»Ich habe heute noch Albträume vom Matheunterricht« |
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Paul Giamatti als Paul Hunham in The Holdovers | ||
(Foto: Universal) |
Vor 20 Jahren inszenierte Alexander Payne in Sideways Paul Giamatti als den Möchtegern-Schriftsteller Miles auf Wein-Tour durch Kalifornien. Nun ist das Duo wieder vereint – und wieder gibt Giamatti einen vom Leben frustrierten Mann, der sich zurückzieht in eine Festung der Besserwisserei und Unnahbarkeit: Den Lehrer Paul Hunham, der in Neuengland an einem Elite-Internat antike Geschichte unterrichtet. Er ist ein Tyrann in seinem Miniatur-Reich – und doch selbst machtlos im größeren Gefüge von Geld und Privileg. Weil er dem Spross einer Schulsponsoren-Familie eine schlechte (obgleich gerechte) Zensur verpasste, muss er zur Strafe den Jahreswechsel 1970/1971 als Aufpasser des einzigen über die Weihnachtsferien verbleibenden Schülers fristen.
Das Gespräch führte Thomas Willmann
artechock: Hatten Sie selbst eine Lehrkraft, die prägend für Ihr Leben war?
Paul Giamatti: In negativer oder positiver Hinsicht? Ich hatte etliche wirklich gute Lehrer. Und auch viele schlechte. Die schlechten haben womöglich sogar mehr Eindruck hinterlassen. Es gab einen Typen, der mir in vielerlei Hinsicht als Inspiration für diese Filmfigur gedient hat – aber der war ein guter Lehrer und ein netter Mensch. Und ich hatte einen furchteinflößenden Mathelehrer, der mich wirklich fürs Leben gezeichnet hat. Er war ein unfassbar grausamer, fieser Mensch. Es gab Leute, die wegen ihm die Schule verlassen haben, weil er sie seelisch gebrochen hat. Eine schreckliche Person. Ich habe heute noch Albträume vom Matheunterricht.
artechock: Mit Schauspiellehrern hatten Sie mehr Glück...
Paul Giamatti: Als ich mit der Uni fertig war und dachte, ich könnte es mal mit der Schauspielerei probieren, bin ich nach England in ein Schauspiel-Programm. Das gibt es noch heute – zu jener Zeit war es noch klein und unbekannt. Aber sie haben schon wirklich großartige Schauspieler als Lehrkräfte geholt. Mein erster Schauspiellehrer war dadurch Alan Rickman. Damals wusste ich noch gar nicht wirklich, wer er war. Da war er mehr von der Bühne bekannt. Aber er war fantastisch! Er war ein wirklich großartiger Lehrer. Und ein enorm netter Mensch. Er hat mich sehr ermutigt, bei der Schauspielerei zu bleiben. Das hatte zuvor noch niemand getan.
artechock: Haben Sie selbst je erwogen, Lehrer zu werden?
Paul Giamatti: Mehr oder minder – weil das in meiner Familie so üblich war. Meine Großeltern, meine Eltern, und auch Cousins, Tanten und Onkel, alle waren Lehrer. Drum schien es quasi vorgezeichnet, dass man in meiner Familie Lehrer wird. Aber ich wusste, dass ich kein guter Lehrer geworden wäre. Ich wäre das Gegenteil gewesen von Paul im Film: Er ist zu streng – ich wäre zu nachgiebig. Was auch nicht gut ist.
artechock: Haben die Parallelen zur eigenen Biographie Ihnen bei der Rolle geholfen?
Paul Giamatti: Ja, auf jeden Fall. Deshalb wollte Alexander Payne mich wohl auch für die Rolle. Weil er dachte, dass ich diese Welt verstehe und solche Menschen kenne. Ich war circa zehn Jahre später, in den ‘80ern, im Internat. Allerdings als Externer. Da gab es dort noch immer diese Art von Männern wie Paul. Ich habe noch einige davon miterlebt. Ich habe mich drauf verlassen, dass ich mich nicht groß in Recherche reinknien musste. Sondern dass ich einfach die Sachen wieder hochkommen lassen konnte.
artechock: Haben Sie eine besondere Verantwortung verspürt gegenüber ihrem jungen Co-Star, dem Debutanten Dominic Sessa?
Paul Giamatti: Alexander, Da'Vine [Joy Randolph] und ich hatten ein Auge auf ihn. Aber er brauchte nicht viel Anleitung. Ich habe einmal zuvor mit einer Person zusammengearbeitet, die ganz frisch zum Film kam – und beide waren ziemlich selbstbewusst, wirklich fähig und enorm klug, so dass sie alles sehr schnell in sich aufgesogen haben. Das Einzige, was ich gemacht habe, war ihn wissen zu lassen, wie gut er ist. Mehr nicht. Weil er sonst wirklich nicht viel Hilfe brauchte.
artechock: Sie waren auch in seine Besetzung involviert?
Paul Giamatti: Sie hatten Dom zum Vorsprechen – und noch einen anderen Jungen in der Auswahl, der deutlich erfahrener war. Kein berühmter Schauspieler, aber sehr gut! Sie haben mich nach meiner Meinung gefragt – und ich fand Dom einfach interessanter. Zudem meinte ich: Wenn man schon einen Film im Geist der »70er macht, dann sollte man das Risiko eingehen und die Person nehmen, die vorher noch nie einen Film gemacht hat. So etwa wie Linda Manz bei Days of Heaven, die Terrence Malick einfach irgendwo fand und in den Film steckte. Außerdem sah Dominic mehr nach« 70er aus, und wirkte der Figur näher. Der andere Junge war gut – aber er war zu... glatt. Er schien keine Verletztheit in sich zu tragen. Dom wirkt, als trage er eine Verletztheit in sich.
artechock: Ihre Filmfigur hat ein stark schielendes Auge. Woher kam diese Idee – und wie haben Sie das gemacht?
