USA 2013 · 84 min. · FSK: ab 0 Regie: John Maloof, Charlie Siskel Drehbuch: John Maloof, Charlie Siskel Kamera: John Maloof Schnitt: Aaron Wickenden |
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»Eine Art von Spion« |
Dieser Überraschungsfund erschütterte die Kunstwelt: 2007 entdeckte ein Lokalforscher in Chicago bei einer Zwangsversteigerung Tausende von meist unentwickelten Fotografien sowie Super-8- und 16mm Filme. Bald darauf wurde bekannt: Es handelt sich um das Werk von Vivian Maier, die 1926 in New York als Kind einer Französin und eines Österreichers geboren wurde, Jahrzehnte als Kindermädchen in Chicago lebte, unverheiratet und glanzlos, bei ihrem Tod 2009 verarmt.
Ihre Fotografien erzählen eine andere Geschichte: Die einer Frau, die ihr Leben in etwa 100.000 Aufnahmen festhielt, die einerseits von hoher Beobachtungsgabe zeugen, vom Talent, den Augenblick in seiner Reinheit zu fassen. Andererseits auch vom Willen zur Inszenierung. Und in denen auf sehr ironische Weise die künstlerische Persönlichkeit immer und das Element des Selbstportraits sehr oft präsent sind: In einem Schaufensterspiegel. Als Schatten.
Die Geschichte einer Individualistin, deren Menschenbild vom Existentialismus und seinen Photographen geprägt war, von Robert Frank bis Diane Arbus; die Geschichte einer Sammlerin, einer Künstlerin, deren Werk bis zu ihrem Tod unerkannt blieb und die danach zur Legende wurde.
Der Dokumentarfilm Finding Vivian Maier erzählt genau diese Geschichte. Einer der beiden Regisseure, John Maloof ist jener Lokalhistoriker, der einige Bilder Maiers zufällig bei der Auktion entdeckte. Als ihn diese Bilder nicht losließen und der photokünstlerlische Laie mehr spürte, als sicher war, etwas von größerer Bedeutung entdeckt zu haben, begann er ihr Leben zu rekonstruieren. Zusammen mit Charlie Siskel erzählt er mit dem Film jene atemberaubende Entdeckung der unbekannten Künstlerin und ihrer Meisterwerke. Wäre es nicht wahr, müsste man alles für dreiste Hochstapelei halten.
Die Filmemacher interviewen Menschen, die Maier noch kannten: Eine Freundin, und vor allem die Kinder, die von ihr betreut, und oft am Nachmittag oder Wochenende mit auf ihre Phototouren geschleppt wurden. Diese Zeitzeugen malen das Bild einer so scheuen, wie skurrilen Persönlichkeit: »She lived on the third floor in our attic. This was the forbidden zone« ... »Mysterious. She said: Dont ever open this door to her room.«
Vor allem aber versucht der Film, das ungewöhnliche Werk dieser Frau zu fassen.
In dem sie sich selbst als Photographin entwarf, gab sie ihrem Leben einen Sinn. Es ging Maier erkennbar nicht um Ruhm, äußere Anerkennung oder auch nur den persönlichen heimlichen Genuß ihrer Ergebnisse.
Das sieht man schon daran, dass sie einen Großteil ihrer Bilder und Filme nie entwickelte. Es ging um das Tun selbst. So, wie es dem Flaneur ums Gehen geht, nicht ums Ankommen, so schuf sie – fast ein wenig manisch – ein Bilder-Tagebuch. Aber eines, das nicht aus Schnappschüssen besteht, sondern aus ausgeklügelten Kompositionen.
So wird dieser Film zu einer Reise in die Geschichte der Photographie und damit in unsere eigene Geschichte. Einer Reise in jene Zeit, als sich das Leben der Menschen noch auf der Straße abspielte, auf Plätzen, als öffentliche Orte noch nicht gentrifiziert und nach Milieus aufgeteilt waren, sondern wo die Klassen aufeinandertrafen; Zeiten in denen reiche Frauen Pelzmäntel trugen und arme Frauen Kopftücher. Das Lebensgefühl dieser verlorenen Zeit durchtränkt Maiers Bilder.
