USA 2023 · 134 min. · FSK: ab 12 Regie: Alexander Payne Drehbuch: David Hemingson Kamera: Eigil Bryld Darsteller: Paul Giamatti, Dominic Sessa, Da'Vine Joy Randolph, Carrie Preston, Gillian Vigman u.a. |
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Sehr spezifisch zugespitzte und gebeutelte Einzelschicksale... | ||
(Foto: Universal) |
Eigentlich ist es gar nicht so verkehrt, dass dieser Weihnachtsfilm die deutschen Kinos erst nach den Feiertagen erreicht. Schließlich taucht The Holdovers das zyklisch ausgeschlachtete süßliche Versprechen vom Fest der Liebe, an dem alle einander auf Augenhöhe begegnen sollen, in angemessene Schwere und Bitterkeit. Er tritt zu ihm in Distanz, sucht das Zwiespältige. Was nicht bedeuten soll, dass ihm allein an inszenierter Tristesse gelegen wäre! Die unfreiwillig zusammengepferchten Figuren in diesem Film, ein einsamer rebellischer Schüler, sein grantiger Lehrer und eine Köchin, die um ihren gefallenen Sohn trauert, spüren durchaus das Potential und die Wirkung von Weihnachten und der eigenartigen Zeit zwischen den Jahren. Also jener ausscherenden Tage, an denen die leergefegten Räume im neuenglischen Internat, dem Schauplatz des Films, plötzlich übergroße, öde Dimensionen annehmen. An denen die Uhren langsamer zu ticken scheinen. An denen man in sich geht, nachdenkt, Rückschau hält – und an denen man ein paar Schritte aufeinander zugehen kann, denen die gewohnte Ordnung sonst die benötigte Sensibilität raubt. Geteiltes Leid ist das Motiv, aber was bleibt davon, wenn der Alltag wieder einkehrt?
Wenn sich die titelgebenden Übriggebliebenen zunächst zusammenraffen und versuchen, das Beste aus den Weihnachtsferien herauszuholen, will alles Eis zum Schmelzen gebracht, wollen mal lustige, mal anrührende zwischenmenschliche Momente kreiert, Vorurteile und Schranken überwunden werden. So viel Wohlfühlkino gönnt sich The Holdovers! Regisseur Alexander Payne bringt all diese Momente und geschliffenen Dialoge, die das Drehbuch von David Hemingson bietet, mit großer Qualität auf die Leinwand. Ihre Tonalitäten und Emotionen arrangiert er mit Bravour. Jedes Lachen, jede Träne ist perfekt gesetzt. Ihr Timing – makellos, und Kevin Tent (Schnitt) und Eigil Bryld (Kamera) tragen einen erheblichen Teil dazu bei. The Holdovers speist etwa ein immenses tragikomisches Potential allein aus der Art und Weise, wie er Bewegung und Stillstand kontrastiert, wie die Kunst eines gekonnt positionierten, irritiert beobachtenden Kameraschwenks die ganze Unbeholfenheit von Charakteren spürbar werden lassen kann.
Sowieso ist Unbeholfenheit das große Stichwort – wie in jeder interessanten Komödie, die den Menschen in seiner Selbstsicherheit erschüttert. Seine Figuren stehen am Scheideweg, verspüren Ohnmacht, Verdrängung hin oder her. Na gut, nicht jede ausgestellte Menschelei führt automatisch zu Aufschlüssen über Menschliches per se. Dafür verliert The Holdovers zu viel Zeit, um sehr spezifisch zugespitzte und gebeutelte Einzelschicksale aufzurollen. Sein vorgetragenes Versprechen, die Vergangenheit zu beschauen, um die Gegenwart besser zu verstehen – der Film spielt 1970 – mag sich ebenfalls etwas unpräzise aus der Affäre ziehen. Trotzdem gelingt The Holdovers eine beachtliche, im besten Sinne nachdenkliche Punktlandung, haben seine Figuren erst einmal ihre weihnachtliche Odyssee überstanden und sind wieder an Ort und Stelle, wo ihre Reise begann.
