F/D/Ö 2017 · 108 min. · FSK: ab 12 Regie: Michael Haneke Drehbuch: Michael Haneke Kamera: Christian Berger Darsteller: Isabelle Huppert, Jean-Louis Trintignant, Mathieu Kassovitz, Fantine Harduin, Franz Rogowski u.a. |
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Eine weitere vieldeutig auslegbare Geschichte, die der Komplexität unserer Gegenwart gerecht wird |
Michael Haneke (Funny Games, Das weiße Band) ist der große Autoritäre unter den Gegenwartsregisseuren. Seine kühle und distanzierte Ästhetik fasziniert auch durch die schroffe Geste, und scharfe Medien-Kritik. Um so überraschender, wenn sein neuer Film nun ein Happy End verspricht. Zugleich erscheint Hanekes neuer Film, der jetzt in die Kinos kommt, nicht nur in seiner Figuren- und Darsteller-Konstellation als direkte Weiterführung seines letzten Films Amour, mit dem der Österreicher in Cannes seine zweite Goldene Palme gewann.
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Die ersten zwei Einstellungen von Michael Hanekes neuem Film sagen eigentlich schon alles. Das erste Bild ist hoch und schmal: Offensichtlich die Aufnahme eines Mobiltelefons. Man erkennt eine Frau, sie steht vor dem Badezimmerspiegel und putzt die Zähne. Darüber hören wir Kommentare: »Gurgeln!« – »Ausspucken!« – »Haare kämmen!« – »Licht aus!« – »Bett!«. Dann erzählt eine Kinderstimme von einem Hamster, und von Mutters Beruhigungspillen, die unter
dessen Futter gemischt wurden. Das Smartphone-Bild zeigt dazu, wie der Hamster leblos im Käfig liegt. »Es funktioniert« stellt die Kinderstimme fest.
Dann wechselt das Bild, öffnet sich zu einer prachtvollen Totalen, die die Grube einer Großbaustelle zeigt; unten am Boden werkeln Arbeiter, die im Bild so klein wirken, wie Käfer oder Ameisen. Gerade wenn man sich fragt, was das jetzt soll, setzt sich das ruhige, fast statische Bild in unerwartete Bewegung. Denn plötzlich bricht eine
Wand weg, Tonnen von Erde rutschen in die Grube. Dazu wieder ein Kommentar aus dem Off, ein einziges Wort: »Merde!« »Scheiße!«
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Das ist Actionkino à la Michael Haneke: Bilder in denen die Spannung kurz vor dem Bersten steht, in denen immer alles möglich ist. Auch bei Haneke gilt das Prinzip: Man weiß, was man sieht. Man sieht den Film, weil er von Haneke ist, daher anders. Man kennt sein Werk, geht mit bestimmten Erwartungen in den Film. Zu diesen Erwartungen gehört bei Haneke Gewalt.
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Im Zentrum von Hanekes neuem Film steht eine schreckliche Familie. Keine schrecklich nette, sondern einfach eine schreckliche. Eine Familie, für die der Ausdruck »bürgerlich« eher wie Untertreibung klingt. Wenn man mit dem Begriff »Bürgerlichkeit« vor allem Bildung und Stil, eine über Generationen gewachsene Kultur und Haltung verbindet, kann man hier sowieso seine Zweifel haben. Haltung fehlt, der Stil beschränkt sich auf das sehr strenge gemeinsame Frühstück, und aufs
Silberbesteck.
Diese Leute sind vor allem stinkreich. Sie haben in Calais ein großes Bauunternehmen und finanzielle Probleme, nicht erst seit dem gerade geschilderten Baustellenunglück. Sie wohnen in einer Stadtvilla aus dem 19. Jahrhundert mit zwei Flügeln, repräsentativem Treppenhaus, kiesumsäumtem Garten im Innenhof und einem aggressiven Schäferhund, der vielleicht »Blondie« heißt.
Dieses Haus lernen wir nie komplett kennen, es gibt weniger
Übersichtlichkeit, als oft in den Räumen von Hanekes Filmen. Das mag aber auch an der schieren Größe des Gebäudes liegen.
Im einen Flügel wohnt der von Jean Louis Trintignant gespielte über 80-jährige leicht senile Vater, im zweiten seine Tochter Anne, gespielt Isabelle Huppert, die das Unternehmen leitet und ihr Bruder Thomas, gespielt von Mathieu Kassowitz, ein Karrierearzt in der städtischen Klinik, der in zweiter Ehe verheiratet und Vater eines Kleinkinds ist. Dazu kommt das
Dienstpersonal aus den Maghreb-Staaten, die ehemals französische Kolonien waren.
Jetzt zieht auch noch Eve mit ein, die dreizehnjährige melancholische Tochter aus Thomas' erster Ehe, deren Mutter im Krankenhaus im Koma liegt. Sie ist als meist stumme Beobachterin des ganzen Geschehens die Stellvertreterin von uns Zuschauern – aus ihrer reservierten, latent vorwurfsvollen Perspektive erleben wir die Menschen.
Was wird erzählt? Das genau ist lange Zeit die Frage.
