Haute Couture

Frankreich 2021 · 101 min. · FSK: ab 12
Regie: Sylvie Ohayon
Drehbuch:
Kamera: Georges Lechaptois
Darsteller: Nathalie Baye, Lyna Khoudri, Pascale Arbillot, Claude Perron, Soumaye Bocoum u.a.
Filmszene »Haute Couture«
Nicht nur die Kleider, auch die Gesellschaft wird hier in Form gebracht...
(Foto: Happy Entertainment/24 Bilder)

Aschenputtel zu Besuch im Haus Dior

In Sylvie Ohayons modernem Aschenputtel-Märchen aus der französischen Modebranche wird nicht nur die tiefe soziale Zerrissenheit Frankreichs deutlich, sondern auch die verzweifelte Sehnsucht nach einer Lösung

Gerade recht­zeitig zur Stichwahl in Frank­reich kommt ein Film in die Kinos, der die Zerris­sen­heit des Landes nicht besser schildern könnte und ein fast schon beängs­ti­gender Abdruck der Wähler­ver­hält­nisse ist. Er ist nicht der einzige Film, der die fran­zö­si­schen Wahlen flankiert, deshalb sei auch an dieser Stelle empfohlen, sich unbedingt Bruno Dumonts im Mai star­tenden France und den ebenfalls diese Woche anlau­fenden In den besten Händen von Catherine Corsini anzusehen, um besser zu verstehen, wie sich Frank­reich in den letzten Jahren verändert hat und weshalb diese Stichwahl eine der Extreme ist.

Diese Extreme könnten auch in Sylvie Ohayons Haute Couture nicht besser präsen­tiert werden. Auf der einen Seite lernen wir das Leben der leitenden Schnei­derin im Hause Dior kennen, die von einer der großen fran­zö­si­schen Stars, Nathalie Baye verkör­pert wird, die hier aller­dings eine verbit­terte Persön­lich­keit spielt, die stark an Corinna Harfouchs Lara erinnert. Wie Lara lebt sie ein Leben, das sich auf wenig reduziert: das kleine Stück erlesene Scho­ko­lade nach dem Aufwachen und ihre Hingabe für das Haus Dior. Viel mehr existiert nicht, denn die Tochter, die Esther allein groß­ge­zogen hat, hat sich von ihr abge­wendet. Es gibt keine Freunde und auch das Judentum, das ange­deutet wird, ist nicht von Relevanz. Erst als sie durch einen Diebstahl ihrer Hand­ta­sche Jade (Lyna Khoudri), die Diebin, kennen­lernt, verändert sich für Esther das Leben, wird Jade für Esther der Mensch, an der sie das wieder­gut­ma­chen kann, was sie an ihrer Tochter versäumt hat. Für Jade ist Esther jedoch etwas ganz anderes, sie ist der Prinz, der sie in eine andere Welt führt, denn Jade bietet ihr statt einer Anzeige an, bei Dior eine Schneider:innen-Lehre zu beginnen.

Sylvie Ohayon führt ab diesem Moment beide Welten zusammen, folgt der wider­stre­benden und wie Aschen­puttel auch weglau­fenden Jade in ihre Banlieue und Esther in ihre bessere Wohn­ge­gend, lässt dann aber auch beide Prot­ago­nis­tinnen sich gegen­seitig besuchen. Bei diesen Besuchen und einem genaueren Blick auf das Personal wird deutlich, dass nicht alles gut ist, was glänzt, und nicht alles böse ist, was arm ist, dass es Schnitt­stellen gibt, auf denen eine gesell­schaft­liche Grund­erneue­rung möglich ist, viel­leicht ja immer war. Denn wir erfahren, dass Jade nicht das erste Mädchen aus einer Banlieue ist, das bei Dior Erfolg hat, ja, man kann nach Sylvie Ohayons Film sich sogar die Hoffnung machen, dass anders als Macrons berüch­tigte Arroganz, die fran­zö­si­sche Ober­klasse schon längst verstanden hat, was man tun muss, um Frank­reich zu retten.
Das ist natürlich schon fast mehr als ein Märchen-Narrativ, schrammt Haute Couture mit seinem naiven Wegblenden anderer Reali­täten, die in In den besten Händen erheblich brutaler gegen­ein­ander ausge­spielt werden, und seinen Feel-Good-Movie-Elementen haar­scharf an der Propa­ganda vorbei.

Dass Haute Couture dennoch Spaß macht und anregt, liegt nicht nur an den großartig aufspie­lenden Haupt­dar­stel­le­rinnen Nathalie Baye und Lyna Khoudri und den vielen Details über die Königs­klasse der Mode­branche, denen Sylvie Ohayon genügend Raum für diese abge­schot­tete Kunstform gibt und damit Paul Thomas Andersons Der seidene Faden deutlich abhängt. Nein, es ist gerade die Naivität, die unter die Haut geht, der Glaube, dass Frank­reich noch zu retten ist, dass das große fran­zö­si­sche Projekt sozialer Gleich­heit, dem ja erst vor zwei Wochen in Jacques Audiards Wo in Paris die Sonne aufgeht ein wunder­barer Schwa­nen­ge­sang bereitet wurde, viel­leicht doch noch nicht ganz verloren ist. Und es am Ende die Frauen sind, die es richten. Frauen, die nichts mit Marine Le Pen tun zu haben wollen.