Paul Giamatti: Das darf ich Ihnen nicht verraten. (Lacht) Aber es ist ein sehr einfacher Trick – und er scheint zu funktionieren. Ich habe einen Freund, den ich kenne, seit ich fünf Jahre alt war – der tatsächlich glaubte, ihm sei nur nie aufgefallen, dass ich schiele. Alexander hat sich von einem französischen Film der 1930er inspirieren lassen – Marcel Pagnols Merlusse. Der hat die gleiche Grundidee – und der Protagonist ein Glasauge. Pauls Auge, sein strenger Geruch aufgrund einer Stoffwechselstörung, sein Schwitzen – das sind für mich alles wie Kainsmale. Sie brandmarken ihn als Außenseiter. Sie entfremden ihn zusehends von den Leuten. Weshalb er umso mehr seine stoische Fassade und seine Marotten aufrechterhalten muss, mit denen er sich selbst eine Illusion von Kontrolle einredet. Doch darunter hat er diese Schwächen und Wunden.
artechock: Aber soviel können Sie vielleicht verraten: Welches Auge schielt, ist nicht in jeder Szene gleich, oder...?
Paul Giamatti: Nein. Und das soll es auch nicht. Man soll verwirrt sein, welches das schielende Auge ist. (Lacht) Das Publikum soll verunsichert sein – freut mich zu hören, wenn das funktioniert.
artechock: Wie Sie erwähnt haben, leidet Paul auch an einer Stoffwechselstörung, die ihn unangenehm riechen lässt. Und man hat im Kino wirklich fast das Gefühl, als könnte man das wahrnehmen. Haben Sie womöglich beim Dreh sogar einen entsprechenden Duft getragen...?
Paul Giamatti: (Lacht) Nein. Die Frau, die mein Make-up machte, bat mich und Dom: Wenn ihr Euch vielleicht nur alle zwei Tage richtig waschen könntet...? Das sieht man – wir sehen etwas speckig aus, was aber auch sehr wie in den Filmen der ’70er wirkt. Zum Geruch... Es heißt: Wenn man bei Shakespeare einen König spielt, dann spielen eigentlich alle um einen durch ihre Reaktionen die Königsrolle. Ich musste nicht nach Fisch riechen – alle um mich mussten so tun, als würde ich nach Fisch riechen. Paul selbst ist das ja eh gewohnt, und er kann nichts dagegen tun. Neulich kam nach einer Vorführung mit Q&A jemand zu mir und meinte, seine Schwiegermutter leide tatsächlich an Trimethylaminurie. Und sie fühlte sich sehr berührt und bestätigt dadurch, dass mal jemand in einem Film diese Krankheit hat.
artechock: Gab es für Sie irgendein Detail, das der Schlüssel war zur Rolle des Paul?
Paul Giamatti: Da war so viel, das einem das Drehbuch [von David Hemingson] angeboten hat! Es ist sehr detailliert. Die Drehbücher zu Alexanders Filmen sind sehr literarisch. Mit jedem Lesen entdeckt man in ihnen mehr und mehr und mehr. Aber es gab eine Sache, auf die ich sehr insistiert habe: Die Jacke, die ich im Film trage, ist sehr spezifisch, und ich habe sehr darauf beharrt, genau so eine zu bekommen. Weil all die Akademiker und Intellektuellen in meiner Kindheit diese Jacken trugen. Alexander hatte eigentlich eine andere Vorstellung fürs Kostüm – aber ich habe darauf bestanden: Nein, ich brauche genau diese Jacke, sonst ist das nicht der richtige Typ Mensch. Vielleicht war das mein Zugang...
artechock: Im Netz ging unlängst ein Foto von Ihnen viral, wie Sie nach der Verleihung mit Ihrem Golden Globe in einer In-N-Out Burgerketten-Filiale sitzen. Wie war das für Sie?
Paul Giamatti: Das war seltsam. Und interessant. Ich hab keine Ahnung, warum manche Dinge viral gehen und andere nicht. Ich finde das faszinierend. Warum war gerade DAS so eine Sache...?
artechock: Weil es so schön ans Ende von Sideways erinnert hat?
Paul Giamatti: Möglich. Aber ob die Person, die das Foto gemacht hat, daran dachte? Ich mag einfach den Laden, und ich hatte Hunger... Es war das erste Mal, dass mir so etwas passiert ist. Drum fand ich’s interessant. Andauernd so exponiert zu sein, wäre nichts für mich. Keine Ahnung, wie die Leute das machen, denen es dauernd so geht.
artechock: Auch wenn er das zu kaschieren versucht – Paul Hunham ist definitiv nicht zufrieden mit dem, was er erreicht hat... Wie würden Sie Erfolg im Leben definieren?
Paul Giamatti: Er ist unerfüllt, denke ich. Er macht nichts Kreatives. Ich glaube man fühlt sich erfolgreicher, wenn man etwas Eigenes machen kann – und nicht anderer Leute Vorstellung verpflichtet ist, was man zu tun habe. Er ist im Grunde eine kreative Person – und kann das nicht ausleben. Hätte er kreativ sein können, wäre er wohl glücklicher. Ob erfolgreicher, weiß ich nicht – aber er wäre glücklicher.
artechock: Sind Sie denn ein glücklicher Mensch...?
Paul Giamatti: Ich bin ein halbwegs glücklicher Mensch. [»Happy-ish«] (Lacht) Ein halbwegs glücklicher Mensch, ja.