Deutschland/B/Kosovo 2020 · 121 min. · FSK: ab 12 Regie: Visar Morina Drehbuch: Visar Morina Kamera: Matteo Cocco Darsteller: Misel Maticevic, Sandra Hüller, Rainer Bock, Thomas Mraz, Flonja Kodheli u.a. |
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Draußen vor der Tür oder doch im Haus? | ||
(Foto: Alamode) |
Will you, or will you not, quit me?‘ I now demanded in a sudden passion, advancing close to him.
»I would prefer not to quit you«, he replied, gently emphasizing the not.
― Herman Melville, Bartleby the Scrivener
Wer sich noch an Claude Chabrols Eifersuchtsdrama DIE HÖLLE (1994) mit Emmanuelle Béart und François Cluzet erinnert, den dürften nach Visar Morinas EXIL ganz ähnliche Gefühle beschleichen. Denn beides sind Filme, die in ihrer Intensität und ihrem gnadenlosen Abtauchen in die Abgründe menschlicher Psyche so filigran wie wuchtig zugleich sind, dass man sie nicht missen, gleichsam aber nie wiedersehen möchte.
Doch anders als Chabrol mit seiner dezidiert »privaten« Problematik, der zwischen Wahn und Wirklichkeit changierenden Eifersucht, gelingt Morina dieser Grenzgang auf einem sehr anderen Gebiet, der Verschränkung von Mobbing und Alltagsrassismus, der sich der in Deutschland lebende, aus dem Kosovo stammende Pharmaingenieur Xhafer (Mišel Matičević) zunehmend auf seiner Arbeitsstelle in einem kleinen Pharmakonzern ausgesetzt fühlt. Obwohl seine deutsche Frau (Sandra Hüller) versucht, seine Gefühle zu hinterfragen, manifestieren sich seine Verdachtsmomente gegenüber seinem Vorgesetzten Urs (Rainer Bock) immer stärker, und auch die beiden Kinder, die das Paar hat, vermögen Xhafer nicht mehr zu erden, denn Morina gelingt es durch zunehmend kafkaeske Situationen, die Grenzen zwischen Wahn und Wirklichkeit weiter aufzulösen.
Doch parallel zu diesem Grenzgang inszeniert Morina eine Alltagswirklichkeit, die es in sich hat, die so düster wie realistisch ist. Dass Morina Alltag in all seinen auch düsteren Schattierungen mit wenigen Strichen hyperreal abrufen kann, hat er bereits in seinem vielfach prämierten Langfilmdebüt Babai (2015), einer Vater-Sohn-Geschichte im ländlichen Kosovo, bewiesen, doch was Morina hier gelingt, geht weit über sein Debüt hinaus. Denn mit seinem hervorragenden Ensemble, allen voran Mišel Matičević, Sandra Hüller und Rainer Bock, durchpflügt Morina nicht nur die Niederungen einer an ihre Grenzen gelangenden Ehe, sondern auch die Abgründe beruflichen Büroalltags, der in seiner Intensität und traurigen Alltäglichkeit mit seinen grotesken Hierarchien an die besten Stellen von Herman Melvilles »Bartleby« erinnert.
Doch weit mehr als eine mit dezenten Suspense-Elementen operierende Studie über Mobbing, Ehekrisen, Büroalltag und Xenophobie ist Exil vor allem auch ein Film über das, was der Titel schon andeutet: die psychisch-prekäre Seite des ewigen Exilanten. Denn Morina macht schmerzlich bewusst, dass selbst scheinbar geglückte Integration nur ein fragiler Zwischenzustand ist, dass Heimat nicht nur relativ, Fluch und Trost zugleich sein kann, sondern dass auch unbewusst herangetragene Xenophobie, sei sie subtil oder brutal, im Nu vernichten kann, was über Jahre mühsam aufgebaut wurde.
Exil zeigt aber nicht nur die externen Wirkmechanismen in ihrer kristallinen Form, sondern macht eindringlich und psychologisch sehr differenziert deutlich, wie Fremdenfeindlichkeit von den Betroffenen selbst internalisiert wird und im schlimmsten Fall autoaggressiv und selbstdestruktiv funktioniert. Diese Problematik haben wir erst kürzlich in dem US-amerikanischen Film Waves im Ringen um eine afro-amerikanische Identität beobachten können; durch Morina werden wir daran erinnert, dass wir in unserem Ringen um eine europäische Identität mit ganz ähnlichen Problemen konfrontiert sind.
Um einen Fall von Paranoia handelt es sich nicht. Denn der Briefkasten voller toter Ratten, die die Töchter des Familienvaters Xhafer eines Tages entdecken, oder der Kinderwagen, der ein paar Tage früher im Garten plötzlich in Brand gesetzt wurde, sind keine Einbildung.
