod, Jesse James' Ende und das Ende des Films sein. Man wartet, ohne genau zu wissen worauf. Die neue Legende ersetzt die alte, das Interesse für die Mörder der Mörder, das für die Mörder. Eine verführerisch inszenierte Meditation über das Western-Genre, die versucht, dieses uramerikanische Genre auf der Höhe der Gegenwart zu interpretieren, eine Reflexion der Gewaltverhältnisse Amerikas, des Gangstertums und der in beidem wurzelnden Mythologien, sowie des Zusammenhangs von Männlichkeit und Furcht, Wahnsinn und Brutalität, ist dies vor allem eine lyrische Betrachtung von Starruhm und Glamour, der »celebrity culture«, die unsere Gegenwart, längst nicht mehr nur in den USA, prägt.
Man muss hier kurz innehalten, und an das Robin-Hood-Image erinnern, dass sich der historische Jesse James zum Teil selber angeschminkt hat – zum Teil gab es ihm die Öffentlichkeit –, und das dann im 20.Jahrhundert von Hollywood bereitwillig wiedergekäut wurde – und die Wirklichkeit dahinter. Sie ist spannend genug: 1847 geboren, wuchs Jesse mit vier Geschwistern in Missouri auf, sein leiblicher Vater starb als goldsuchender Glücksritter beim Goldrausch in Kalifornien. Sein Stiefvater, ein Arzt, verlegte sich auf den Tabakanbau, und hielt sieben Arbeitssklaven. Die Familie gehörte zu den Verlierern der Zuspitzung der späten 50er Jahre und des Bürgerkriegs – das ist psychologisch wichtig, um die spätere Gangsterkarriere zu erklären: Denn die James' waren wie viele ihrer Zeitgenossen in eigener Sicht schon mit Kriegsbeginn zu Outlaws geworden. Jesse’s älterer Bruder Frank schloss sich kurz der konföderierten Armee an, dann den berüchtigten »Bushwrackers«, einer Partisanenarmee, die aus dem Hinterhalt operierte, die Konventionen der damaligen Kriegsführung hinter sich ließ, und insbesondere die Zivilbevölkerung bedrohte. Frank war nachweislich an zwei Massakern beteiligt, Jesse stieß später hinzu, und es liegt nahe, das auch er hier die Grundlagen seines späteren Lebens lernte. Hier werden die James-Brüder und andere Gangsterbanden der Zeit wieder als unbeabsichtigte Folgen des amerikanischen Civil War, als Kinder des Krieges sichtbar, die den heutigen Kriegskindern des Balkan und des Nahen Ostens recht ähnlich sehen. Über Monate wussten sie noch nicht mal das der Krieg zuende war, und kurze Zeit später wurde das Verbrechen zur Erweiterung und Fortsetzung des Bürgerkriegs. Es war von schlichter Not motiviert, aber auch von Rache der Südstaaten-Kämpfer für die Niederlage und Demütigung. Jesse James war also nicht nur Outlaw und edler Räuber, der die Zivilisten in den beraubten Zügen immer verschonte, und sich nur am Safe zu schaffen machte, er war auch ein mindestens 15-facher Mörder, einer, der einen Bankangestellten folterte, der den Safe nicht öffnen wollte, und ein Terrorist, der sich zuerst Unionssoldaten, später dann Anhänger der Union als bevorzugte Opfer wählte. Und er war ein Propagandist in eigener Sache: In den 70er Jahren veröffentlichte der Herausgeber der Kansas City Times, John Newman Edwards, ein glühender Anhänger der konföderierten Restauration, mehrere Rechtfertigungs-Briefe, in denen sich Jesse James für die Südstaaten-Sache stark macht, dem Krieg und der Union die Schuld an seinen Taten gibt, und sich insgesamt zum Opfer und guten Menschen stilisiert. James wurde zur Symbolfigur in dem Kulturkampf nach dem Bürgerkrieg.
Wenn Zeitgenossen bei den Überfällen der James-Bande immer den Mut der Täter betonen, bleibt unterbelichtet, dass es sich bei den Tätern von ihrer Persönlichkeitsstruktur her um Nihilisten handelte. Sie waren nicht »mutig«, sondern sie hatten nichts zu verlieren, ihr Mut war also eine Tollkühnheit aus Verzweiflung. Das Morbide der realen Geschehnisse, der Zeit mit ihrer Anarchie wird auch in Assassination nicht genug gezeigt, dazu ist der Film zu schön, zu wenig düster. Aber er verzichtet auch darauf, den bekannten Mythos fortzuschreiben.
