Deutschland/Ö 2023 · 116 min. · FSK: ab 12 Regie: Hans Steinbichler Drehbuch: Ulrich Limmer Kamera: Armin Franzen Darsteller: Stefan Gorski, August Zirner, Andreas Lust, Julia Franz Richter, Robert Stadlober u.a. |
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Die Möglichkeit von Glück... | ||
(Foto: Tobis) |
»Ich habe niemanden, aber alles was ich brauche. Wenn ich nicht so müde wäre, könnte ich lachen vor reinem Glück« – Andreas Egger in der Verfilmung von Ein ganzes Leben
Es ist einer der ganz großen Erfolge der deutschsprachigen Literatur. 2014 erschienen, wurde Robert Seethalers Roman Ein ganzes Leben in über 40 Sprachen übersetzt und stand auf der Shortlist für den International Booker Prize. Das dürfte nicht nur an der archaischen und fast schon lakonischen Sprache Seethalers liegen, der, einem Bildhauer gleich, mit jedem Satz soviel Stein abzutragen scheint, bis die Essenz von Wort und Sinn sichtbar wird und ein ganzes Leben Platz auf 160 Seiten hat. Nein, es dürfte vor allem daran liegen, dass Seethaler in fast schon biblischer Universalität hier eine Geschichte erzählt, die jeder auf der Welt versteht. Es ist eine Geschichte der Veränderung, die wohl jeder begreifen, aber kaum einer verstehen kann; es ist der Wandel von der Tradition in die Moderne, wie ihn auch Oskar Maria Graf schon in seinem Leben meiner Mutter beschrieben hat, der Transformation einer bäuerlichen Welt in eine, in der die Werte der bäuerlichen Welt kaum noch eine Bedeutung haben.
Um diesen radikalen Wertewechsel mit all den Verlusten spürbar zu machen, die die Moderne mit sich bringt, begibt sich auch Seethaler in die Berge und damit auch die Verfilmung von Hans Steinbichler, der schon nach seinem Erfolg mit Winterreise (2006) mit Seethaler zu tun hatte, als er nach einem Drehbuch von Seethaler Die zweite Frau in die Kinos brachte.
Diese frühe »Beziehung« scheint sich auszuzahlen, denn Steinbichler gelingt es mit seinem Drehbuchautor Ulrich Limmer Seethalers Roman adäquat in filmische Sprache zu überführen. Dafür wird die Chronologie des Romans ein wenig angepasst – wird die Hörnerhannes-Szene, die Begegnung von Andreas Egger (Stefan Gorski) mit einem alten Ziegenhirten, in die Mitte platziert, um dadurch auf die Sprachlosigkeit und Grausamkeit einer Kindheit und Jugend in der bäuerlichen Bergwelt zu fokussieren, in der das Schlagen eines Kindes nicht nur religiös sanktioniert wird, sondern nicht einmal verbal aufgefangen wird. Es ist eine Kindheit und Jugend ohne Sprache, die auch erklärt, dass Egger erst in späten Tagebucheinträgen zumindest schriftlich über sein Leben schreiben können wird, ohne dabei jedoch wirklich zu verstehen, dass es auch die mächtigen Kräfte einer so gnadenlosen wie heilsbringenden Moderne sind, die sein Leben am Ende erträglicher machen, als es seine Kindheit noch war. Dabei fallen in der Verfilmung zwar ein paar Details weg, wie etwa Eggers Arbeit als Touristenführer, aber seine Arbeit beim Aufbau der ersten Seilbahnen in Tirol ist eindringlich genug. Denn hier – wie übrigens auch bei Oskar Maria Graf – wird deutlich, wie multifunktional und brutal Kapitalismus ganze Gesellschaften bis ins kleinste Glied und am Ende dann auch die Liebe verändert.
Überhaupt die Liebe. Dafür findet Steinbichler immer wieder ikonische Momente, sei es das erste Anblicken in einer Wirtschaft, das Tanzen oder das Leben auf einer Hütte. Auch hier sind es Annäherungen ohne viel Worte, die noch einmal mehr durch die eindrücklichen schauspielerischen Leistungen von Julia Franz Richter als Marie und Stefan Gorski als Egger (bis zum Alter von 47 Jahren) präsent werden und denen es durch ihr Spiel und die exzellente Dialogführung gelingt, dass in dieser einfachen Geschichte von Verlust und Gewinn niemals der Verdacht auf Kitsch aufkommt, den einige Kritiker Seethaler immer wieder vorwerfen. Auch der alte Egger, von August Zirner dargestellt, überzeugt. Nicht nur durch eine ebenso greifbare Liebesgeschichte, sondern auch hier vor allem und immer wieder durch das Ringen nach Worten, um das zu verstehen, was wohl keiner von uns bis heute versteht, denn hat sich die Zeit schon damals in kaum mehr greifbaren Tempo bewegt, bewegt sie sich heute noch einmal schneller.
Deshalb ist Ein ganzes Leben bei aller Historie auch ein Film über unsere Gegenwart und eine denkbare Blaupause, darüber nachzudenken, wie wir in etlichen Jahrzehnten über unser eigenes, ganzes Leben nachdenken werden, ohne zu verstehen, was eigentlich passiert ist.
Dazu braucht es natürlich keine Berge, aber Berge mit ihren markanten Abgründen sind natürlich eine fast ideale Spiegelung unserer menschlichen Seelenlandschaft und ihrer Abgründe und haben wohl auch gerade deshalb im gegenwärtigen Film ein ungeahntes Comeback, etwa Adrian Goigingers großartiger Märzengrund mit einer sehr ähnlichen Lebenslinie wie in Ein ganzes Leben. Oder Hannah Dooses toller Wann kommst du meine Wunden küssen? Und natürlich Felix Van Groeningens und Charlotte Vandermeerschs wunderbare Verfilmung von Paolo Cognettis 2017 erschienenem Spiegel-Bestseller Acht Berge, in dem der Berg Verderben und Rettung zugleich ist und immer auch Spiegel innermenschlicher Verwerfungen.
Tatsächlich funktionieren diese Filme deshalb nicht viel anders als einige der Filme Luis Trenkers und Arnold Fancks, der großen, in Verruf geratenen Klassiker des deutschsprachigen Bergfilms, in denen die Idealisierung eines der Heimat- und Bergwelt verbundenen Lebens der Dekadenz der Städte und ihrer Bewohner gegenübergestellt wird. Und in der Frauen dann doch eher destruktive Kräfte haben, gegen die nicht einmal die Berge und alte Männerfreundschaften bestehen, so wie in Fancks Der heilige Berg, in dem Trenker, Leni Riefenstahl und Ernst Petersen dem Drama ihrer Gefühle und den Bergen sowieso heillos ausgeliefert sind.
Bei Seethaler und Steinbichler (und auch Goiginger) ist das jedoch anders. Hier sind die Berge zuvorderst grausam. Durch ihre harsche, menschabweisende Natur haben sie auch die Menschen dementsprechend geprägt und ist die Moderne dann beileibe nicht nur Dekadenz und Übung in Demut, sondern auch Erlösung. Von dieser Erlösung erzählt Steinbichlers Film, und er macht das hervorragend.