Andererseits ist ziemlich früh klar, dass Xhafer zwar ein zärtlicher Familienvater ist, aber auch selber hochgradig nervös. Seine Umgebung erscheint ihm als ein bedrohlicher Schauplatz, als vermintes Terrain und Gefängnis. Kein Zweifel, dass er selbst sich Kollegen gegenüber unhöflich und ungerecht, mitunter auch extrem aggressiv verhält – so dass selbst seine Frau ihm Vorwürfe macht, er sei komplett auf seine »ach so benachteiligte Seele« fixiert und unfähig, auch mal den Standpunkt anderer einzunehmen. Xhafer macht es, vorsichtig ausgedrückt, sich selbst und anderen nicht leicht. Nur: Warum ist das so?
Zwar arbeitet Xhafer als Medizintechniker in einem guten, sicheren Job. Dort aber fühlt er sich zunehmend ausgegrenzt. Er klagt darüber, E-Mails seien nicht angekommen, Raumwechsel zu wichtigen Sitzungen seien ihm und nur ihm nicht mitgeteilt worden; er scheint zu glauben, die ganze Welt habe sich irgendwie gegen ihn verschworen – was daran ist nur Einbildung, wo handelt es sich um Tatsachen? Wird Xhafer, ein Deutscher, der aus Kosovo-Albanien stammt und Deutsch mit leichtem Akzent spricht, in seinem Job gemobbt, oder am Ende gar rassistisch diskriminiert?
Das ist die Frage, mit der dieser Film virtuos und facettenreich spielt, und die er bis zum Ende nicht eindeutig entscheidet.
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Wenn man Exil, den zweiten Spielfilm des Regisseurs Visar Morina (nach seinem Debüt Babai), auf einen einzigen Begriff bringen möchte, dann muss man wohl am ehesten von einem »Paranoia-Thriller« sprechen. Wie bei den großen Vorbildern des Genres aus der New Hollywood-Ära, etwa Coppolas The Conversation, bleibt lange im Unklaren, was der Zuschauer hier für bare Münze nehmen kann, was sich als Einbildung entpuppt, und was als Tatsache.
Zumindest kann schnell kein Zweifel bestehen, dass Xhafer in keinem guten Klima arbeitet, und dass der Tonfall unter den Mitarbeitern oft gereizt ist. Besonders mit seinem unmittelbaren Kollegen Urs scheint kein normaler Austausch mehr möglich, weil der Ton ständig offen aggressiv und von latentem gegenseitigen Beleidigtsein geprägt ist, aber auch von unausgesprochener Konkurrenz um die Gunst der Vorgesetzten.
Von denen erfährt Xhafer auch dann keine richtige Unterstützung,
oder wenigstens Verständnis, als er sich direkt über die vermeintlich ungerechte Behandlung beschwert.
Durchaus gekonnt setzt Morina verschiedene filmische Mittel ein, um die Film-Realität immer wieder subtil ins Phantastische zu überhöhen. Die Kamera Matteo Coccos begleitet Xhafer fast immer, zeigt sein Gesicht in nahen oder halbnahen Aufnahmen und verkleinert die Räume selbst im Freien ins Enge, Klaustrophobische. Auch der Einsatz der Soundeffekte ist besonders überzeugend, während der teilweise abstrakte Score Benedikt Schiefers vom Regisseur oft unnötig plakativ eingesetzt
wird.
Betont spielt das Ensemble auch unterschiedlich expressiv: Während Sandra Hüller als Ehefrau Xhafer aktiv entgegentritt und herausfordert, gelingt es Rainer Bock als Arbeitskollege Urs eine Figur auf die Leinwand zu bringen, die passiv-aggressiv auftritt, gelegentlich süffisant, und zugleich manche Abgründe erst im Laufe des Films zeigt. Hauptdarsteller Mišel Maticevic spielt den Xhafer demgegenüber betont ausdruckslos, zugleich ist dabei immer spürbar, dass hier
einer vor lauter innerem, zunehmend mühsam beherrschtem Druck seelisch kurz vorm Platzen steht.
Vielleicht aber übertreibt Xhafer die Dinge nicht nur ein bisschen? Vielleicht fehlt ihm selbst elementare Empathie – darauf kann man spätestens dann kommen, wenn man irgendwann erfährt, dass jemand ganz anderes, von dem man es nicht erwartet hätte, gemobbt wird. Auch seine Ehefrau stößt an die Grenzen ihres Verständnisses, als Xhafers berufliche Probleme zunehmend auch das Familienleben belasten. Sie findet, dass ihr Ehemann zumindest dann übertreibt, wenn er von »Rassismus« redet.
Die Ursachen für alles könnten in einem früh erlittenen Trauma liegen, denn Xhafer erlebte den jugoslawischen Bürgerkrieg. Wer weiß, was er erfahren hat? Aber wenn wir es wüssten: Was könnte das entschuldigen oder zumindest erklären?
