Ö/L/D/B 2021 · 99 min. · FSK: ab 16 Regie: Stefan Ruzowitzky Drehbuch: Robert Buchschwenter, Hanno Pinter, Stefan Ruzowitzky Kamera: Benedict Neuenfels Darsteller: Murathan Muslu, Liv Lisa Fries, Marc Limpach, Max von der Groeben, Maximillien Jadin u.a. |
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Einstürzende Altbauten | ||
(Foto: SquareOne/Paramount) |
Die Heimreise gleicht mehr einer Totenfahrt. In den ersten Minuten von Hinterland schippert eine Gruppe Männer, darunter der von Murathan Muslu gespielte Kriminalinspektor Peter Berg, aus der russischen Kriegsgefangenschaft zurück nach Österreich. Es ist das Jahr 1920, der Erste Weltkrieg ist vorbei. Unterwegs passiert man den schaurigen Friedhof der Namenlosen, wo im Nebel ruhlose Geister umherschwirren. In Wien angekommen, sieht es mäßig heimeliger aus.
Hier ist die Welt bildlich aus den Fugen geraten. Regisseur Stefan Ruzowitzky (Anatomie) greift dafür tief in die Trickkiste des Expressionismus. Verschachtelt und verbogen erscheinen die Straßenzüge, die Gebäude und Zimmer stürzen in schiefen Perspektiven ineinander. Robert Wienes Cabinet des Dr. Caligari von 1920 stand dabei Pate. Wo Wiene damals mit seinem Szenenbildner Hermann Warm bekanntlich versuchte, den filmischen Raum an das Graphische anzunähern, wird er bei Ruzowitzky zur virtuellen Simulation. Hinterland entstand größtenteils vor blauen Wänden, das Ensemble agiert vor unsichtbaren Kulissen. Erst am Rechner erwächst dieser düstere Moloch von Stadt in seiner Gänze, der von den Traumata der Geschichte heimgesucht wird.
In dieser überzeichneten Künstlichkeit wird sofort ersichtlich, wie das chaotische Innere und das Chaotische, Entrückte der Gesellschaft nach außen projiziert werden. Ähnliches fand bekanntlich auch bei Caligari statt, wo das psychologisch Abgründige, Schlafwandlerische und Beklemmende eine stilprägende Form fand. Der Unterschied besteht darin, dass Hinterland im Gegensatz zu den handgefertigten und -bemalten Kulissen des Stummfilms fast vollständig auf das Digitale setzt.
Das erscheint hier und da mit großer, erschlagender Bildgewalt. Ruzowitzky gelingen einige gekonnte stilistische Kniffe. Wenn an einer Wand über dem Bett nächtliche Albträume wie auf einer Leinwand innerhalb des Films sichtbar werden, wenn die Kamera um einen Kneipentisch kreist, während Vergangenes in den Hintergründen noch einmal aufleuchtet, dann sind das vor allem eindrucksvolle Verschränkungen von Kinotraditionen vergangener Tage mit den Bildwelten moderner Comics und Graphic Novels. Vergleiche mit unter anderem Sin City, die bereits im Vorfeld zu vernehmen waren, sind durchaus naheliegend und treffend.
Und doch erfährt man diese Ästhetik an vielen anderen Stellen auch mit einem großen Befremden. Selten entsteht der Eindruck, als würden sich die Figuren tatsächlich durch greifbare Räume bewegen – Dr. Caligari hatte das noch geschafft! Eine echte Immersion, ein Einsaugen in die strudelförmigen, schmutzigen Bilder gelingt Hinterland mit diesem Stil nicht, dafür sind die Animationen in ihrer technischen Qualität zu schwankend. Heimisch wird man selten in Ruzowitzkys Genrehybrid aus Historiendrama, Krimi und Horrorfilm, wie die Figuren, die ihn bevölkern.
Dass Hinterland mit seiner bewusst ausgestellten Künstlichkeit immer wieder abstößt, sorgt letztlich genau dafür, dass der Blick für das Essenzielle, für die Konstruktion an sich geschärft wird und da verkommt dieser Film zu einem ambivalenten Unterfangen.
In dem 20er-Jahre-Wien treibt ein Serienmörder sein Unwesen, während die ehemaligen Soldaten darum ringen, sich in der neuen Welt zurechtzufinden. Seine Opfer hinterlässt der Killer in verstörendem Zustand. Mal findet man Körperteile in Eisblöcken eingefroren, mal ist jemand wie der Heilige Sebastian mit unzähligen Stäben durchbohrt, mal verschmelzen Mensch und Holz zu einer grotesken Plastik. Das sind Leichen-Kunstwerke, wie man sie in ihrer Ästhetik etwa aus der »Hannibal«-Serie mit Mads Mikkelsen kennt.
Zweifellos ein interessantes Sujet, das Ruzowitzky ausbreitet! Der Serienmörder sucht Hinterland als Symptom heim. Nämlich als eines des chaotischen Zustandes zwischen den Weltkriegen. Die Gewalt auf den Schlachtfeldern und die politischen Umstürze schreiben sich ein in diese Bluttaten. Die Zersplitterung und Deformierung von Welt und Gesellschaft setzen sich fort in den gefolterten und fragmentierten Körpern, die das verschachtelte Großstadt-Labyrinth immer wieder ausspuckt.
Da diese Übertragung allerdings schnell durchschaut ist, erstaunt es ein wenig, wie beflissen sich Hinterland immer wieder seinem später recht konventionell durchexerzierten Kriminalplot zuwendet. Am spannendsten in diesem Film sind vielmehr seine Abschweifungen und Nebenschauplätze, die er auf seiner Erkundungstour durch die Stadt eröffnet. Eine Gerichtsmedizinerin (Liv Lisa Fries) repariert da kriegsversehrte Gesichter, in einem Armenhaus zeichnen sich Elend und Radikalisierung ab und im Prater tanzen die Menschen durch die Finsternis.
Um noch einmal den Sin City-Vergleich zu bemühen: Vielleicht wäre eine Anthologie die passendere Form für diese fragmentierte Welt gewesen. Hinterland weiß genau um das Episodische, das in ihm angelegt ist. Er benötigt es ohnehin, um sein Zeit- und Sittengemälde zu zeichnen. Dass er trotzdem immer wieder in jenes sehr literarisch anmutende Erzählen voller Krimi-Konventionen zurückfällt, erschließt sich vor dem ansonsten radikal formalistischen Ansatz nur bedingt.
Vielleicht hat das etwas Tröstliches und Vertrautes. Am Ende spiegelt besagtes Vorgehen recht passend die Zerrissenheit dieses Films zwischen Traditionsbewusstsein, Fortschreibung und Neuerfindung, zwischen Formstrenge und Abschweifung, Genrefilm und Zeitkapsel. Man kann Stefan Ruzowitzkys Historien-Experiment jedenfalls kaum mangelnde Ambitionen vorwerfen. Sein Festhalten an vertrautem Erzählkino ist unter der wagemutigen Oberfläche wahrscheinlich am ehesten eine Sehnsucht nach jener Ordnung, die seiner Welt abhanden gekommen ist. Zum Schluss nützt doch alles nichts, das hat Hinterland in seinem trügerisch aufklärenden, bittersüßen Ende immerhin erkannt. Der nächste Krieg steht bereits vor der Tür.