Es ist der grandiose Paul Giamatti, der dem Film sein finales Gewicht verleiht, der seine Lehrerfigur mit bösartigem Starrsinn, Unterwerfungslust, aber auch mit leiblichen Entgleisungen, Liebreiz und Weisheit belebt und aufbricht. Seine ambivalente Charakterentwicklung ist das schlagende Herz von The Holdovers. Auch ihn schickt das Drehbuch durch eine Reihe schmerzlicher Eingeständnisse und Offenbarungen, genau wie seinen Schützling, den 15-jährigen Angus, den der Geschichtslehrer gezwungenermaßen über den Jahreswechsel betreuen muss. Psychische Erkrankungen, Sucht, Familienstreitigkeiten, Lebenslügen oder auch der Verlust von Angehörigen müssen da verhandelt werden – The Holdovers packt die Lasten des Lebens an.
Spannend wird es jedoch, wenn all diese Probleme abgegrast wurden, die Betroffenen in ihre angestammten Hierarchien zurückgeworfen werden und darauf reagieren müssen. Wenn die Marginalisierte wieder für die sogenannte Elite schuften muss. Wenn reiche, ignorante Eltern Drill und Selbstdisziplinierung fordern, um Prestige und Privilegien zu festigen. Verweigert man sich ihrem Prinzip, droht man mit dem Militär als letzter Instanz, das Eigensinnige zu zähmen. The Holdovers peitscht seine Figuren regelrecht zur Gesprächstherapie, die mehr besänftigen als aufrütteln will. Läuterung und Selbsterkenntnis sind ihr Ziel, doch die Spannungen des Umfeldes und sozialen Klimas werden dabei zum Glück weder geleugnet noch aufgelöst.
Mag vieles noch so betulich und altmodisch an diesem Film erscheinen, allein in der Art und Weise, wie hermetisch er sein fiktionales 70er-Zeitkolorit vor möglichen Brüchen abschirmt, wie er sich ästhetisch archaisiert, wie man sich an seine Bilder schmiegen kann, ohne Gefahr wittern zu müssen – reine Nostalgie ist dennoch nie sein Antrieb. The Holdovers kehrt höchst ernüchtert und, ja, reifer von seiner Zeitreise zurück. Er versucht, im Aushandlungsprozess seines ungleichen Trios, aber auch in dessen Auflösung, dem bloßgelegten, verheerenden Miteinander so etwas wie Humanismus, Moral, Neugier, Bildung entgegenzusetzen. Bildung als Selbstwert und Möglichkeit, nicht nur als Pforte zu Beruf und Wohlstand innerhalb des starren, ungerechten Systems. Es entpuppt sich als Rennen gegen feste Wände, also bleibt nur der Abschied, das freiwillig unfreiwillige Exil.
Das Gute, das noch an Veränderbarkeit und Intelligenz glaubt, sieht sich hier mit dem eigenen, jahrelang gelebten Verbiegen und Verstellen konfrontiert. Da sein Einfluss an Grenzen stößt und die Arbeit an jener Veränderbarkeit auch an der eigenen Lebensgeschichte ansetzen muss, ahnt es, dass es aus dem gewohnten Kosmos verschwinden und auf ihn spucken muss. Das Gefühl des Unrettbaren wohnt auch The Holdovers inne. Alternative Weltentwürfe kennt dieses melancholische Kino nur im begrenzten Rahmen. Es wählt in letzter Instanz die Flucht, das Offene und rettet, was kaum zu retten ist. Allen aufopferungsvollen Taten zum Trotz, auf die der Film zwei Stunden lang hinarbeitet. Trost und Desillusionierung verschmelzen in ihm. Solidarität und ihre Bestrafung folgen sich auf Schritt und Tritt und der Existenzverlust taugt zur Erlösung. Doch manchmal genügen das bittere Erwachen und der gedrungene Schlussstrich für sich und andere als Perspektiverweiterung, Ausbruch und ergreifende Pointe.