Deutschland 2021 · 123 min. · FSK: ab 12 Regie: Dominik Galizia Drehbuch: Dominik Galizia Kamera: Elias C.J. Köhler Darsteller: Martin Rohde, Leyla Roy, Heike Hanold-Lynch, Hans-Jürgen Alf, Werner Böhnke u.a. |
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Liebevoller und vorurteilsfreier Blick in einen »anderen« Alltag | ||
(Foto: UCM.ONE) |
Am Anfang war nicht das Wort und es gab auch keinen Gott, denn an diesem besonderen Anfang war einfach nur einer dieser abgeranzten Youtube-Kanäle mit Namen Nordachse, auf dem plötzlich das Format »Heikos Welt« reinknallte, in dem »Heiko« übers Frühstücken mit Curry-Wurst genauso in Berliner Schnoddersprache sinnierte wie über Flohmärkte. Die in die Hunderttausende gehenden Aufrufe machten Mut, daraus einen Crowd-Funding-finanzierten Film zu machen, was ja auch schon einmal bei dem großartigen Komödienwunder Fikkefuchs geklappt hat.
Und nun auch bei Heiko. Denn Heikos Welt hat es geschafft. Hat beim letzten Münchner Filmfest 2021 in der wie immer hervorragend kuratierten Reihe »Neues deutsches Kino« den Förderpreis in der Kategorie Schauspiel erhalten. Doch eigentlich hätte Heikos Welt noch mehr verdient. Denn Regisseur Dominik Galizia liefert mit Martin Rohde als Heiko eine atemberaubende Milieu-Studie über den bei seiner Mutter wohnenden und Hartz 4 beziehenden und schon längst erwachsenen Heiko ab. Eine Miljöhstudie, die sich tatsächlich um eine plausible, aber dennoch groteske Geschichte bemüht, in der Heiko feststellen muss, dass seiner Mutter Belinda (Heike Hanold-Lynch) das Essen, das sie für ihn kocht, nicht mehr so recht gelingen will, weil sie an einer Augenkrankheit leidet. Kurzum: es müssen 5.000 Euro her, um die Operation von Belindas Augen zu bezahlen und wieder leckeres Essen auf dem Tisch zu haben. Das lässt sich natürlich weder durch Hartz 4 finanzieren, noch die sporadischen Hehlereien, mit denen Heiko seinen Alltag finanziert, also entscheidet sich Heiko, das Ganze mit ein paar Darts-Turnieren zu deichseln und ab geht es in die Berliner Kneipen-Kultur, in Futschi-Kneipen wie »Beim Dicken«, wo Alkohol-Varianten wie Bier und der nebenbei untergeschobene »Futschi« (ein Longdrink aus Cola und Weinbrand bzw. Weinbrand-Verschnitt) nicht nur als Besäufnisfaktor, sondern auch als Stimulanz funktionieren, nicht anders als in Thomas Vinterbergs großem Erfolg Der Rausch.
Doch bedient Vinterberg mit Mads Mikkelsen das Bildungsbürgertum, begibt sich Galizia in die bildungsfernen Welten der westlichen Gesellschaft, explizit natürlich die Berlins. Und das ist fast genauso aufregend und anregend wie bei Vinterberg, auch weil Galizia seine »Helden« nicht vorführt, sondern ihnen liebevoll und vorurteilsfrei in ihren Alltag durch basalste Wohnungen und versiffteste Kneipen folgt.
Ähnlich wie in Eline Gehrings, Francy Fabritz' und Sara Fazilats Berlin-Anamnese Nico sind auch in Galizias Film zahlreiche Laiendarsteller mit dabei und sorgen abhängig vom Betrachter für gruseligste, groteskeste und ernüchterndste Authentizität, tauchen aber auch Nebendarsteller wie Roberto Blanco auf, die sich selbst spielen, und schaut für eine kurze Stippvisite sogar Franz Rogowski herein, der in Galizias Debütfilm Figaros Wölfe (2017) eine wichtige Rolle spielte.
Dieser Reigen macht auch nach zwei Stunden noch Spaß, ist nie langweilig, weil es irgendwie fast so wie auf den Abenteuern des Raumschiff Enterprise ist, das mit seiner stark angetrunkenen Besatzung Tage, Wochen oder Jahre unterwegs ist, um fremde Kneipen zu erforschen, neue Drinks auf ihre Wirkung und Darts-Taktiken auf ihre Tauglichkeit, um am Ende einfach nur gut schlafen und gut essen zu können.