The Holdovers

USA 2023 · 134 min. · FSK: ab 12
Regie: Alexander Payne
Drehbuch:
Kamera: Eigil Bryld
Darsteller: Paul Giamatti, Dominic Sessa, Da'Vine Joy Randolph, Carrie Preston, Gillian Vigman u.a.
Filmszene »The Holdovers«
Sehr spezifisch zugespitzte und gebeutelte Einzelschicksale...
(Foto: Universal)

Bekenntnisse zwischen den Jahren

Die mitreißende Tragikomödie The Holdovers lässt ihre Figuren nach Werten in einer erkalteten, stillstehenden Welt suchen

Eigent­lich ist es gar nicht so verkehrt, dass dieser Weih­nachts­film die deutschen Kinos erst nach den Feier­tagen erreicht. Schließ­lich taucht The Holdovers das zyklisch ausge­schlach­tete süßliche Verspre­chen vom Fest der Liebe, an dem alle einander auf Augenhöhe begegnen sollen, in ange­mes­sene Schwere und Bitter­keit. Er tritt zu ihm in Distanz, sucht das Zwie­späl­tige. Was nicht bedeuten soll, dass ihm allein an insze­nierter Tristesse gelegen wäre! Die unfrei­willig zusam­men­ge­pferchten Figuren in diesem Film, ein einsamer rebel­li­scher Schüler, sein grantiger Lehrer und eine Köchin, die um ihren gefal­lenen Sohn trauert, spüren durchaus das Potential und die Wirkung von Weih­nachten und der eigen­ar­tigen Zeit zwischen den Jahren. Also jener aussche­renden Tage, an denen die leer­ge­fegten Räume im neueng­li­schen Internat, dem Schau­platz des Films, plötzlich übergroße, öde Dimen­sionen annehmen. An denen die Uhren langsamer zu ticken scheinen. An denen man in sich geht, nachdenkt, Rückschau hält – und an denen man ein paar Schritte aufein­ander zugehen kann, denen die gewohnte Ordnung sonst die benötigte Sensi­bi­lität raubt. Geteiltes Leid ist das Motiv, aber was bleibt davon, wenn der Alltag wieder einkehrt?

Wenn sich die titel­ge­benden Übrig­ge­blie­benen zunächst zusam­men­raffen und versuchen, das Beste aus den Weih­nachts­fe­rien heraus­zu­holen, will alles Eis zum Schmelzen gebracht, wollen mal lustige, mal anrüh­rende zwischen­mensch­liche Momente kreiert, Vorur­teile und Schranken über­wunden werden. So viel Wohl­fühl­kino gönnt sich The Holdovers! Regisseur Alexander Payne bringt all diese Momente und geschlif­fenen Dialoge, die das Drehbuch von David Hemingson bietet, mit großer Qualität auf die Leinwand. Ihre Tona­li­täten und Emotionen arran­giert er mit Bravour. Jedes Lachen, jede Träne ist perfekt gesetzt. Ihr Timing – makellos, und Kevin Tent (Schnitt) und Eigil Bryld (Kamera) tragen einen erheb­li­chen Teil dazu bei. The Holdovers speist etwa ein immenses tragi­ko­mi­sches Potential allein aus der Art und Weise, wie er Bewegung und Still­stand kontras­tiert, wie die Kunst eines gekonnt posi­tio­nierten, irritiert beob­ach­tenden Kame­ra­schwenks die ganze Unbe­hol­fen­heit von Charak­teren spürbar werden lassen kann.

Sowieso ist Unbe­hol­fen­heit das große Stichwort – wie in jeder inter­es­santen Komödie, die den Menschen in seiner Selbst­si­cher­heit erschüt­tert. Seine Figuren stehen am Schei­deweg, verspüren Ohnmacht, Verdrän­gung hin oder her. Na gut, nicht jede ausge­stellte Menschelei führt auto­ma­tisch zu Aufschlüssen über Mensch­li­ches per se. Dafür verliert The Holdovers zu viel Zeit, um sehr spezi­fisch zuge­spitzte und gebeu­telte Einzel­schick­sale aufzu­rollen. Sein vorge­tra­genes Verspre­chen, die Vergan­gen­heit zu beschauen, um die Gegenwart besser zu verstehen – der Film spielt 1970 – mag sich ebenfalls etwas unpräzise aus der Affäre ziehen. Trotzdem gelingt The Holdovers eine beacht­liche, im besten Sinne nach­denk­liche Punkt­lan­dung, haben seine Figuren erst einmal ihre weih­nacht­liche Odyssee über­standen und sind wieder an Ort und Stelle, wo ihre Reise begann.