In über 30 US-Filmen – darunter auch so bizarren Titeln wie Jesse James Meets Frankenstein’s Daughter von 1966 –, in zahlreichen Episoden verschiedener TV-Serien wie »Twilight Zone« (»Showdown with Rance McGrew«), »The Brady Bunch«, »The New Adventures of Superman«, »The Young Riders«, »Little House on the Prairie«, »The Simpsons«, »Akte X«, etc. ist Jesse James die Hauptfigur. Stars wie Tyrone Power, James Dean, Robert Duvall,
Kris Kristofferson, Audie Murphy, Lee Van Cleef, Robert Wagner und Colin Ferrell verkörperten den Outlaw, Regisseure wie Henry King (Jesse James), Fritz Lang (Rache für Jesse James), Nicholas Ray (The True Story of Jesse James), Walter Hill und Samuel Fuller (I Shot Jesse
James) suchten eine eigene Perspektive zu finden, und zeigten James meist doch immer irgendwie als Opfer, als guten Mensch auf Abwegen.
Henry King etwa, bei dem kein Geringerer, als der schönste romantische Schönling, den Hollywood je gekannt hat, als Tyrone Power den Gangster verkörpert, und Henry Fonda seinen Bruder, zeigt die Bruder als Opfer der Brutalität der Landnahme der Eisenbahngesellschaften. Wie wird man Gangster durch den bösen Fortschritt und Kapitalismus?
Der Film ist reine Ideologie: Eine reaktionäre Verklärung des Siedlerlebens mit kochender Mutti und braven Farmerdasein, in dem James von bösen Kapitalisten die Rückkehr ins Zivilleben verweigert wird, in der man ihm das Familienleben und den Neuanfang in Kalifornien versagt. Ein schönes Märchen, mehr nicht.
»Frank and Jesse James knowed how to rob them trains, they always took it from the rich and gave it to the poor, they might have had a bad name but they sure had a heart of gold.«
Strophe aus Lied von Countrysänger Hank Williams, 1983
Ganz ist dieses sehr idyllische Bild der Wirklichkeit auch bei Dominik keineswegs verschwunden – zu Recht, die Wahrheit in den Köpfen ist wichtiger und meistinteressanter, als die in den Archiven. Doch stellt er den Mythos vom Kopf auf die Füße, enthüllt seine brutale, mörderische Seite und rückt den Volkshelden aus dem Zentrum.
Der Held seines Films ist nicht mehr Jesse James, sondern Robert Ford. Er steht im Zentrum, seine Psychologie wird in Form von inneren
Monologen entfaltet. Dominik zeigt in Ford das Verlangen eines Groupies nach Ruhm, zeigt, wie die Faszination für den Star sich mit Geltungssucht paart. Folgt man dem Film, ist die Geschichte von Jesse James und Robert Ford eigentlich die enttäuschter – nicht notwendig homosexueller – Liebe und unbewußter Demütigung. Eine symbolische Begegnung von Star und Fan, die sich zur Obsession radikalisiert, und an deren Ende der Fan den geliebten Star tötet, der ihn nicht so,
wie gewünscht, wieder lieben will. Eine Bluttat aus Ressentiment.
Sie machte Jesse James endgültig zum prototypischen Outlaw-Helden. Lobende Nachrufe wurden geschrieben, der tote Körper wurde auf Eis gelagert und man bot für ihn 50 000 Dollar. Photos des aufgebahrten Toten verkauften sich tausendfach. Ein frühes Massenmedienphänomen.
Die in diesem Zusammenhang vielleicht interessantesten Fakten betreffen die Folgen des Mordes: Robert Ford wurde nämlich durch den Mord tatsächlich selbst zum Star, der seine Tat 800 Mal auf der Bühne, dem damaligen Kino nachspielte – und darüber verzweifelte. Zehn Jahre später wurde er selbst ermordet – ohne Nachrufe, Fotos und Nachruhm. Irgendwann würde man aber nun gern die Fortsetzung sehen: The Assassination of Robert Ford by the Coward Ed
O’Kelly. Immerhin ein solches Buch gibt es tatsächlich: Ed O’Kelley: The Man Who Murdered Jesse James' Murderer von Judith Ries, (Missouri, 1994; ISBN 0-934426-61-9).
