Deutschland 2018 · 109 min. · FSK: - Regie: Marcus Richardt Drehbuch: Marcus Richardt, Thomas Grabowsky Kamera: Wedigo von Schultzendorff Darsteller: Katja Riemann, Nils Rovira-Muñoz, Elisa Schlott, Jasmin Tabatabai, Cynthia Micas u.a. |
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Fangsti oder Verstecksti? |
Nach dem wunderbaren Debüt von Isabel Prahl 1000 Arten Regen zu beschreiben, in dem eine Familie daran fast zerbricht, dass der Sohn und ältere Bruder sein Zimmer nicht mehr verlassen will, beschäftigt sich jetzt ein weiterer deutscher Film mit dem Hikikomori-Phänomen. Marcus Richardt, bislang vor allem als Aufzeichner von Musikaufführungen und Musik-Produzent in Erscheinung getreten, hat sich das Thema ebenfalls für sein Langfilmdebüt Goliath96 ausgesucht. Wo bei Prahl die ätherische Bibiana Beglau die Mutter spielte, muss sich bei Reichardt leider wieder einmal Katja Riemann, zu weiten Teilen in einer monologischen Rolle, um Kopf und Kragen spielen.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Katja Riemann ist eine großartige, vitale Schauspielerin, die in den richtigen Filmen, wie zum Beispiel in den tiefgehenden, stillen Werken der Margarethe von Trotta, nuancenreiches Spiel bewies. Sie wird aber allzuoft als die Schauspielerin eingesetzt, die für all das einstehen darf, woran der deutsche Film krankt: realitätsferne Milieus, unnatürliche Dialoge, falsch wirkende, so ganz und gar mit Ausrufezeichen gesetzte Szenen.
Für ein TV-gewohntes Publikum kann der stolpernd inszenierte Film durchaus interessant wirken, auch hat die (zweifelhafte) Filmbewertungsstelle dem Ganzen das Prädikat »Wertvoll« verliehen, wenn auch mit Abstrichen. Das Thema ist immerhin interessant. Denn dass hier eine Mutter um ihren seit zwei Jahren im Zimmer verbarrikadierten Sohn kämpft, ist an sich ein nahegehendes Drama, für das wohl jeder empfänglich ist und das sicherlich als Grundlage für einen Diskussionsabend mit Betroffenen herhalten kann.
Interessanterweise gibt es mit Isabel Prahl viele Ähnlichkeiten im Plot, vielleicht sind dies Standardsituationen des Hikikomori. Wie in Prahls Film, der subtil und unter die Haut gehend von einem Psychodrama erzählt, das eine ganze Familie zuerst hinunterzieht, dann den Schritt in die Freiheit eröffnet, wird auch bei Marcus Richardt dem Umfeld vorgegaukelt, der Sohn wäre auf Reisen, wird vor der Tür verharrt, an die Tür gewummert, versucht, den Schatten des Sohnes zu erhaschen, wenn er sich aus seinem Zimmer schleicht, um Essen zu holen. Das ist alles nicht das Problem. Problematisch ist der Rhythmus des Films, der einfach nicht zu sich kommt, sind die klischeehaften Stilisierungen des modernen Lebens mit Fitness-Gruppe, Schnellrestaurant, dann ein Internet-Forum, die inszeniert sind, als würde der Drehbuchschreibende sie gerade mal vom Hörensagen kennen.
Der Twist des Films ist, das darf man verraten, dass die Mutter herausfindet, dass sich der Sohn auf einem Forum für Drachensteig-Fans tummelt. Sie schafft es natürlich, als »cinderella97« mit »goliath96« Kontakt aufzunehmen. Alsbald chatten sie über Drachenstäbe. Zwischendrin Kardinalfehler in der Inszenierung, wenn der Sohn, der unsichtbare Schatten des Hauses, ganz und gar wahrnehmbar im Kapuzenpulli die Treppe hinunterschlendert, um sich in der Küche zu bedienen. Jedes Geheimnis, jedes Mysterium wird einfach nur durch Banalität zerstört.
Unabhängig davon, dass der Film dann einen hanebüchenen Plot entwickelt (Sohn verliebt sich in Mutter, aha, hier hat man sich nach alter Drehbuchschule mal wieder bei der antiken Mythologie bedient), scheitern die Chat-Szenen schlicht und ergreifend daran, dass sich übers Chatten schlecht erzählen lässt. Vielleicht wäre dies ein interessanter Stoff für ein Game gewesen, bei dem die Spieler versuchen müssen, mittels Beiträgen den Sohn aus seiner Reserve zu locken?
Wie dem auch immer sei. Im Kino ist dieser Film leider deplatziert. Als Fernsehware oder Anschauungsmaterial und Diskussionsgrundlage für Betroffene hat der überwiegend mit Fernsehgeldern finanzierte Film aber durchaus seine Berechtigung.
Isabel Prahl hatte knapp über 1000 Zuschauer für ihr tolles, von großer Wahrhaftigkeit in der Inszenierung getragenes Debüt 1000 Arten Regen zu beschreiben. Kann gut sein, dass Marcus Richardt sie zahlenmäßig überholt. Denn Katja Riemann ist eine wache Schauspielerin, der die Leute gerne zusehen. Dass sie diesen in der falschen Tonlage erzählten Film aus seinem Drehbuchsumpf rausziehen kann, ist dann aber doch eher unwahrscheinlich.