USA 2020 · 116 min. · FSK: ab 16 Regie: Ron Howard Drehbuch: Vanessa Taylor Kamera: Maryse Alberti Darsteller: Gabriel Basso, Amy Adams, Glenn Close, Owen Asztalos, Haley Bennett u.a. |
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Vulgärmarxistisch auf das »Produkt ihrer Verhältnisse« zurechtgestutzt | ||
(Foto: Netflix) |
Middletown, Ohio. Die Stadt heißt wirklich so. Wir sind in Middle-Amerika, bei den Hillbillys, so nennt man in den USA die normalen Menschen aus den Hügeln und dem flachen Land, die Trump-Wähler könnte man sagen, wenn man es sich zu einfach machen will.
Wenn man in manchen dieser Milieus lernt, wie man Messer und Gabel benutzt, dann hat man jedenfalls schon etwas erreicht, Cheeseburger oder Chicken-Wings kann man nämlich auch mit den Fingern essen.
Gleich vier Gabeln an einem Teller sind da schon eine intellektuelle Herausforderung. Aber als ihm das passiert, studiert JD, der Hillbilly und Held dieses Films, bereits an der Elite-Universität Yale. Deswegen findet er einen Grund, sich noch vor Essensbeginn schnell auf die Toilette zu verziehen, und seine Freundin anzurufen, die ihm kurz einige Basics der Tischmanieren erklärt.
JD steht für James Donald, und der Film erzählt von JD’s Kindheit in einem chaotischen Hin-und-Her zwischen Arbeitslosigkeit und Gelegenheitsjobs, Armut und Drogen, Aggression und Verzweiflung – und vor allem emotionalem Missbrauch durch eine süchtige Mutter. Er erzählt von einem Leben, das ausschließlich aus Krisenbewältigung besteht, eine dunkle Gegengeschichte zum Amerikanischen Traum, in der es keinen Abstieg mehr gibt, nur eine Stagnation im Nichts,
weil das Unten längst erreicht ist.
Und er erzählt von JD’s Rettung durch die Großmutter, durch die konservativen Familienwerte, die sie ihm vermittelt, durch seinen eigenen Arbeitsfleiß und durch Bildung.
Eine klassische amerikanische Geschichte ist das also auf den ersten Blick, von einfachen Menschen, die sich Mühe geben, die versuchen, das Beste aus ihrem Leben zu machen, die wissen, sie hätten es noch besser tun können, aber das Leben ist zu schwer und die Welt ist gegen sie.
Es ist die Geschichte von kleinen Leuten – wie man so sagt. »White Trash« (»weißen Müll«) nennt man sie in Amerika: die Menschen, für die der amerikanische Traum nicht aufgegangen ist. »Unterschichtsverhältnisse« sagen die Soziologen und glauben vielleicht wirklich, das klingt freundlicher.
Sie leben im Rust-Belt, im rostigen Gürtel im Nordosten der USA, dort wo es früher einmal Stahl- und Autoindustrie gab und heute nicht mehr viel – außer dem Selbstmitleid. Dem setzt der Film eine klare, wenn man so will traditionelle amerikanische Moral entgegen, die auch Europäer sich gern ansehen, solange es nicht sie selber betrifft: Die Feier der Eigenverantwortung.
Es gibt verschiedene Zeitebenen, in denen alles in Zeitsprüngen erzählt ist, vorwärts und rückwärts zwischen den späten 80er Jahren und den frühen Zehnern hin und her.
Auf der einen Ebene, der knapp zehn Jahre alten, erleben wir JD als erfolgreichen Studenten an der Yale Law School. Er bewirbt sich bei renommierten Anwaltskanzleien. Doch kurz vor einem wichtigen Bewerbungsgespräch wird er angerufen: Seine Mutter liegt im Krankenhaus, weil sie eine Überdosis Heroin genommen
hat.
So fährt er dann in einer einzigen langen Autofahrt zurück nach Hause und erinnert sich auf diesem Weg an verschiedene Stationen seines Lebens als Heranwachsender.
Dort angekommen trifft er auf seine Schwester (gespielt von Haley Bennett, dem größten Lichtblick und der einzigen echten Überraschung dieses Films, der einzigen, deren Figur nie ihre Würde verliert). Beide besuchen die Mutter im Krankenhaus, reden miteinander und wieder gibt es Rückblenden in die gemeinsame
Vergangenheit.
Dann treffen sie im Krankenhaus auch auf die Mutter selbst – sie ist schwach. Die einzige Kraft, die sie hat, wendet sie dafür auf, sich nicht helfen zu lassen.
Dann, irgendwann fährt JD wieder zurück – und kommt, ganz Klassenprimus, gerade noch rechtzeitig fürs Bewerbungsgespräch wieder in Yale an.
Zwischendurch erleben wir JD immer mal wieder, wie er mit seiner offensichtlich so ganz anders sozialisierten, indischstämmigen Freundin aus
Yale, die ebenfalls eine erfolgreiche Karriere vor sich hat, telefoniert. Und sie sagt ihm dann das, was Freundinnen am Telefon in Hollywoodfilmen eben so sagen: »Du musst tun, was du tun musst. Vertraue dir selbst. Ich bin bei dir.«
All right!