Brad Pitt spielt Jesse James als müde und paranoid gewordenen Rockstar des Verbrechens, als einen alternden, latent depressiven Familienvater, von Verfolgungswahn und anderen Dämonen gequält, bei dem man nie ganz sicher ist, ob er seiner Jugend nun nachtrauert, oder froh ist, sie überlebt
zu haben, einen brutalen Mörder, der von seinem Ruhm eher verfolgt wird, mit der Begeisterung seiner Fans nichts anfangen kann und todessehnsüchtig sein Ende herausfordert – ähnlich wie Jim Jarmush’s stilistisch ganz anders geartetem Western-Pastiche »Dead Man« zeigt in James eine Figur, die eigentlich schon von Beginn an tot ist. Und ein bisschen erinnert er auch an Friedrich Nietzsche auf alten Fotografien, allerdings vor allem an den Nietzsche der Endphase. Für Pitt
wiederum, wie eigentlich für jeden Darsteller, hat Nietzsche eine gute Gebrauchsanweisung formuliert: »Aus der Kriegsschule der Seele: Ein für allemal einen Charakter darstellen, aber ohne dass erkennbar wird, dass man noch fünf oder sechs andere hat.« Jetzt bleibt eigentlich nur noch zu wünschen, dass Brad Pitt einmal Nietzsche darstellt, und zwar so, dass alle sieben Charaktere sichtbar werden.
Wie Robert Ford ist es auch sein Darsteller Casey Affleck der in diesem Film den nominell größeren Star in den Schatten stellt: Grandios spielt Affleck mit hell weinerlicher Stimme und unsicheren Körperbewegungen diesen schwer durchschaubaren spätpubertären Charakter, der James mal naiv und zutraulich, mal hinterhältig und immer obsessiv wie ein Stalker auf den Fersen klebt – »als ob er eine Biografie über den Outlaw schreiben würde.«
Stilistisch ist Assassination geprägt von den wunderbaren Bildern der brillanten Kamera von Roger Deakins. Deakins nähert sich der Bildsprache früher Photographien an: Die Bilder sind in der Mitte scharf, verschwimmen aber leicht zu den Rändern hin. Die von Braun und Grautönen, von mattem Weiß und tiefem Schwarz und indirektem Licht dominierte Farbpalette des überwiegend im Winter spielenden Films ähnelt zwischendurch immer wieder Schwarzweißaufnahmen. Die Bewegungen der Kamera sind langsam, ihr Blick zeigt weite Himmel, bleibt gelegentlich an dessen Wolkenspielen hängen. Oder er fängt das Gras ein, die Bäume, stumme Gesichter. Gesprochen wird nur das Nötigste; so entsteht ein schöner Zen-Western, beherrscht von einer kontemplativen Atmosphäre, die in den besten Momenten an Terence Malick erinnert, nur gelegentlich auch manieriert wirkt.
Einmal mehr belegt Dominiks ambitioniertes, bildgewaltiges Werk, dass der Western heute offenbar nur noch in der Rückwendung auf Filme der 70er und damit als Abgesang auf sich selber möglich ist. Aber Dominik mit Mythenzerstörung, bei ihm fehlt erkennbar der Hass auf Mythologie, darum tut er zwar nicht so, als sei es seinerzeit besonders glorreich zugegangen, aber seine Bilder sind doch fast ein bisschen zu schön, um wahr zu sein.
Man hat dem Film so allerhand vorgehalten: Er habe keine Haltung zum Gegenstand, als ob Rembrandt-Licht und Heldenmüdigkeit, die Erschöpfung von Männlichkeit und deren Flucht in Depression, die der Film vorführt, keine Haltung wären. Er fände keine Geschichte, die Amerika sich selbst erzählen müsste – als ob die Geschichte der Kriegskinder und der Medienmechanismen, das Auseinanderklaffen von Wahrheit und Mythos keine Geschichte wären. Er biete keine Psychologie, als
ob die Innenschau des Verrats, und von Menschen, die unter der Woche morden und am Sonntag mit der Familie am Frühstücktisch sitzen und in der Kirche singen, nicht hochpsychologisch wäre.
Im Mittelteil etwas zu lang bleibt der Film aber bis zum Ende faszinierend, zumal sich die Dramaturgie ständig steigert, und die letzte halbe Stunde zur stärksten des Films wird. Dabei ist dies ein Drama der Entschleunigung, noch mehr aber der Desillusionierung, das der
print-the-legend-Moral der Mediengesellschaft Widerstand entgegensetzen will. Stark erinnert der Film an Robert Altmans Buffalo Bill And The Indians. Wie der ist auch dies eine Entmythisierung der historischen Figur, die paradoxerweise, aber durchaus absichtlich selbst wieder mythisches Potential entfaltet.