Deutschland/Slowakei 2017 · 103 min. · FSK: ab 12 Regie: Jan Speckenbach Drehbuch: Andreas Deinert, Jan Speckenbach Kamera: Tilo Hauke Darsteller: Johanna Wokalek, Hans-Jochen Wagner, Inga Birkenfeld, Ricky Watson, Georg Arms u.a. |
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Ein ungewöhnlicher, intensiver Film |
»Wenn ich mir was wünschen dürfte, käm' ich in Verlegenheit...« – es ist die Stimme Marlene Dietrichs, unverkennbar auf einer Aufnahme in späteren Jahren, die plötzlich erklingt. Friedrich Hollanders Lied über das »Heimweh nach dem Traurigsein«, das die Dietrich bis zum Schluss immer wieder gern auf ihren Konzerten anstimmte, sang sie zuerst gegen Ende der Weimarer Republik, in Robert Siodmaks »Der Mann, der seinen Mörder sucht«, in dem ausgerechnet Heinz Rühmann einen
selbstmordgefährdeten Angestellten spielt.
Der Berliner Regisseur Jan Speckenbach hat den melancholischen Song jetzt ausgegraben, und unterlegt seinen zweiten Film (nach Die Vermissten) an entscheidender Stelle damit. Freiheit könnte auch den alternativen Titel tragen: »Die Frau, die ihren Mörder sucht«.
Johanna Wokalek spielt hier Nora, eine Anwältin, die von einem auf den anderen Moment alles hinter sich lässt: Mann, zwei Kinder, den hochbezahlten Job und das gute Leben in Berlin. Sie tauscht es ein gegen ein prekäres Driften in eine imaginäre Nebelwinterlandschaft zwischen Wien und Bratislava. Eigentlich weiß man schon von Anfang an, worauf es hinaus läuft, wenn man die Donau sieht, die wie der Totenfluss »Lethe« aussieht, wenn Nora im Wiener Kunsthistorischen Museum Breughels »Turmbau von Babel« ansieht und dann »Orpheus und Eurydike«, wenn immer wieder aus dem Off Purcells Dido die suizidale Erinnerungs-Arie »Rember Me« anstimmt.
Die Musik des Films ist großartig, wenn sie auch gelegentlich zu deutlich als Kommentar oder Intensitätsverstärker eingesetzt ist – andererseits passt das, denn um Intensität, die Suche nach ihr und die Angst vor ihr, geht es in Freiheit.
Kaum zufällig heißt diese Figur Nora – wie in dem Theaterstück von Ibsen »Nora oder Ein Puppenheim«. Der Fim erzählt diese Story gewissermaßen weiter: Was ist eigentlich mit dieser Nora, wenn sie die Tür zuschlägt, und ihr Heim endgültig verlässt – so endet Ibsens Stück ja.
Freiheit fängt eigentlich fast genau an diesem Punkt an – nur im Rückblick erfahrt man ein bisschen etwas über das Gehen, das Leben davor, noch wichtiger aber: Über das Leben der restlichen Familienmitglieder.
Ibsens Nora war ja eine moderne Frau, eine Revolutionärin. Was ist die Nora in Freiheit? Speckenbachs Nora ist auch mutig, aber anarchistischer. Sie ist erfüllt vom Auflehnen gegen das
Gegebene, das wir alle kennen. Sie steckt in einem Käfig und muss aus diesem Käfig raus. Viele, nicht nur Frauen und Mütter kennen dieses Gefühl. Der einzige Unterschied ist, dass Nora daraus Konsequenzen zieht. Dass sie diesem Gefühl nachgibt, und sich davontreiben lässt.
In Bildern, die die düstere Pracht einer modernisierten schwarzen Romantik mit beiläufigem, klug gesetztem sozialem Kommentar vereinen, parallelisiert Jan Speckenbach Noras einsame Reise, ihr Warten ohne Ziel mit dem Weiterleben ihres Mannes Philip (wunderbar zwischen Saturiertheit und Zerbrechen gespielt von Hans Jochen Wagner) und der Kinder.
Der Film ist eine große Leistung. Zum einen, weil er unter schwierigen Bedingungen mit wie üblich zu geringer Finanzausstattung entstand – offenbar scheuten manche Geldgeber vor diesem unorthodoxen Mutterbild zurück.
In Deutschland herrscht immer noch der Muttermythos, eine einseitige Verklärung und Idealisierung der Mutter – andere Verhaltensweisen gibt es zwar, sie wird aber Frauen nicht zugestanden. Aber Nora hat weder einen schlechten Charakter, noch ist
sie verrückt.
Jan Speckenbachs Freiheit steht all seinen Figuren zur Seite und verrät sie nie, auch nicht wenn es schwer wird – ohne Frage ist dies ein Film, der das Niveau, das man vom deutschen Kino gewohnt ist, klar überschreitet.