Schließlich stellen Maloof und Siskel noch eine weitere, wichtige Frage: Wie befriedigend, wie erfüllend und wie relevant ist ein künstlerisches Tun ohne Betrachter, ohne öffentliche Resonanz?
Das Schicksal Vivian Maiers verkörpert auch den Traum vom wahrgewordenen postumen Ruhm. Wie viele Vivian Maiers mag es noch geben? Was harrt noch da draußen seiner Entdeckung? Die Geschichte von Finding Vivian Maier ist keineswegs traurig. Denn Maier wählte ein Leben im Unscheinbaren, Verborgenen. Ihre Bilder erzählen aber auch eine Geschichte der erfüllten Augenblicke – die Vivian Maier mit ihrer Rolleiflex verewigte.
Filme über berühmte Künstler gibt es wie Sand am Meer. Schließlich sind jene für Dokumentarfilmer ein dankbares Objekt. Der Künstler liefert außergewöhnlichen Bilder, die nur noch abgefilmt werden müssen. Doch die stille Hoffnung, dass vom Genie des Künstlers ein Funke auf die Person des Filmemachers überspringt, erfüllt sich in der Regel nicht. Eine seltene Ausnahme ist Henry-Georges Clouzots grandiose Live-Dokumentation Le mystère Picasso. Aber die ist erstens bereits von 1956 und zweitens war Clouzot selbst ein genialer Filmemacher. – Letzteres sieht man auch daran, dass es mit Die Hölle von Henri-Georges Clouzot inzwischen eine Dokumentation zu dem gescheiterten größten Projekt des französisches Filmemachers gibt...
Doch John Maloofs Dokumentation Finding Vivian Maier bildet eine Kategorie für sich. In ihr erzählt der Bilderbuch-Nerd Maloof wie er durch Zufall das bis dahin völlig unbekannte Werk einer der größten Straßenfotografinen des 20. Jahrhunderts entdeckt. Erst durch den Willen über diesen Fund zu berichten wurde der damalige Immobilienmakler und Hobbyhistoriker überhaupt zum Dokumentarfilmer. Finding Vivian Maier ist nicht bloß eine weitere Künstler-Dokumentation, sondern ein Film, der eine ganz unglaubliche Geschichte erzählt – und diese ein Stück weit selbst erst erschafft – welche die Qualitäten eines guten Krimis und eines Märchens vereint.
2007 ist John Maloof Teil einer Privatinitiative, die ein Buch über die Geschichte des Viertels in Chicago erstellt, in dem er selbst aufgewachsen ist. Da Maloof passendes Bildmaterial fehlt, ersteht er auf einer Auktion für 380 $ eine Kiste voller alter Kamera-Negative. Die Bilder erweisen sich für seinen Zweck jedoch als unbrauchbar und verschwinden schnell in einer Ecke seines Zimmers. Aber als das Buch fertig ist, schaut sich Maloof das Material noch einmal genauer an. Nach eigener Aussage dauert es „einige Monate“, bis dem Laien langsam dämmert, was für einen verborgenen Kunstschatz er entdeckt hat. – Er findet in der Kiste auch einen Hinweis darauf, dass der Name der unbekannten Fotografin Vivian Maier ist. Aber als Maloof diesen googelt, gibt es keinen einzigen Treffer, womit die Geschichte zunächst bereits wieder beendet ist!
2009 stößt Maloof schließlich auf einen Nachruf zu einer Vivian Maier. Über Nachforschungen findet er eine Person, welche diese Vivian Maier persönlich gekannt hat und besucht diese. Dieser Besuch ist der erste Stein einer Dominokette an deren Ende Maloof mit über 100 Personen gesprochen haben wird, die Vivian Maier gekannt haben. Zudem erwirbt er bei der Haushaltsauflösung der Verstorbenen deren gesamten persönlichen Besitz. Neben Unmengen an Kleidung und unglaublichen Ansammlungen an Dingen wie Fahrkarten, finden sich darunter über 100.000 weitere Negative. Aber nicht nur die überwältigende Menge an Fotos, die Vivian im Laufe ihres Lebens geschossen hat, ist verwirrend: Hinzu kommt, dass sie kaum je eines entwickelt, geschweige denn einem anderen Menschen gezeigt hat. Sie war zudem keine professionelle Fotografin, sondern arbeitete zeitlebens als Nanny und als Haushälterin in New York und in Chicago.
