Deutschland 2018 · 74 min. · FSK: ab 6 Regie: Andreas Goldstein Drehbuch: Andreas Goldstein Kamera: Jakobine Motz Schnitt: Chris Wright |
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Keineswegs nur eine private Geschichte... |
»Als mein Vater zwei Jahre alt war, überfiel das deutsche Heer Belgien, der 1. Weltkrieg begann. Als er sechs war, brach das Kaiserreich zusammen. Mit siebzehn sah er vor dem Fenster der elterlichen Wohnung einen erschossenen Arbeiter auf der Straße liegen. Er trat in den kommunistischen Jugendverband und später in die kommunistische Partei ein. Nach 1933 illegale Arbeit, bis *L45 in Berlin. Dann machte er im sozialistischen Deutschland Karriere, Abstürze inbegriffen.
Schließlich verschwand das Land.
Der erste Tote, den ich sah, war mein Vater. Seitdem erscheint er nachts in meinen Träumen.« – das Genre der Filme »über den Vater« ist ein schwieriges Genre. Meistens sind es Söhne, die sich an ihrem Erzeuger abarbeiten. So auch hier.
Der Berliner Regisseur Andreas Goldstein, erst vor ein paar Monaten für den schönen, gleichfalls sehr ungewöhnlichen Spielfilm Adam und Evelyn gefeiert, hat keinen einfachen Vater: Denn dies war der DDR-Kulturfunktionär Klaus Gysi (1912 geboren, gestorben 1999). Der Politiker und Anwalt Gregor Gysi ist der Bruder Goldsteins, der nach der Trennung der Eltern bei seiner Mutter aufwuchs.
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Zunächst ist das Schicksal Gysis eine typische Biographie eines deutschen Künstlers und Intellektuellen: Ein deutscher Jude, die Urszene des Anblicks eines toten Arbeiters, das Exil, die Ermordung der Juden, die Heimat in der Partei, der er als Verlagsleiter, Kulturminister, Botschafter, und Staatssekretär für Kirchenfragen diente. Der Sohn beschreibt die Fähigkeiten des Vaters: »Sich einstellen, ansprechen, die entscheidende Stelle treffen – das Vokabular einer
Verführung. Ein Handwerk gelernt unter den Bedingungen der Illegalität ... als sei der Aufbau des Sozialismus eine Erziehungsaufgabe, kein Prozess konfliktreicher Auseinandersetzung.«
In solchen Passagen ist Der Funktionär das Zwiegespräch mit einem Toten, einem sehr nahestehenden überdies.
Im Rückblick hat Gysi einen schillernden und nicht sehr guten Ruf: »Einen der Wendigsten«, nannte ihn, erkennbar noch respektvoll, Heiner Müller. Ausgerechnet Stephan Hermlin soll ihn als einen »Opportunisten der schlimmsten Sorte« bezeichnet haben. Im Westen schrieb hingegen Marcel Reich-Ranicki eher wohlwollend, Gysi sei stets »ein Intellektueller geblieben«.
Der Sohn selbst nennt den Vater, schon im Titel: »Funktionär«. Für ihn habe das Wort nichts Diskreditierendes, sagt der Regisseur. Die Frage sei eher, was für ein Funktionär er gewesen war.
Das Hauptinteresse des Films gilt der Politik und der Gesellschaft, und dem Versuch, eine Gesellschaftsordnung zu gründen, in der »Geist und Macht voll übereinstimmen«, wie Gysi es selbst nannte:
»Wissen Sie, ich habe mal ‘45 angefangen mit der Idee: Sozialismus, das ist eine Gesellschaftsordnung, in der Geist und Macht, Geist als Synonym für alle Wissenschaften und Künste und Macht voll übereinstimmen.«
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Knapp 20 Jahre nach dessen Tod ist dies ein sehr persönlicher Film über den Vater geworden – über einen Mann, den er als Kind nur in kurzen Momenten erlebt hat und der auch noch für den erwachsenen Sohn voller Widersprüche bleibt.
Goldsteins Film ist ein auto-biographischer Essay, randvoll mit Archivmaterial, Fotos, Berichten des DDR-Fernsehens, einem langen Interview, das Günter Gaus einst nach dem Zusammenbruch der DDR fürs Fernsehen mit Gysi geführt hat.
Der Regisseur erzählt also keineswegs nur eine private Geschichte, sondern er versucht auch, 30 Jahre nach dessen Ende, eine Neubewertung und -Betrachtung jenes Staates, dem sein Vater sein Leben gewidmet hat, und aus dem der Sohn selbst stammt.
Der Film ist uneitel und genau, unaufgeregt und klug, ehrlich und persönlich. Natürlich kann man fragen, ob es richtig ist, dass der Regisseur sich selbst, das eigene Leben, die eigenen Kindheitserinnerungen hier immer wieder einbaut. So vermischt sich der Vater mit dem Kommunisten und Funktionär. Aber anders schien es nicht zu gehen.
Dieser Film ist das Mosaik eines Lebens, nicht das Leben der Anderen, sondern des eigenen, heute, mit der Vergangenheit.
Und es ist der klügste, und schönste Beitrag zur Erinnerung an den Mauerfall vor 30 Jahren – ein Film quer zu all der schmierigen Erinnerungs- und Wiedervereinigungspoesie, die in diesem Jahr aus allen Ecken quillt.
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»Die Not diese Geschichten zu erzählen erwächst nicht aus der Vergangenheit, sondern aus der Gegenwart. Heute werden die Konflikte der DDR dramatisiert und durchweg auf den Gegensatz von Freiheitswillen und Repression reduziert. Sie bilden dabei weniger die DDR ab, als vielmehr eine Gegenwart, die sich selbst legitimieren muss und nun in diesen Erzählungen als Erlösung erscheinen kann. Von einem Kommunisten erwartet man, im Gegensatz zu einem Bankdirektor, Ideale. Und dass er an
ihnen scheitert, besser noch zugrunde geht. Schicksale, die man einem Bankdirektor nicht verzeihen würde. Der gute Kommunist ist eine tragische Figur, der beste eine Leiche.«
(Andreas Goldstein)
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Der Funktionär ist ein ganz ausgezeichneter, unbedingt sehenswerter, spannender und wunderbar gemachter Film.
Nur an einer Stelle möchte man dem Regisseur Andreas Goldstein widersprechen und würde gern mit ihm weiter diskutieren: »Wir würden Fragen nach der Legitimität unserer gegenwärtigen Existenz abweisen. Wie kommen wir eigentlich dazu, sie immerzu an die Vergangenheit zu richten?«
Würde man das wirklich? Begleitet nicht uns alle ständig diese Frage nach der Legitimität unserer Existenz, klassisch formuliert: Nach dem Sinn des Lebens?
Oder habe ich das falsch verstanden?