Norwegen/GB/USA 2020 · 93 min. · FSK: ab 0 Regie: Victor Kossakovsky Drehbuch: Victor Kossakovsky, Ainara Vera Kamera: Egil Håskjold Larsen, Victor Kossakovsky Schnitt: Victor Kossakovsky, Ainara Vera |
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Das glückliche Leben der Tiere | ||
(Foto: Filmwelt) |
Man muss manchmal im Dreck wühlen, um Erhabenes zu finden. Obwohl: Strenggenommen ist in Gunda von dem, was man mit Dreck assoziieren würde, kaum noch etwas spürbar. Regisseur Victor Kossakovsky (Aquarela) vermag es, selbst eine Sau in einer Lache aus dunklem Matsch in gänzlich schönheitstrunkenen Bildern zu zeigen. Besagte Sau, Gunda heißt sie, ist die Hauptdarstellerin in diesem Kleinod Bauernhof, das Kossakovsky über anderthalb Stunden hinweg in aller Banalität, aber auch in seiner Poesie portraitiert.
Ferkel werden geboren, erkunden die Welt mit ihrer Mutter, fressen, saugen, spielen. Einige andere Tiere gesellen sich hinzu. Gedreht wurde in der norwegischen Provinz. Wie genau das funktioniert haben soll, ist ein Rätsel dieses Films, das bei aller Immersion ob der technischen Brillanz der Aufnahmen in die Gedanken drängt. Wie kann das möglich sein, dass sich eine Kamera so unmittelbar unter Tiere mischt, dass eine so aufregende Interaktion zwischen Belebtem und Unbelebtem entstehen und fixiert werden kann?
Gunda zeigt schlaglichtartig Szenen aus dem Kreislauf des Lebens, der in seiner ganzen Wahrhaftigkeit und Kreatürlichkeit voranschreitet und doch an entscheidenden Stellen durchkreuzt wird, ausfranst und wiederum neue Nebenzweige freilegt. Seine Leerstellen und Brüche offenbaren sich als menschliche Übergriffe von außen. Sie strahlen auf das Publikum zurück. Kossakovsky hat seinen Dokumentarfilm in Schwarzweiß gedreht, sein Blickwinkel eröffnet die ultimative Fremdheitserfahrung. Das unterworfene Tier erscheint plötzlich in Großaufnahme, eine Begegnung auf Augenhöhe.
Mehr noch: Die Perspektive des Publikums durch den Apparat ist meist selbst eine tierische. Ein paar Hühner stapfen da auf die Kamera zu, die in einer Rückwärtsbewegung über den Boden flieht. Zugleich bleibt ihre Betrachtungsweise eine dezidiert technische, die damit auch unweigerlich über die eigene Darstellungsform reflektiert. Indem sie bewusst mit ihrer eigenen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit spielt: Mal als stille Beobachterin, mal als Eindringling in dem Territorium, auf den die Bewohner reagieren. Nahezu jede Fahrt, jeder Zoom sitzt mit akribischer Perfektion. Übersinnliches scheint am Werk zu sein, so unbeschwert bewegt sich die Kamera durch ihr Milieu.
Gunda ist ein Kino, das in seiner ganz eigenen Zeichensprache, Erzählweise und Zeitlichkeit funktioniert. Alles, was Kossakovsky auf diesem Hof findet, erlangt etwas glänzend Auratisches. Etwas unnahbar Faszinierendes, auch wenn man optisch kaum näher herangehen könnte. Er suhlt sich etwas in seiner Anmut, keine Frage. Wenn da eine Rinderherde in Zeitlupe über die Wiese tollt, ein Ferkel sein Haupt unter schimmernd herabtropfendes Wasser hält, als befände man sich in einem Tarkowski-Film, dann erzählt das zuvorderst von den Beobachtern, die ihrem eigenen Begriff von Schönheit Ausdruck verleihen. Und doch gelingt es Gunda auf erstaunliche Weise, seine Naturverzauberung grundlegend zu reflektieren und als Frage zu formulieren. Was passiert da überhaupt, wenn man das Publikum zu einer solch unmittelbaren Begegnung mit dem tierischen Anderen zwingt?
Victor Kossakovsky verzichtet auf offensichtliche Erklärungen. Bei ihm gibt es keine Märchenonkel-Stimme im Hintergrund, die das Animalische zu deuten und das Publikum in den Schlaf zu säuseln versucht. Da rascheln nur Gewächse im Wind, erklingen Geräusche, die die Tiere von sich geben – Soundscapes der Orte. Ab und zu hört man aus weiter Ferne Straßenlärm, auch wenn der Mensch in diesem Mikrokosmos bis zum Schluss fast gänzlich unsichtbar bleibt. Vielmehr agiert er als Phantom im Hintergrund. Tore öffnen sich wie von Geisterhand, ein Traktor fährt als außerweltliche Heimsuchung in den Bildausschnitt.
