Il Buco – Ein Höhlengleichnis

Il buco

Italien/F/D 2021 · 93 min. · FSK: -
Regie: Michelangelo Frammartino
Drehbuch: ,
Kamera: Renato Berta
Schnitt: Benedetto Atria
Darsteller: Paolo Cossi, Claudia Candusso, Denise Trombin, Antonio Lanza u.a.
Filmszene »Il Buco - Ein Höhlengleichnis«
Ziegen am »Schlund«
(Foto: Film Kino Text)

Höhlenmalerei

Michelangelo Frammartinos Il Buco ist ein filmisches Ereignis, das die Demut lehrt

Wenn man aus dieser Film­ver­sen­kung wieder auftaucht, sollte ein Wort im Kopf vibrieren: Speläo­logie, die Höhlen­kunde. Es ist ganz und gar atem­be­rau­bend, schwin­del­erre­gend und spek­ta­kulär, was der in Mailand geborene Regisseur Michel­an­gelo Framm­ar­tino über zehn Jahre nach Le quattro volte (Vier Leben) mit Il Buco reali­siert hat: 1961 gab es im südita­lie­ni­schen Pollino eine Entde­ckung rund um ein Loch auf einer Weide­wiese im Abisso del Bifurto. Der gefähr­liche Abstieg ins klaffende Schwarz offen­barte eine vertikale Höhle, die sich in vielen Windungen 687 Meter in die Erde hineinzog. Eine Rarität selbst in der Region, die übersetzt »Abgrund« heißt und von geolo­gisch bedeut­samen Höhlen durch­zogen ist: »Il buco«, der »Schlund« ist die tiefste Höhle Europas.

Framm­ar­tino hat mit Il Buco ein äußerst präzises, semi-doku­men­ta­ri­sches Reenact­ment dieses histo­ri­schen Höhlen­ab­stiegs geschaffen, das ihm bei den Film­fest­spielen von Venedig 2021 drei Preise bescherte (Pellicola d’Oro, FEDIC Award für den Besten Film, Spezi­al­preis der Jury). Seine Schau­spieler sind allesamt Laien und dann auch wieder Profis, in dem, womit sie im Film zu sehen sind: Die Höhlen­for­scher sind echte Speläo­logen, die Hirten sind tatsäch­liche Hirten. Damit siedelt sich Il Buco an der aufre­genden Unbe­stimmt­heits­stelle zwischen dem Doku­men­ta­ri­schen und der Fiktion an, bleibt histo­risch dem Ereignis treu und kann dennoch Imaginäres in das Faktische hinein­lassen. Während abends die Einwohner auf dem Dorfplatz gebannt auf einen von Bild­s­tö­rungen durch­bro­chenen Fern­seh­schirm starren, wo gerade ein eupho­ri­scher Bericht über die ersten Hoch­häuser in Nord­ita­lien läuft, wenden sich die jungen Forscher von der aufstre­benden Welt ab. Für sie geht es hinab in die Tiefe. Wo man nicht mehr den Fort­schritt und die Über­win­dung der Höhen­angst feiert, nur die Stille des Kosmos – und viel­leicht die Über­win­dung der Klaus­tro­phobie.

Fast nahezu ohne Dialoge, in einer konzen­trierten Aktion, in die hinein nur der Ruf des Hirten, das Gebimmel der Ziegen­glo­cken, das Zirpen und Zwit­schern der Fauna und das Tropfen und Schlagen des Gesteins zu hören ist, passiert das schwer­lich durch Fern­sehü­ber­tra­gungen kommu­ni­zier­bare Unter­fangen. Framm­ar­tino mutet den Forschern unge­achtet der sport­tech­no­lo­gi­schen Errun­gen­schaften, die mit dem Boom der Klet­ter­in­dus­trie in diesem neuen Jahr­tau­send vorliegen, die histo­ri­sche Ausrüs­tung der Sech­zi­ger­jahre zu. Wer schon mal einen unför­migen Wander­ruck­sack mit Leder­trä­gern aus dieser Zeit auf dem Flohmarkt erstanden hat, weil ihm das Manu­factum-Retro­de­sign gefiel, weiß, wie schwer diese »Ausrüs­tung« auf den Schultern lastet.

Seile, Pickel, Stirn­lampen und stumme Verstän­di­gung – ein Kopf­ni­cken, Zeichen­sprache, als wären sie Tief­see­for­scher – sind die rudi­men­täre Ausstat­tung, mit der die Forscher den Abstieg über eine lange Strick­leiter in die Höhle wagen. Um es deutlich zu sagen: der Höhlen­ab­stieg ist auch als Film ein waghal­siges Projekt und eigent­lich eine Zumutung für die zwölf Höhlen­for­sche­rinnen und -forscher, die Framm­ar­tino für seinen Film gecastet hat.

