Frankreich 2003 · 124 min. · FSK: ab 12 Regie: Abdellatif Kechiche Drehbuch: Abdellatif Kechiche, Ghalia Lacroix Kamera: Lubomir Bakschew Darsteller: Osman Elkharraz, Sara Forestier, Sabrina Ouazani, Nanou Benahmou u.a. |
||
Die Mädchenclique |
Eine Gruppe von Jugendlichen lebt mitten in einer jener anonymen Trabantenstädte rund um Paris. Nahezu alle von ihnen kommen aus Familien mit nordafrikanischem oder orientalischem kulturellen Hintergrund. Auch gehen alle in die gleiche Klasse. Dort probt die Lehrerin mit ihnen Szenen aus Marivaux' virtuosem Stück: »Das Spiel von Liebe und Zufall«. In einigen Wochen sollen sie gemeinsam vor dem ganzen Viertel auftreten.
Lydia sieht mit ihren blonden Locken und ihrem ebenso wachen, wie wütenden Blick wie ein aggressiver Engel der Vorstadt aus. Sie wirft sich ganz hinein in ihre Rolle. Sie geht in ihr auf und beginnt auf eine Weise zu strahlen, der sich Abdelkrim, genannt »Krimo«, nicht entziehen kann. Krimo ist Lydias Kumpel, sie kennen und mögen sich seit Jahren, aber gerade deshalb würde Krimo nie etwas mit ihr anfangen. Doch plötzlich scheint alles wie verwandelt. Er liebt Lydia. Er kann seinen Blick nicht mehr von ihr lassen. Aber Krimo ist auch cool, und will, dass die anderen Jungs ihn respektieren. Er muss sein Gesicht wahren. Wie Lydia. Ihre Freundinnen Frida und Nanou sind für sie das Allerwichtigste. Besonders Frida, die auch in der Aufführung mitspielt, fordert Lydias Disziplin und Loyalität ein, akzeptiert nicht, dass etwa »ein Typ« das Beziehungsgeflecht der Mädchen durcheinanderbringen könnte.
Regisseur und Drehbuchautor Abdellatif Kechiche gibt dem Zusammenhalt seiner Figuren großen Raum, ohne dabei zu romantisieren: Sie sind nicht immer Kumpel, es gibt heftigen Streit, Misstrauen, Missverständnisse. Trotzdem weiß jeder, wohin er gehört. Und man hält zusammen. Zugleich zeigt der Regisseur seine Figuren als Individuen. Gruppenidentität ist nicht alles, und sie ist nicht übermächtig. Allerdings funktioniert auch diese Gesellschaft nach strengen Regeln, nach klaren Verhaltencodes. Diese Regeln sind alles, worauf sich die Kids verlassen können. Das Schmiermittel von allem ist die Sprache. In wunderbarer Weise weckt Kechiche unseren Sinn für Nuancen, für Töne, fürs genaue Hinhören – selbst dann, wenn nicht jeder erkennt, welch wunderbares Französisch hier, nicht nur wenn Marivaux rezitiert wird, sondern auch in Form des Vorstadtslangs, gesprochen wird.
Die Kunst fungiert in alldem als Befreiungsakt. Hier betritt man eine neue Welt, hier scheint ein anderes Leben greifbar nahe. Kunst ist dabei für die Kids immer auch ein gangbarer und der einzig realistische Weg zu Reichtum, Berühmtheit, dazu, ein Star zu sein. Aber Kunst ist zugleich mehr: Der Weg zur Selbstentdeckung. »Leave yourself!« ruft die Lehrerin. Und genau mit diesem Satz kulminiert Krimos inneres Drama. Denn zuvor ist er über seinen Schatten gesprungen, hat sich preisgegeben, gleich zweimal. Er hat seinen Freund Rachid überredet, ihm die Rolle des Harlekin abzutreten. Jetzt wird er gemeinsam mit Lydia auftreten und Marivauxs Worte sollen seine innersten Gefühle transportieren. So raffiniert das Manöver auf den ersten Blick scheint, so schwer ist es doch für Krimo, der seit Jahren kein Buch in der Hand gehabt hat. Doch ein zweites Mal fasst er sich ein Herz: Lydias bloße Gegenwart treibt ihn in den Wahnsinn. Aber als er ihr endlich seine Liebe gesteht, zögert die verwirrte Lydia, mag sich nicht entscheiden...
»L’esquive« ist Slang und bedeutet auf Französisch ein Ausweichen mit einem negativen Akzent: Kneifen, aber auch die Zeche prellen. Das ist der Zustand, in dem sich sowohl Krimo wie Lydia befinden – einander gegenüber, aber auch im Verhältnis zu sich selbst. Die Liebe und die Kunst sind erleuchtende und erlösende Kraft, Motor der Initiation. Und die Zustandsbeschreibung gerät Kechiche zu einem Drama voller Energie. Und voller Humor. Weit entfernt von jedem Sozialpamphlet zeigt sein Film Charaktere aus Fleisch und Blut. Die komisch-traurige Geschichte hat soviel mit individuellen Problemen zu tun, wie mit sozialen und politischen Fragen.
Es ist schon ein politischer Akt, einen Film über die Vororte zu drehen, der nicht stigmatisiert, in dem es um nichts geht, was man mit diesen Orten gemeinhin verbindet: Drogen, Verbrechen, Kulturkonflikte... Damit repräsentiert der Film auch jene vorsichtige Trendwende, die seit längerem im so genannten Cinéma Beur zu beobachten ist: Die dritte Generation derjenigen, französischen Regisseure, deren Eltern oder Großeltern aus dem Maghreb kamen, stellen nicht mehr allein Identitäts-, Rassen-, und Einwanderungskonflikte ins Zentrum ihrer Filme. Wirkliche Gefahr droht vor allem außerhalb der Banlieus. Fast vergisst man die Probleme, doch das Ende des Films ist auch ein soziologisches, jedenfalls ein politisches Lehrbeispiel: Polizeiwillkür aus der Sicht der Protagonisten.
Besonders faszinierend: Das Ensemble. Lydia und ihren Freundinnen sieht man den ungebrochenen Willen zum Glück ebenso an, wie Kimo und den anderen Jungs, wie schwer es ist, ein echter Mann zu werden. Kechiche hat fast durchweg mit Laiendarstellern gearbeitet, die er in einer spontanen, direkten, schnellen Weise inszeniert, die doch immer die Leichtigkeit und das Flüchtige eines genau ausziselierten Dramas besitzt, zum Beispiel einer Komödie von Marivaux. Bis zum Ende ist L´esquive selbst ein Spiel von Liebe und Zufall. Die Kamera ist unaufdringlich, aber sorgfältig beobachtend, von beeindruckender Differenziertheit. Kechiches Kino ist weltversessen, er macht das Leben in den Banlieues zu einem alltäglichen Gefühl.
L´esquive sieht klein aus, aber er ist groß. Ein bezaubernder Film über die Liebe, das Leben und die Dinge. Und über die Liebe zur Literatur.