Frantz

F/D 2016 · 114 min. · FSK: ab 12
Regie: François Ozon
Drehbuch:
Kamera: Pascal Marti
Darsteller: Paula Beer, Pierre Niney, Ernst Stötzner, Marie Gruber, Johann von Bülow u.a.
Dicht, präzise, traumwandlerisch

Europa bewahren

Warum nur gerade jetzt einen Film über den 1. Weltkrieg und seine Folgen, jetzt da die wich­tigsten 100-Jahr-Feiern begangen worden sind, etliche Filme wie Russel Crowes Water Diviner bereits erfolg­reich platziert wurden und keiner eigent­lich mehr so recht was damit zu tun haben will, da es mit histo­ri­schen Jubiläen inzwi­schen ja so ist wie mit lite­ra­ri­schen Neuer­schei­nungen; drei Monate, dann rappelt in der feuil­le­to­nis­ti­schen ADHS-Kiste nichts mehr und das Thema ist vom Tisch? Und nicht nur das, sondern auch noch ein Remake eines Ernst Lubitsch-Films, dessen Filmen auch nach vielen Jahren nur selten noch etwas hinzu­zu­fügen ist.

Doch so plötzlich dieser Gedanke in einem zu nagen beginnt, so langsam, aber ausschließ­lich löst er sich auch wieder auf. Denn François Ozon trans­for­miert in Frantz nicht nur die in Lubitschs Broken Lullaby ins Zentrum gestellten Schuld­ge­fühle eines fran­zö­si­schen Soldaten, der nach dem Krieg nach Deutsch­land fährt, um die Frau und die Eltern des von ihm erschos­senen Soldaten Frantz zu besuchen und ihn – ohne das die Betei­ligten um seine Täter­schaft wüssten – zu »ersetzen«; sondern er verändert auch die Perspek­tive und erweitert Maurice Roustands Thea­ter­stück, auf das Lubitsch Film 1931 basierte, auch inhalt­lich gravie­rend.

Nun ist es vorder­gründig Anna (Paula Beer) und nicht Adrien (Pierre Niney), aus deren Perspek­tive Adriens Besuch erzählt wird. Und mit seiner zuneh­menden Präsenz Annas Denken und Fühlen ins Wanken bringt Frantz. Diese Übergänge, das auch sprach­liche Oszil­lieren zwischen Deutsch und Fran­zö­sisch und die schau­spie­le­ri­sche Finesse, mit der diese Entwick­lung plastisch wird, macht Frantz an sich schon zu einem unge­wöhn­lich sehens­werten Film. Mehr noch, als in dieser Entwick­lung  wohltuend Ozons Vorliebe für unein­deu­tige Prosa mit einfließt, so, wie er sie etwa schon In ihrem Haus oder in 5x2 durch­ge­spielt hat. Doch da Frantz durch den histo­ri­schen Kontext unwei­ger­lich auch ein poli­ti­scher Film sein muss, wird schnell deutlich, dass Ozon nicht nur die Lüge Adriens seinen Schuld­ge­fühlen vorzieht, sondern sie im Laufe des Films immer mehr mit den poli­ti­schen Lügen verwebt, die zum Krieg geführt haben und die bereits erneut am Keimen sind, um den nächsten Krieg zum »Blühen« zu bringen.

Diese Grat­wan­de­rung Ozons zwischen persön­li­chen und gesell­schaft­li­chen Lügen, ein inhalt­li­ches wie formelles, verschwie­genes und undurch­dring­li­ches Schlin­gern, bleibt auch im zweiten, »hinzu­ge­fügten«, von Ozon neuge­schrie­benen Teil, im Zentrum des Plots. Anna begibt sich nach Frank­reich und stößt dabei – ohne es Recht zu wollen – nicht nur auf »Frantz« ambi­va­lentes Leben im Paris der Vorkriegs­zeit.

Ozon wechselt damit jedoch nicht nur von der deutschen Provinz nach Paris und dann die fran­zö­si­sche Provinz, changiert nicht nur zwischen Mikro- und Makro­per­spek­tive, sondern auch zwischen Farb- und Schwarz­weiß­film. Diese Übergänge, die aus der Not eines knappen Budgets geboren wurden, erzielen jedoch viel­leicht noch mehr als aufwen­dige Rekon­struk­tionen histo­ri­schen Materials, genau das, was Ozon will: Eine fast unheim­liche Histo­ri­sie­rung, die allein durch unser schwarz­weißes Erinnern dieser entfernten Vergan­gen­heit funk­tio­niert. Also nichts anderes, als eine weitere, wohl­tu­ende „Lüge“.