Ein klassisches amerikanisches Familiendrama made in Hollywood: mit viel Herzschmerz, mit viel Musik, die keinen Zweifel lässt, was wir denken und vor allem fühlen sollen, wenn wir bestimmte Bilder sehen. Ein Film, der immer bei seinen Protagonisten ist – ganz eng, und ganz egal, was für einen Mist sie machen.
Es ist die Moral von JD’s Großmutter, von Mamaw, die eine Art Terminator-Philosophie hat und James Camerons Terminator 2: Judgment Day angeblich hundert Mal gesehen hat: »Du musst dich entscheiden, ob du jemand sein willst oder nicht.« Margaret Thatcher, an deren nachhaltigem Beitrag zum Selbstbetrug des Westens und den ganzen schlechten Verhältnissen, in denen wir uns befinden, wir uns gerade wieder bei The Crown erinnern konnten, hat es in ihrer unverblümten Art gesagt: »There is no such thing as society«. Eine Gesellschaft gibt es nicht. Was einer ist oder nicht ist, ist allein seine Schuld.
Mehr will auch dieser Film nicht wissen. Dass es Länder auf der Welt gibt, die einen funktionierenden Wohlfahrtsstaat haben, dass man Gerechtigkeit und – ja! – Gleichheit (also den furchtbaren Sozialismus, vor dem die Amerikaner noch größere Angst haben, als vor Terroristen), staatlich organisieren kann, dass, selbst in den USA, staatliche Sozialfürsorge, Ausbildungsförderung und Universitäten existieren (that’s communism, isn’t it?), nimmt der Film nicht zur Kenntnis.
Zugleich ist er so gespalten in seiner Haltung wie sein Gegenstand selbst. Denn auf der einen Seite möchte er zeigen, dass die Werte, mit denen JD erzogen wird: Ausdauer, Fleiß, sich nur auf sich selbst verlassen, der Schlüssel zu seinem persönlichen Erfolg sind; einem Erfolg, der gegen alle Umstände errungen wurde. À la Thatcher.
Auf der anderen Seite führt dieser Film sehr klar vor, dass diese Werte den übrigen Mitgliedern von JD’s Familie offenbar nicht viel gebracht haben,
dass ihm eine staatliche Hochschule, die Ohio-State-University geholfen hat, und dass vor allem JD einfach nur unglaubliches Glück gehabt hat.
Zugrunde liegt Hillbilly Elegy ein gleichnamiger Bestseller. Es ist die autobiografische Geschichte von J. D. Vance, einem heute 36-jährigen Investmentmakler aus Ohio.
Regisseur Ron Howard, der Meister des routinierten, aalglatten Hollywood-Mainstream-Kitsches, der schon zu Zeiten seiner großen Oscar-Erfolge Apollo 13 (1996) und A Beautiful Mind (2001) altmodisch und vor allem langweilig war, hat jetzt mit Hillbilly
Elegy aus einer irgendwie sogar politischen, irgendwie in einem exakten Milieu verankerten Geschichte, einen netten, sehr altmodischen und stinklangweiligen Hollywood-Film gemacht, der so unpolitisch ist, wie klassische Studio-Filme sind und auf ein diffuses »breites Publikum« zielt.
Um dies zu schaffen, hat er Glenn Close und Amy Adams für die Hauptrollen gewonnen – und was sie zeigen, ist exakt die Art von Spiel, mit dem solche Darstellerinnen
normalerweise die höchsten Preise in den USA gewinnen können: Filmstars, die normale Leute spielen, und dafür ungewaschen, ungeschminkt und hässlich aussehen, geschmacklose Kleidung anhaben, und die viel fluchen – eine verstörende Ansammlung von Hollywood-Klischees, die diese dunkle Gegengeschichte zum Amerikanischen Traum verwässert.
Das Verstörendste an diesem Film ist aber nicht die Lächerlichkeit, mit der hier zwei tolle Hollywood-Darstellerinnen auf Rampensau machen, um wieder mal für einen Oscar nominiert zu werden.
Sondern die Art, wie sich der Film selbst an seinen Gegenstand heranschmeißt und dabei seine Verachtung für ihn nur mühsam kaschiert.
Denn dass J. D. Vance mit dem Milieu seiner Herkunft nicht viel am Hut hat, ist geschenkt. Aber Ron Howard hat hier einen Film gemacht, der Vance’s Selbsthass und Herkunftsverachtung aus entgegengesetzter Perspektive spiegelt, der seinen Figuren keine Autonomie und keine Würde zugesteht, sondern sie vulgärmarxistisch auf das »Produkt ihrer Verhältnisse« zurechtstutzt.
Damit ist er exakt der Ausdruck der Verachtung und der Vorurteile, die die
West/Ost-Küsten-Oberschicht im Kopf hat, wenn es um die Hillbillys geht. Man gibt vor, sich für sie und ihre Belange zu interessieren, und beutet dann ihre Ästhetik, ihre Werte, ihre Beschränktheit, ihre Nöte, ihre ganze soziokulturelle Lage gnadenlos für die eigenen Zwecke aus – genau so, wie es der New Yorker Multimillionär Donald Trump in den letzten fünf Jahren getan hat.
Ab dem 24. November 2020 auf Netflix abrufbar.