Warum hat diese hochbegabte Fotografin ihre Fotos nicht selbst der Welt zugänglich gemacht und sie stattdessen unentwickelt in ihrem Zimmer gehortet? – Jede Entdeckung in Finding Vivian Maier wirft neue Fragen auf. Außerdem verstehen John Maloof und sein Co-Regisseur Charlie Siskel (der Produzent von Michael Moores Bowling for Columbine) es hervorragend den an sich bereits spannenden Stoff dramaturgisch so geschickt aufzubereiten, dass der Zuschauer mehr ins Nägelkauen, als bei vielen Thrillern kommt. Maloof rückt sich dabei gerne selbst in den Mittelpunkt. Das ist jedoch berechtigt, da seine Rolle weit über das Zusammentragen bekannter Fakten hinausgeht:
Maloof ist hier Detektiv, Dokumentarfilmer, Entdecker und Kurator in Personalunion. – Zunächst lädt er Vivian Maiers Arbeiten in einem Blog hoch. Als die Fotos dort begeisterte Reaktionen hervorrufen, versucht er ein Museum für das Werk dieser neuentdeckten Straßenfotografin zu interessieren. Es findet sich jedoch keine offizielle Kulturinstitution, die sich der Arbeiten einer unbekannten Künstlerin annehmen will. Deshalb nimmt Maloof die Dinge erneut in die eigene Hand. In Zusammenarbeit mit verschiedenen Galerien veranstaltet er Ausstellungen von Vivian Maiers Fotos, welche inzwischen um die ganze Welt gehen. – Dies ist einer der raren Fälle, in denen ein Dokumentarfilmer nicht nur völlig neue Fakten aufdeckt, sondern darüber hinaus vom Beobachter zum Akteur wird, selbst in die Wirklichkeit eingreift und dort nachhaltige Veränderungen in die Wege leitet.
Aber obwohl Vivian Maiers Fotos jetzt aus der Dunkelheit an das Licht gelangen, bleibt Vivian als Mensch unscharf und rätselhaft. All die interviewten Personen, welche sie persönlich kannten, zeichnen ein sehr widersprüchliches und rätselhaftes Bild von ihrer Person. Mal erscheint Vivian als äußerst kinderlieb, liebenswürdig und hilfsbereit. Dann wieder wird sie als sehr grob und sogar als sadistisch beschrieben. – Obwohl Vivian zumeist in einem Zimmer im Haus der von ihr betreuten Kinder wohnte, blieb ihr Privatleben stets ihr persönliches Geheimnis. – Als eine Arbeitgeberin einmal Vivians Zimmer zu betreten wagte, fand sie dort Unmengen an gestapelten Zeitungen, unter deren Last sich bereits die Decke bog. Dabei interessierte sich Vivian besonders für Berichte über Morde und ähnlich morbide Themen. Auch in ihren Fotos hielt sie mit Vorliebe Randgestalten der Gesellschaft fest und besuchte zu diesem Zwecke oft zusammen mit den von ihr betreuten Kinder die unterprivilegierten Gegenden der Stadt.
Vivian Maier bleibt ein Mysterium. Sicher ist nur, dass sie ein sehr gutes Auge für Bildkomposition und für kleine Details hatte. Um jederzeit für einen möglichen Schnappschuss bereit zu sein, trug sie stets ihre Kamera mit sich und kannte keinerlei Bedenken in jeder Situation auf den Auslöser zu drücken. Zugleich versuchte Vivian ihre eigene Identität dadurch zu verschleiern, dass sie ihren Nachnamen in allen möglichen Varianten von „Maier“ schrieb und bezeichnete sich selbst als „eine Art von Spion“.