Ozon macht damit nicht nur unauf­dring­lich deutlich, wie ambi­va­lent Lügen benutzt werden können, wie sehr Lebens­li­nien und nationale Befind­lich­keiten glei­cher­maßen mani­pu­liert werden. Denn der eigent­liche Subtext dieses wunderbar dichten, präzisen und dann wieder fast traum­wand­le­ri­schen Films, ist bei aller Ambi­guität etwas völlig Eindeu­tiges – und ein kaum zu über­tref­fender Kommentar zu den gegen­wär­tigen rechts­po­pu­lis­ti­schen Angriffen auf die Idee eines vereinten Europas: das von Ozon gezeich­nete Europa der Zwischen­kriegs­zeit ist so sehr unheim­li­cher Zerr­spiegel unserer Gegenwart, das Frantz einem poeti­sches Manifest gleicht, einem Manifest, dass nur allzu deutlich daran erinnert, wie destruktiv die Struk­turen waren, die Europa über­wunden hat und das, was wir statt­dessen geschaffen haben schätzen sollten statt im Zuge banalsten histo­ri­schen Verges­sens plötzlich wieder Ideen zu hofieren, die unwei­ger­lich in einen erneuten Zyklus der Zers­tö­rung führen würden.

Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn

»Die Redlich­keit würde den Ekel und den Selbst­mord im Gefolge haben. Nun aber hat unsere Redlich­keit eine Gegen­macht, die uns solchen Konse­quenzen auswei­chen hilft: die Kunst, als den guten Willen zum Scheine. ...wir brauchen alle über­mü­tige, schwe­bende, tanzende, spottende, kindische und selige Kunst, um jener Freiheit über den Dingen nicht verlustig zu gehen, welche unser Ideal von uns fordert. ... Es wäre ein Rückfall für uns, gerade mit unsrer reizbaren Redlich­keit ganz in die Moral zu geraten ... Wir sollen auch über der Moral stehen können: und nicht nur stehen, mit der ängst­li­chen Stei­fig­keit eines solchen, der jeden Augen­blick auszu­gleiten und zu fallen fürchtet, sondern auch über ihr schweben und spielen! Wie könnten wir dazu der Kunst, wie des Narren entbehren?«
Friedrich Nietzsche: »Die Fröhliche Wissen­schaft«, *˜ 107

»Qued­lin­burg 1919« sagt die Schrift zu Beginn des Films. Ein Treffen über Gräbern. Ein junger Mann kommt auf einen Friedhof, in Deutsch­land kurz nach dem Ersten Weltkrieg. Dort liegen auch einige der Soldaten, die in den Mate­ri­al­schlachten der Jahre zuvor getötet wurden.

Der junge Mann heißt Adrien und ist Franzose, und doch besucht er ein bestimmtes Grab, trauert dort um einen Deutschen, der kurz zuvor noch sein Feind war. So lernt er Anna, die junge Verlobte des Toten kennen. Sie sprechen über den jungen Mann, den auch Adrien offenbar aus Vorkriegs­zeiten kannte, erzählen sich von ihm. Frantz – der Filmtitel bezeichnet jenen Toten, um den hier alles kreist: Das Reden, das Denken, das Fühlen, und wie sich heraus­stellt, sogar das Handeln der Lebenden. Er steht zwischen beiden verbindet sie aber auch.

Anna lädt Adrien zum Abend­essen ein, in jenes Haus, in dem sie bei den Eltern ihres gefal­lenen Verlobten lebt. Adrien lernt so Frantz' Familie kennen, er erzählt, dass er Frantz vor dem Krieg bei seinem Parisauf­ent­halt kennen­lernte, und berichtet von einem gemein­samen Besuch im Louvre: »Wir standen lange vor Manets Gemälden. Ich erinnere mich: Er mochte eines besonders. Das Bild eines jungen blassen Mannes, mit dem Kopf nach hinten.« Es ist Manet’s Gemälde »Der Selbst­mörder«.

Diese Erzäh­lungen aus den Monaten von Frantz' Parisauf­ent­halt – die der Film auch visuell zum Leben erweckt – machen den Verstor­benen wieder ein wenig lebendig, und trösten die Hinter­blie­benen zumindest ein bisschen über den Verlust hinweg. Ein Licht­blick, zunehmend auch für die junge Frau.
Was genau Adrien aller­dings mit Frantz verbindet, muss Anna und mit ihr das Publikum erst noch heraus­finden.