Die Bild­ge­stal­tung über­wachte kein gerin­gerer als der Schweizer Renato Berta, zum Zeitpunkt des Drehs bereits 75 Jahre alter Veteran des euro­päi­schen Kinos. Er hat schon mit Alain Tanner, Straub/Huillet, Jean-Luc Godard und Patrice Chéreau gedreht, mit Eric Rohmer, André Téchiné und Jacques Rivette. Mit Louis Malle, Manoel de Oliveira, mit Claude Chabrol und mit Alain Resnais – mit dieser Namens­liste im Gepäck symbo­li­siert Berta auch den alles­ver­schlin­genden Schlund der Zeit. Ihn in die Höhle hinab­zu­schi­cken, war keine Option. Die Speläo­logen verlegten daher optisches Fiberglas, das die visuelle Infor­ma­tionen auf einen Bild­schirm übertrug, das von Berta wiederum gesteuert werden konnte, während er auf der Weide­wiese saß wie die italie­ni­schen Dorf­be­wohner einst vor dem kleinen Fernseher.

Der Nullpunkt der Bilder in diesem Film ist die komplette Dunkel­heit. Nur punktuell beleuchten die Forscher die Höhlen­gänge, durch ihre Stirn­lampen, mit denen sie buchs­täb­lich Licht ins Dunkel tragen. Das Entdecken teilt sich so als eine Art Lumière-Höhlen­ma­lerei mit, lässt den Gedanken an Platon aufkommen und an sein Höhlen­gleichnis (so auch der deutsche Verleih­titel) als Uridee von Projek­tion und Kino. Nur zögerlich offenbart sich das Gesteins­re­lief in seinen sinnlich-geolo­gi­schen Dimen­sionen. Der epis­te­mo­lo­gi­sche Gestus, den Framm­ar­tino wählt, ist jedoch das genaue Gegenteil von Werner Herzogs berühmtem Die Höhle der verges­senen Träume, an den man bei Il Buco unwei­ger­lich denken muss, ange­sichts der radikalen Histo­ri­zität der mate­ri­ellen Ausstat­tung – und natürlich der nur unter Lebens­ge­fahr zu bestei­genden Höhle. Und selbst wenn sich hinter dem Ort »Il buco« jener Super­lativ befindet, die tiefste Höhle Europas zu sein, ist der Höhlen­schlund doch um einiges beschei­dener als die südfran­zö­si­sche Chauvet-Höhle, die Herzog explo­rierte – bis hin zur finalen Pointe des Films.

Framm­ar­tino muss, anders als Herzog, keine philo­so­phi­schen Betrach­tungen über die Erha­ben­heit der Welt aus dem Off raunen. Bei ihm teilt sich die Erkenntnis ruhig und unauf­ge­regt mit, span­nungs­voll und tastend, Schritt für Schritt, genau so, wie sich die Speläo­logen in der Höhle voran­be­wegen. Dies ist Inbild für ein wenig groß­spu­riges kine­ma­to­gra­phi­sches Vorgehen, das ganz von selbst auch philo­so­phi­sche Fragen aufwirft. In einer Paral­lel­mon­tage, in der ein alter Hirte den Lauf der Natur akzep­tiert, wird allein durch behutsame Gesten das Große und Ganze der exis­ten­ti­ellen Gewor­fen­heit aufge­zeigt. Keine Frage: Il Buco ist ein filmi­sches Ereignis, das einen die Demut lehrt.

Notizen aus dem Untergrund

Pastorale Stimmung, bukolische Bilder: Michelangelo Frammartinos kontemplativer Film Il Buco ist ein Paradebeispiel für die Mode des »Slow Cinema« – und für deren Grenzen

Ein Besuch in der Unterwelt; ein Höhlen­gleichnis. Man kann an Orpheus denken, an Odysseus, an den Mythos von Perse­phone, an alte Geheim­nisse und zeitlosen Aber­glauben.
Il Buco von Michel­an­gelo Framm­ar­tino lädt zu solchen Metaphern und zum Fabu­lieren ein, denn er löst die Fantasie des Betrach­ters, forciert aber nichts.

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Das titel­ge­bende »Loch« oder »Maul« ist der Name einer der tiefsten Höhlen Italiens. Und eine Gruppe von Menschen dringt hier immer weiter in deren Tiefe ein. Diese Gruppe waren ursprüng­lich, im Jahr 1961 italie­ni­sche Wissen­schaftler, die erstmals diese Tiefe hinab­stiegen. Man gräbt nichts aus, man erfährt nichts. Die Tiefe und die Leere sind keine Metapher, sondern eher der Ort, an dem Metaphern entstehen.

