Japan 2002 · 131 min. Regie: Takashi Miike Drehbuch: Shigenori Takechi Kamera: Hideo Yamamoto Darsteller: Goro Kishitani, Narimi Arimori, Ryosuke Miki, Daisuke Ryu u.a. |
Es gibt Augenblicke von ergreifender Ruhe in diesem Film. Da steht die Hauptfigur, ein harter Killer der japanischen Yakuza-Mafia, einfach auf der Straße herum, allein, und raucht eine Zigarette, guckt auf die anderen Leute, oder einfach vor sich auf den Asphaltboden. Aus dem Off ertönt Trompeten-Jazz. Wie in einem französischen Film mutet das an, einem etwas älteren, bei dem die Beobachtung des Individuums, auch seine Inszenierung, viel deutlicher als heute zugleich eine Gesellschaftsanalyse war.
Nach der Gesellschaft, aus der er stammt und in der er lebt, fragt Takeshi Miike in seinen Filmen immer. Egal ob das apokalyptische Duell von chinesischem Killer und japanischem Cop in Dead or Alive, ob die sich überkreuzenden Passionen eines älteren Witwers und eines jungen Mädchens im hierzulande gefeierten Audition (der Miikes Image vom begnadeten B-Movie-Fabrikanten in das eines »Auteurs« wandelte) oder das hysterische Familienpanorama Visitor Q – mit jedem dieser individuellen Portraits malt Miike auch zugleich ein Bild der ganzen japanischen Gegenwart. Und immer sind es Untergangsgeschichten, die dieser Filmemacher erzählt, geprägt vom melancholischen Sound des Niedergangs, wachsender Amoral, ausgefransten Traditionen. Nur wenige andere Regisseure sind zugleich im Stilistischen so risikofreudig wie er, der mit jedem Film alle seine bisherigen in Frage zu stellen scheint, signalisiert, dass nichts so sein muss, wie es bisher war, dass er selbst auch ganz anders kann.
Diesmal, mehr denn je, konzentriert er sich ganz auf einen einzelnen Charakter. Dabei vermeidet Miikes neuer Film Graveyard of Honor immer dessen psychologische Darstellung, das Erklären der Handlungen seiner Figur. Ganz zu Beginn erlebt man Rikuyo Ishimatsu (Goro Kishitani) als Lebensretter eines Gangsterbosses. Mit dieser mutigen Zufallstat beginnt die rasante kriminelle Karriere des No-Names. Sie gipfelt in einem fünfjährigen Gefängnisaufenthalt, den Ishimatsu »ehrenhaft« hinter sich bringt, und dadurch noch mehr Anerkennung unter seinesgleichen erntet. Parallel dazu erzählt der Film von dem sadomasochistischen Abhängigkeitsverhältnis zu seiner Frau Chieko. Sex und Gewalt gehen hier miteinander einher, von Glück und entspannter Freiheitserfahrung ist hingegen kaum etwas zu spüren. Wo der eiskalte Killer Ishimatsu Gefühle zeigt, sind sie gleich derart unkontrolliert, dass sie in den Exzess münden. Mit Ehre hat das alles nichts zu tun. Und wenig später tut Ishimatsu dann etwas, das im strengen Ehrenkodex der Yakuza verpönt ist: Er fordert Dank ein, fragt: »Was habt ihr für mich getan?« Als der schnell Erregbare dann noch einen seiner Bosse im Zorn irrtümlich erschießt, ist er vogelfrei und wird von seinen ehemaligen Kumpanen gejagt. Der vorhersehbare Untergang dauert länger als erwartet, schließt Gefängnisaufenthalt, Spielschulden, Heroinabhängigkeit und eine Reihe blutiger Duelle ein, aus denen Ishimatsu stets siegreich hervorgeht. Er muss sich schon selbst umbringen, um seine Jäger und vor allem sich selbst zu erlösen.
»Selbst Yakuza sind Menschen. Als Menschen haben sie eine soziale Struktur, deren Regeln sie folgen müssen. Das einzige, was für diejenigen da ist, die diese Regeln brechen, ist der Pfad des Dämons, des Wanderns bis zum Tod.« – was die Stimme aus dem Off erklärt, zeigt: Hinter Ishimatsus Schicksal verbirgt sich fast eine Geistergeschichte. Die Mafia ist als Thema, auch des japanischen Kinos, überhaupt nichts Neues. Graveyard of Honor ist selbst das Remake von Kinji Funsakus 1975 entstandenem und längst legendären gleichnamigem Gangsterfilm. Doch Miike hat die Handlung gegenüber dieser ursprünglichen Vorlage um fast drei Jahrzehnte nach hinten verschoben und zugleich einen Großteil der genretypischen Elemente aus seiner Neufassung entfernt, so dass es sich um einen, im Vergleich zu Funsaku völlig neuen Film handelt. Jede Ästhetik hat ihre eigene Moral: Miike bemüht sich, den Stereotypen aus dem Weg zu gehen, nicht zu verklären, weder im Positiven noch im Schlechten. So zeigt er einfach, beschreibt, hart und schnell, den Ablauf von 13 Jahren. Die Kamera ist experimentell, gewagt, erzählt den Cocktail aus Gewalt, Rausch und Überdruss ohne Voyeurismus. In aller Brutalität, die die in Schnee, Dreck und Blut mehr badenden als kämpfenden Figuren wieder in einen tierischen Naturzustand zurückfallen lässt, in dem der eine a la Hobbes vor allem als des anderen Wolf erscheint, wahrt Miike doch immer genug Distanz, um das Menschliche im Gewaltexzess wieder aufscheinen zu lassen.
Weil er den Blick für dieses Leiden nie verstellt, bleibt Graveyard of Honor auch eine sozialkritische Betrachtung der japanischen Gegenwart, die Darstellung der Universalität des Verbrechens. Doch dem bösen Kind Ishimatsu ist auf Erden nicht zu helfen. Als sein ehemaliger Boss die Nachricht von seinem Tod erhält, flüstert er vor sich hin: »What a laugh.30 years of raising hell.« Dieser Hölle ist Ishimatsu am Ende entronnen. Wir müssen ihn uns, in diesem Moment, als einen glücklichen Menschen vorstellen.