Es ist der grandiose Paul Giamatti, der dem Film sein finales Gewicht verleiht, der seine Lehrer­figur mit bösar­tigem Starrsinn, Unter­wer­fungs­lust, aber auch mit leib­li­chen Entglei­sungen, Liebreiz und Weisheit belebt und aufbricht. Seine ambi­va­lente Charak­ter­ent­wick­lung ist das schla­gende Herz von The Holdovers. Auch ihn schickt das Drehbuch durch eine Reihe schmerz­li­cher Einge­ständ­nisse und Offen­ba­rungen, genau wie seinen Schütz­ling, den 15-jährigen Angus, den der Geschichts­lehrer gezwun­ge­ner­maßen über den Jahres­wechsel betreuen muss. Psychi­sche Erkran­kungen, Sucht, Fami­li­en­strei­tig­keiten, Lebens­lügen oder auch der Verlust von Angehö­rigen müssen da verhan­delt werden – The Holdovers packt die Lasten des Lebens an.

Spannend wird es jedoch, wenn all diese Probleme abgegrast wurden, die Betrof­fenen in ihre ange­stammten Hier­ar­chien zurück­ge­worfen werden und darauf reagieren müssen. Wenn die Margi­na­li­sierte wieder für die soge­nannte Elite schuften muss. Wenn reiche, ignorante Eltern Drill und Selbst­dis­zi­pli­nie­rung fordern, um Prestige und Privi­le­gien zu festigen. Verwei­gert man sich ihrem Prinzip, droht man mit dem Militär als letzter Instanz, das Eigen­sin­nige zu zähmen. The Holdovers peitscht seine Figuren regel­recht zur Gesprächs­the­rapie, die mehr besänf­tigen als aufrüt­teln will. Läuterung und Selbst­er­kenntnis sind ihr Ziel, doch die Span­nungen des Umfeldes und sozialen Klimas werden dabei zum Glück weder geleugnet noch aufgelöst.

Mag vieles noch so betulich und altmo­disch an diesem Film erscheinen, allein in der Art und Weise, wie herme­tisch er sein fiktio­nales 70er-Zeit­ko­lorit vor möglichen Brüchen abschirmt, wie er sich ästhe­tisch archai­siert, wie man sich an seine Bilder schmiegen kann, ohne Gefahr wittern zu müssen – reine Nostalgie ist dennoch nie sein Antrieb. The Holdovers kehrt höchst ernüch­tert und, ja, reifer von seiner Zeitreise zurück. Er versucht, im Aushand­lungs­pro­zess seines unglei­chen Trios, aber auch in dessen Auflösung, dem bloß­ge­legten, verhee­renden Mitein­ander so etwas wie Huma­nismus, Moral, Neugier, Bildung entge­gen­zu­setzen. Bildung als Selbst­wert und Möglich­keit, nicht nur als Pforte zu Beruf und Wohlstand innerhalb des starren, unge­rechten Systems. Es entpuppt sich als Rennen gegen feste Wände, also bleibt nur der Abschied, das frei­willig unfrei­wil­lige Exil.

Das Gute, das noch an Verän­der­bar­keit und Intel­li­genz glaubt, sieht sich hier mit dem eigenen, jahrelang gelebten Verbiegen und Verstellen konfron­tiert. Da sein Einfluss an Grenzen stößt und die Arbeit an jener Verän­der­bar­keit auch an der eigenen Lebens­ge­schichte ansetzen muss, ahnt es, dass es aus dem gewohnten Kosmos verschwinden und auf ihn spucken muss. Das Gefühl des Unrett­baren wohnt auch The Holdovers inne. Alter­na­tive Welt­ent­würfe kennt dieses melan­cho­li­sche Kino nur im begrenzten Rahmen. Es wählt in letzter Instanz die Flucht, das Offene und rettet, was kaum zu retten ist. Allen aufop­fe­rungs­vollen Taten zum Trotz, auf die der Film zwei Stunden lang hinar­beitet. Trost und Desil­lu­sio­nie­rung verschmelzen in ihm. Soli­da­rität und ihre Bestra­fung folgen sich auf Schritt und Tritt und der Exis­tenz­ver­lust taugt zur Erlösung. Doch manchmal genügen das bittere Erwachen und der gedrun­gene Schluss­strich für sich und andere als Perspek­ti­ver­wei­te­rung, Ausbruch und ergrei­fende Pointe.