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Regisseur Michel­an­gelo Framm­ar­tino (ein 1968 in Mailand geborener Mailänder mit kala­bri­schen Eltern) stellt mit Hilfe von Schau­spie­lern und Höhlen­for­schern nun ihr Vorhaben sorg­fältig nach. Aber mit dem Abstand von jemandem, der sich auch dafür inter­es­siert, was sonst noch in dieser Gegend passiert ist. Oder auch nicht, denn das Leben in der Einöde Kalabriens, wo die Zeit still­zu­stehen scheint, verläuft mehr als geruhsam.

Il Buco sieht aus wie ein Doku­men­tar­film, ist aber ein nach­ge­stelltes Ereignis, das im Ergebnis auf halbem Weg zwischen Doku­men­tar­film, Fiktion und egozen­tri­scher Regieü­bung liegt. Daher muss man etwas abwarten, bis sich der Film entfaltet, und gerade sein Anfang fühlt sich für die Zuschauer ein wenig seltsam an.

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Der Film zeigt einer­seits idyl­li­sche Berge und Täler, grasende Kühe und schöne Wälder, eine ruhige, ländliche pastorale Stimmung in buko­li­schen Bildern, die der Regisseur Michel­an­gelo Framm­ar­tino in den nächsten andert­halb Stunden beibe­halten wird, ande­rer­seits den Abstieg ins absolute Dunkel.

Man muss schon in Stimmung sein für diesen gedul­digen, sehr ruhigen, auch sehr langsamen Film. Ein Para­de­bei­spiel für die Mode des »Slow Cinema« – und für deren Grenzen.
Es gibt keinen Dialog und keine erwäh­nens­werte Handlung. Man erfährt hier überhaupt nichts, es ist eine reine Beob­ach­tung. Il Buco ist ein echter Stummfilm, also auch ohne Musik. Alles ist dominiert von einer strengen, didak­ti­schen, objek­tiven, betont nicht-mensch­li­chen Perspek­tive. Positiver formu­liert: Der Betrachter erhält viel Zeit, um allerlei Gedanken und eigene Geschichten auf die Personen und Ereig­nisse zu proji­zieren.

Das eigent­lich Erstaun­liche dieses Films ist die Photo­gra­phie: Der erfahrene Kame­ra­mann Renato Berta (der mit Regis­seuren wie Godard, Rohmer und Louis Malle »aufge­wachsen« ist, aber auch in Hollywood gear­beitet hat) hebt die Poesie der Malerei mit der Kamera hier auf ein neues Niveau: Seine atem­be­rau­benden Totalen und hautnahen Aufnahmen sind von Respekt vor dem natür­li­chen Licht und dem Rohma­te­rial geprägt. Er sucht gezielt nach der Grenze von Sicht­bar­keit und Fixier­bar­keit, balan­ciert oft auf dem schmalen Grat zwischen Nichts und Etwas.

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Nahe­lie­gend, aber gewollt wäre es, an Platons Höhlegleichnis zu denken und an dessen Nähe zur Kino­theorie. Es geht dort darum, die Unwis­sen­heit derer, die gar nichts wissen, mit einer beschränkten Welt in Verbin­dung zu bringen, die an erfundene Schatten glaubt und Angst hat, sich dem Licht der Wahrheit zu stellen. In Il Buco geht die Wissen­schaft den umge­kehrten Weg und dringt in das Dunkel ein.

Die Höhle »Il Buco« ist nicht nur wegen der offen­sicht­li­chen Metapher für das mensch­liche Unter­be­wusst­sein aufregend, sondern auch, weil sie ein beson­derer »Ort« ist, an dem das Gefühl für Raum und Zeit gleich­zeitig aufge­geben wird, die physi­schen, messbaren Koor­di­naten der Realität verblassen und werden zu einem dünnen Papier. Das Licht verschwindet langsam aus den Augen des alten Schaf­hirten, der am Höhlen­ein­gang steht, während die Höhlen­for­scher das Licht immer tiefer und tiefer nehmen. Wie um zu sagen: Das Leben endet, wenn die Geheim­nisse zu Ende sind.

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Dieser Film ist weniger für »normale« Kino­be­su­cher geeignet, denn er geht einen guten Schritt über die Konven­tionen des Arthouse­kinos hinaus. Vielmehr ist dies fast schon eine Konzept-Instal­la­tion aus dem Bereich der Video­kunst, und eine Bild­me­di­ta­tion, aber nicht das, was man gemeinhin unter »Kino« versteht.

Il Buco ist in gewissem Sinne die totale Antithese zu allen soge­nannten Natur­filmen: Keine Erklä­rungen, sondern ein ruhiges, kontem­pla­tives, in sich geschlos­senes Kino, ohne Handlung, dafür eine Entde­ckungs­reise der Kamera.