Es geht eher um das Tableau der Figuren, die in ihrer jeweiligen persönlichen Situation sehr genau vorgestellt werden. Der alte Vater will sterben, die Tochter die Macht im Familienunternehmen für sich und ihren Sohn sichern, der Sohn fremdgehen, der Sohn der Tochter badet in Selbstmitleid, die Tochter des Sohnes fühlt sich verloren und nicht heimisch – alle sind gewissermaßen ganz normal gestört.
Zugleich kann man sich aus ein paar, Haneke-üblich vagen und permanentes,
sehr genaues Hingucken verlangenden Andeutungen eine sehr klare Geschichte zusammensetzen, die möglicherweise sogar auf eine Thriller-Handlung hinausläuft. Man versteht viele der Beobachtungen zuerst nicht, zugleich zeigt jede Szene sehr viel über die Beziehungen dieser Menschen zueinander.
Aber sicher ist hier eben nichts, und je nachdem, was man von diesem Regisseur hält, wird man Haneke wahlweise vorhalten, dass er sich nicht festlege, entscheide, unnötig vage und
pseudobedeutsam sei, oder eben an ihm preisen, dass hier mal einer endlich offene Filme mache, wohltuend vielschichtiges Kino, vieldeutig auslegbare Geschichten erzähle, die der Komplexität unserer Gegenwart gerecht werden, und den Betrachter nicht bevormunden. Ich neige zu dieser zweiten Auslegung. Man wirft Haneke ja gern vor didaktisches Lehrerkino zu machen – das finde ich ganz und gar nicht. Er nimmt niemanden an die Hand, hat keinen Zeigestock, sehr wohl aber
vermittelt er seinen Zuschauern Erfahrungen. Diese öffnen und erschließen die Welt, sie verengen sie nicht.
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Insofern ist die 13-jährige Eve auch die rätselhafteste und aller Wahrscheinlichkeit zentrale Figur des Films. Inszeniert ist sie so, dass wir mit ihr Mitleid empfinden, empathisch reagieren: Ein armes Kind mit engelsgleichem immer irgendwie traurigem Gesicht, das erst Scheidungsopfer wurde, und jetzt bringt sich die Mutter um, und sie muss in einer völlig unbekannten Umgebung, bei fremden und kalten Verwandten, neu anfangen. Tatsächlich aber verstehen wir im Laufe des Films,
dass Eve womöglich eine moderne Schwester der bösen Kinder aus Das weiße Band ist: Sie lügt, ist verschlagen, spielt die Erwachsenen gegeneinander aus, nachdem sie in deren Intimleben herumgeschnüffelt hat. Nach ihrem Selbstmordversuch besucht sie ihr Vater Thomas im Krankenhaus: »Ich liebe Dich sehr« – aber das Kind antwortet ihm: »Papa! Hör auf mit dem
Scheiß-Gerede. Ich habe Deine Mails und Deine Chats gelesen. Du liebst niemanden, nicht Mama, nicht Deine Frau Anais, nicht diese Claire, Deine Geliebte, und mich auch nicht. Ich will einfach nur wissen: Nimmst du mich mit, wenn Du dich von Anais trennst? Ich will nicht ins Heim.«
Und ganz am Ende erscheinen die Handyaufnahmen, mit denen der Film einsetzte, in neuem Licht. Die Wahrheit liegt im Auge des Betrachters. Der Schmerz auch. Und mehr denn je bei Haneke der ganze Film.
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Huppert als geschäftige Tochter, Trintignant als alter Vater, der lebenssatt ist, aber keinen findet, der ihm hilft, zu sterben .- das legt bereits eindeutige Spuren: Und als der Alte in einer der intensivsten Szenen des Films seiner Enkelin Eve den Tod seiner Frau ziemlich genau so beschreibt, wie er in Hanekes letztem Film Amour geschah, begreifen wir, dass Happy End eine ziemlich direkte und unter seiner Oberfläche sehr konsequente Weiterführung von Amour ist.
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Zugleich unterfüttert Haneke diese Weiterführung mit viel Understatement mit Motiven aus anderen seiner Werke: In Benny’s Video zeigte er ein Kind, das mit einer Kamera abgründig-unschuldig eigene Gewalttaten filmt. In Caché versetzte er sein Publikum in die statisch-kühle Beobachtungshaltung einer Überwachungskamera und konfrontierte die französische Bourgoisie mit ihrer Schuld aus kolonialen Zeiten. Und in Code inconnu ging es um das westliche Wohlstandsleben und sein Lumpenproletariat aus Migranten und Flüchtlingen, die dieses erst ermöglichen. Der Ort Calais, mit seinen Slums längst ein beschämendes Symbol der Flüchtlingskrise, ist in diesem Zusammenhang natürlich auch nicht zufällig gewählt.
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In formaler Brillanz, mit ruhigen, spannungsvollen Tableaus und beherrscht von jenem bitter-sarkastischen Unterton, in dem Michael Haneke nach wie vor unübertroffen bleibt, erlebt man eine filmische Familienaufstellung, die auch die Aufstellung einer saturierten Gesellschaft ist. Es geht um soziale Dynamik in diesem harten, kühlen Film, den man zugleich als sarkastische Komödie begreifen kann.
Sein Thema aber ist todernst: Es ist der Untergang des Westens durch die
Frivolität der Reichen und seine Unfähigkeit, die eigenen Ideale zu leben. Es ist eine Krise ohne Alternative, die totale Anomie.
Das Private ist auch bei Haneke immer politisch.