Aus Gunda spricht dabei latenter Existenzialismus. Forschend wandeln die Schweine, Hühner und Kühe durch die Natur, wonach auch immer sie suchen. Momente der Grausamkeit, aber auch der Traurigkeit, Irritation und Geselligkeit. Kühe vertreiben sich gegenseitig die lästigen Fliegen. Worin die animalischen Figuren wirklich Erfüllung finden, wessen sie sich in dieser Welt überhaupt bewusst sind – wer weiß das schon? Überhaupt, was soll diese Erfüllung sein? Was Gunda so elegant vorführt, ist eine unaufdringliche Bedrängnis, sich mit dem Tier in eine Beziehung zu setzen und diese Beziehung noch einmal neu zu denken.
Kossakovsky zeigt das als Feldstudie, die bei reinen Äußerlichkeiten beginnt. Bei Haut, Borsten und Fell, bei Verunreinigungen, schrumpeligen Texturen. Ein einbeiniges Huhn tapst da umher, ein anderes zeigt sein zerrupftes Gefieder auf dem Gnadenhof: Versehrte Körper erzählen Geschichten. Eine Ahnung, welche Rolle der Mensch in ihnen spielt. Irgendwann gelangt ein Huhn an einen Zaun. Erstaunt blickt es hindurch, direkt in die Kamera. An anderer Stelle stößt das Schwein an einen Elektrodraht und muss umkehren.
Final folgt der grausame Ferkelraub, eine Tragödie, die in ihrer Beiläufigkeit und Selbstverständlichkeit fast schon ihrer Tragik beraubt ist. Sie wird nur noch in dem minutenlangen Umherirren des Muttertieres erfahrbar. Das sind Schockmomente, Glitches, Störungen im vermeintlich unbeschwerten Dasein. Natürlich ist die unberührte Natur rund um den Hof ein Trugschluss. Letztendlich handelt es sich um menschengeformte Kulisse, eine Matrix, deren Bewohner offenbar nur eine Pille zur Auswahl haben. Kossakovsky beschwört diesen Eindruck, indem er die Hintergründe in flächiger Unschärfe verschwimmen lässt. Nebulöses geschieht dort, das jederzeit fatal eingreifen kann. Das Dasein darf sich nur entfalten, solange es sich in Grenzen bewegt, die leicht eingerissen werden könnten.
Möchte man den berühmten Sartre-Ausdruck strapazieren, sieht man hier wohl Lebewesen zu, die eher zur Un-Freiheit verurteilt sind. Nur, wissen sie selbst darum? Die artübergreifende Begegnung im Kino führt zu einem Unbehagen gegenüber der vermeintlich radikal verschiedenen Entwürfe von Lebenssinn, die Tier und Mensch suchen, vielleicht überhaupt suchen können und wollen. Und doch gibt es da Überschneidungen, Erkenntnisprozesse. Einerseits der emotionalen Gemeinsamkeiten, andererseits des Unwohlseins, dass da etwas im Argen liegt. Das Tier, das seine Gefängnismauern erblickt, der Mensch, der sie errichtet hat und sich womöglich unweigerlich selbst im Tier erkennt. Gundas Geniestreich besteht darin, diesen Weg aufzuzeigen, ihn aber nicht blind mitzugehen. Mensch und Tier als komplexe, empfindende Lebewesen zusammenzuführen und doch das Spannungsfeld ihrer Verschiedenheit zu studieren. Er führt zu einer Utopie von Verständnis und Befreiung.
Eine solche Utopie hat etwa auch der Philosoph Fahim Amir in seiner Aufsatzsammlung »Schwein und Zeit« befragt. Er begreift das Tier nicht als schützenswertes Opfer, sondern als permanenten Widerständler, selbst in seinem Gefängnis. Eine lohnenswerte Lektüre, um sich mit Gunda auseinanderzusetzen! Sie bietet zugleich etwas Tröstliches, um den dramatischen letzten Minuten dieses Films zu begegnen, ohne sich selbst aus der Verantwortung ziehen zu müssen. Das sind Gedankenspiele und Perspektivverschiebungen, die auch Gunda provoziert. Vielleicht wissen diese Tiere mehr über ihr Dasein und ihre filmische Rolle, als man es ihnen auch in der Rezeption zutraut. Letztlich kann man doch nur mutmaßen, was Schwein Gunda in seinem Stall nach der letzten Einstellung treiben wird. Oder das Huhn, das erkannt hat, dass da noch etwas hinter dem Zaun liegt. Da brodelt womöglich ein stiller, revolutionärer Geist in diesem Film, auch wenn er ein noch unerreichtes Fantasiegebilde bleibt.