Mit alldem sticht dieser Film mitten hinein in die Gefühls- und Empfindlichkeitsblasen unserer gegenwärtigen Debatten um alltäglichen und strukturellen Rassismus, darüber, wo dieser real und wo er nur eingebildet ist, wo jemand überempfindlich reagiert, und wo angemessen.
Denn dass das Opfer immer recht hat, nie rechenschaftspflichtig ist, scheint zwar ausgemacht in den derzeitigen Diskursen über Mobbing, Belästigung und verschiedene Diskriminierungen. Aber wer
bestimmt, wann jemand überhaupt Opfer ist? Wo es sich überhaupt um Fehlverhalten oder Schlimmeres handelt und nicht etwa um legitime Kritik an schwachen Leistungen? Das ist weit weniger klar.
Dieser Raum diffuser Unklarheiten – nicht über die Tatsache des Leidens, sehr wohl aber über den Anlass – und verschiedener Wahrnehmung ist der Schauplatz von Exil.
In einigen Szenen und Dialogpassagen mokiert sich der Regisseur über die gönnerhafte Attitüde, mit der Mehrheitsdeutsche gegenüber Minderheiten gern Anteilnahme und Interesse heucheln und vermeintlich humane Sprechweisen einüben, die in ihrer Überbetonung aber erst recht
ausgrenzen. Deutschland, so hält Xhafer einmal seiner Frau entgegen, sei ein »möchtegern-kultiviertes, zutiefst verlogenes Land.«
Eben indem der Regisseur keine klare Position bezieht, indem er eine Hauptfigur zeigt, die keineswegs auf Anhieb liebenswert ist, sondern »schwierig«, und die sich mitunter offenkundig falsch verhält, krass überreagiert, nebenbei seine Gattin mit einer Putzfrau betrügt und auch sonst Dinge tut, die sie dem Publikum in vielem eher nicht sympathisch machen, zwingt er es, die Gedanken- und Bewertungsarbeit selbst zu leisten, und die eigenen, spontan empfundenen Positionen immer wieder zu überprüfen.
Allerdings ist Exil ja kein soziologischer Filmessay über Rassismus im Deutschland des Jahres 2020 und auch kein Dokumentarfilm, sondern fiktionales Kino. Als solches hat Exil dann doch auch einige Probleme. Denn weder ist dieser Film wirklich spannend – im Gegenteil liegen spätestens nach 30 Minuten alle Perspektiven und Argumente auf dem Tisch, danach kann Exil kaum mit Überraschungen und plötzlichen Wendungen aufwarten, oder anderen dramaturgischen Kniffen, um Zuschauer dauerhaft zu interessieren. Lieber zelebriert der Film genüsslich die Redundanz von Xhafers Erleben und die langsame Eskalation seiner Situation.
Zunehmend wabert ein so allgemeines wie diffuses Schuldgefühl durch die Szenen, ohne dass nahegelegt wird, wer denn sich warum gegenüber wem schuldig zu fühlen habe. Xhafer gegenüber seiner Frau, seiner Geliebten, seiner Heimat, gegenüber Urs oder allen Kollegen? Oder umgekehrt doch diese alle gegenüber Xhafer? Oder gar das Publikum im Kinosaal gegenüber Xhafer, weil auch wir ihn nicht verstehen, nicht recht würdigen, nicht wirklich mögen? Oder die Menschen für alles bislang begangene
Unrecht? Geht es um metaphysisches Schuldgefühl, oder gar um die Erbsünde?
Möglich, dass genau solche Unsicherheit Ziel von Morinas Inszenierung gewesen ist. Auch mögen die Macher hier Anklänge an die Filme Michael Hanekes oder Ruben Östlunds im Sinn gehabt haben. Doch im Gegensatz zu jenen fehlt Exil jeder Humor, wie auch eine wirklich scharfe Gesellschaftsdiagnose, wie auch die filmische Perfektion.
So bleibt die eindrucksvolle Geschichte eines in seinem Selbstbild erschütterten Mannes. Sie speist sich ein in Debatten um »toxische Männlichkeit«, den »gestressten Mann«, wie um die »neue Sensibilität«. Etwas mehr Mut zur Parteinahme, mehr Entschiedenheit hätte Exil dabei zumindest am Ende gutgetan – anstelle des diffusen Ausplätscherns der zuvor jedenfalls dichten Geschichte. Die Feststellung, alles liege doch im Auge des Betrachters, ist da
nur eine Ausrede für Unentschiedenheit.
Wie die Vorwürfe gegen Xhafer steht vielmehr am Ende auch der ganze Film leer im Raum – das Scheitern von Verständigung wird selbst unverständlich kommuniziert.