Dies ist ein Film über Trauer und ihre Verar­bei­tung, ein Emoti­ons­thriller. Und es ist ein Film über Frank­reich und Deutsch­land, die beiden Ländern Kern­eu­ropas die im Mittel­alter einmal eins waren, dann sich entfrem­deten, einander bekriegten und sich »Erbfeinde« nannten. Der Film erzählt davon, dass es jenseits solcher Propa­ganda enge fran­zö­sisch-deutsche Bezie­hungen lange vor Adenauer und De Gaulle, lange vor dem Ersten Weltkrieg gab. Da war nicht nur Heinrich Heine und später Heinrich Mann. Da war die Liebe der Deutschen für die Texte von Baude­laire, Proust, Verlaine, die Musik von Chopin, für die Bilder von Manet. Und umgekehrt die Liebe vieler Franzosen für Wagner, Nietzsche und Rilke.
Dass es die Schönheit ist, die der Kunst vor allem, aber auch die der Natur, die der Menschen, die das Beste im Menschen hervor­bringt und sie mitein­ander verbindet – diese Einsicht ist die Basis von Frantz. Ozon ist überzeugt von der Macht der Phantasie, dem Potential der Kunst, die Welt erträg­li­cher, und wieder bunt zu machen.

Ausge­rechnet in unseren Zeiten, in denen die fran­zö­sisch-deutsche Freund­schaft und das Europa, das aus ihr erwuchs, manch' harter Probe ausge­setzt ist – und die härtesten dieser Proben dürften uns erst noch bevor­stehen – ausge­rechnet jetzt hat Francois Ozon, einer der wich­tigsten fran­zö­si­schen Filme­ma­cher, einen Film in Deutsch­land gedreht, der auch ein Film über Deutsch­land ist.

Frantz erzählt auch vom über­ra­schend bösen Fran­zo­sen­hass, von Revan­chismus in breiten Kreisen Deutsch­lands in der ersten Hälfte des 20. Jahr­hun­derts. Und von einer deutschen Nach­kriegs­ge­sell­schaft, die vor allem verbit­tert und selbst­mit­leidig ist, in der der Natio­nal­so­zia­lismus im Keim bereits wächst.
Hier, in diesem Film, geht es aller­dings um das Verbin­dende, um Annähe­rungen zwischen beiden Seiten.

So dreht sich irgend­wann die Perspek­tive, weg von Frantz, weg von Adrien, der nach Deutsch­land gekommen ist, weil er Vergebung sucht, und hin zu Anna, die irgend­wann nach Frank­reich reist, weil sie dort die Liebe sucht. Da wird der Film zum Melodram, in dem es um die Selbst­ent­fal­tung einer jungen Frau geht, um ihren Bildungs- und Eman­zi­pa­ti­ons­prozeß, um die Zukunft nach einem trau­ma­ti­schen Krieg.

Ozons Mittel sind dabei eine konzen­trierte Schwarz-Weiß-Bild­sprache, eine zentrale, die Gefühle lenkende Musik, und eine kluge Drama­turgie, die bis zum Ende nicht alles enthüllt, vieles bewusst offen lässt.

Frantz ist nicht zuletzt eine Geschichte der Täuschungen, ohne die es auch keine Kunst gäbe. Denn was man früh ahnt, wird irgend­wann Gewiss­heit: Adrien hat nicht in allem die Wahrheit erzählt. Aber er ist damit nicht der Einzige. Und so ist Frantz – nicht zum ersten Mal bei Ozon – ein Lob der Lüge, der guten, gütigen Lüge, der Lüge, die tröstet, ein Lob der Lüge, die weiter­leben lässt, der heilsamen Lüge.

Ozon mach ein paar Anleihen an Hitch­cocks Suspen­se­kino, zugleich ist sein Film ein loses Remake eines frühen Films des großen Ernst Lubitsch: Broken Lullaby.

Wenn man etwas kriti­sieren könnte an diesem Film, dann ist es nur, dass der Film zu klug, zu geschmeidig, sich zu sehr seiner Mittel und seines Könnens bewusst ist.

So oder so ist das Frantz aber ein kluger, facet­ten­rei­cher, alles in allem hervor­ra­gender Film, der in der Vergan­gen­heit die Gegenwart findet.