Frankreich 2016 · 105 min. · FSK: ab 0 Regie: Hélène Angel Drehbuch: Hélène Angel, Yann Coridian, Olivier Gorce, Agnès de Sacy Kamera: Yves Angelo Darsteller: Sara Forestier, Vincent Elbaz, Patrick d'Assumçao, Guilaine Londez, Olivia Côte u.a. |
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Gnadenlose Intensität |
Grundschule im Film? Ist im Normalfall eher Kinderfilm. Mal abgesehen von Dokumentationen wie Jakob Schmidts Zwischen den Stühlen, in denen er drei Referendare auf ihrem verzweifelten Martyrium durch das praktische Schulleben begleitet, u.a. auch eine Grundschule. Aber wie schon gesagt, im Normalfall wird die erste Schulebene unserer Gesellschaft – und zwar durchaus fantasievoll – im Kinderfilm verhandelt, man denke nur an die tolle Mister Twister-Reihe oder den ungewöhnlichen Hilfe, unser Lehrer ist ein Frosch – alle beide aus der äußerst kreativen holländischen Kinderfilmschule.
So sehr die Holländer fast schon eine Tradition im Grundschulkinderfilmbereich etabliert haben, so sehr dominieren die Franzosen die »erwachsene« Auseinandersetzung mit dem Thema Schule. Man denke etwa an Die Klasse von Laurent Cantet, L’esquive von Abdellatif Kechiche, In ihrem Haus von Francois Ozon, oder Mia Hansen-Løves Alles was kommt, in dem Isabelle Huppert als Philosophie-Lehrerin zu sehen ist. Oder erst kürzlich Rachid Hamis Langfilmdebüt La Mélodie – Der Klang von Paris, der in Spielfilmform von dem realen Schulkonzertprojekt »Démos« erzählt, bei dem Musik zum Mittel sozialer Integration wird. Es scheint fast so, als ob die Tatsache, dass in Deutschland das Bildungssystem zunehmend vernachlässigt wird, sich auch auf die filmische Auseinandersetzung mit diesem vielleicht wichtigsten strukturellen Element moderner Gesellschaften auswirkt. Denn statt aus Deutschland kommt auch der nächste »Schulfilm« aus Frankreich. Und dazu noch einer, der sich endlich auch einmal mit dem Thema Grundschule beschäftigt, ohne gleich ein Kinderfilm zu sein.
Und Hélène Angels Die Grundschullehrerin überrascht gleich noch einmal. Statt wie zu erwarten erzählerisch nach Paris zu gehen, um dort die Zerreißproben der französischen Gesellschaft im Grundschulmilieu zu thematisieren, begibt Angel sich mit ihrem Film nach Grenoble, in eine verhältnismäßig kleine, französische Stadt und fokussiert auf eine Grundschulklasse ohne große migrantische Zerwürfnisse. Und die Lehrerin Florence (Sara Forestier), die nicht nur engagiert versucht, ihre Schüler in den letzten Wochen der letzten Grundschulklasse auf die weiterführenden Schulen vorzubereiten, sondern selbst durch Prüfungen geschickt wird, die ihren Schülern in nichts nachstehen. Denn Florence merkt, dass sie nicht nur die »mütterliche« Kontrolle über ihren eigenen Sohn verliert, der ebenfalls von ihr unterrichtet wird, sondern auch mit Schülern konfrontiert wird, die fernab von stereotyper, migrantischer Problematik, die privaten und gesellschaftlichen Brüche nicht nur der französischen Gesellschaft symbolisieren.
Angel stellt diesen düsteren Brüchen die vielleicht einzige Medikation entgegen, die unsere Gesellschaft noch hat, um nicht ganz auseinanderzubrechen und zeigt anhand von Florence und dem Kollegium um sie herum, was es bedeutet, auf fast verlorenem Posten zu stehen und dennoch weiterzumachen und dabei vor allem nicht den Idealismus zu verlieren, den es braucht, das zusammenzuhalten, was auseinanderzubrechen droht. Ihre Inszenierung bewegt sich dabei dicht am Schulalltag und beeindruckt mit einer gnadenlosen Intensität, die nicht nur von den überragend geführten Kinderschauspielern getragen wird, sondern von der mit aufopferungsvollen Leidenschaft gespielten Rolle Sara Forestiers.
Doch Angel zeigt neben dem pädagogischen Idealismus, der gleichermaßen Lehrer und Schüler beflügelt, auch die Kehrseite, macht deutlich, dass für beide Seiten Schule immer auch ein Gefängnis ist, das beiden Seiten wichtige Impulse raubt. Angel dechiffriert deshalb nicht nur die zermürbenden Momente von Florence als alleinerziehende Mutter, sondern auch die Schwierigkeiten einen neuen Partner (Vincent Elbaz als Mathieu) in ein Leben zu integrieren, dass eigentlich keinen Raum mehr für private Bedürfnisse hat, weil alle Kraft und Leidenschaft in der Schule bleibt.