Deutschland 2010 · 102 min. · FSK: ab 12 Regie: Pia Marais Drehbuch: Horst Markgraf, Pia Marais Kamera: Hélène Louvart Darsteller: Jeanne Balibar, Stefan Stern, Georg Friedrich, Julia Hummer, Alexander Scheer u.a. |
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Affirmativ beunruhigend |
»Am 20. Jänner ging Lenz ins Gebirg...« – an Georg Büchners Roman über einen Menschen, der sich zurückzieht, der sich verwildert und befreit, beides gleichzeitig, muss man denken bei dieser ungewöhnlichen Kinogeschichte, einem Psychothriller anderer Art. Im Alter von Ellen ist der zweite Spielfilm von Pia Marais, der mit Die Unerzogenen ein ungewöhnliches,
mehrfach preisgekröntes Debüt gelang. Jetzt erzählt Marais von einer Stewardess, die in eine Lebenskrise gerät.
Zuerst zeigt sie diese Ellen ausschließlich von hinten, in einer einzigen langen Einstellung, noch in Stewardessenuniform. Sie lebt in einer mehr oder weniger festen, mehr oder weniger bürgerlichen Zweierbeziehung. Bald ist klar, dass der Freund sie betrogen hat, aber nicht, was beide noch voneinander wollen. Wie lebt man zusammen, wenn man viel weg ist? –
Diese Frage bildet das Leitmotiv dieser ersten Gespräche. Es herrscht eine große Müdigkeit zwischen diesem Paar, dessen Umgang vor allem von Formen aufrecht gehalten wird. Von Anfang an scheint sich Ellen in einem seltsamen Trance zu befinden. Bis zum Ende des Films wird sie fast nie laut, zeigt sie nie einen ganz klaren, eindeutigen Willen. Ihre Äußerungen, ihre Gefühle, die ganze Person scheint wie in Watte gepackt. Sofort liegt riesige Distanz zwischen ihr und der Welt.
Die Französin Jeanne Balibar spielt diese Frau, die selber nicht genau weiß, wie ihr geschieht, als sie von einem Moment auf den nächsten ihre Existenz hinter sich lässt, und sich, nur mit einem Koffer und in ihrer Flug-Uniform, auf eine Reise durchs moderne Leben begibt. Wie in Trance bewegt sie sich – zuerst durch die Berufswelten von Geschäftsreisenden, die sich irgendwo zwischen den letzten Meetings schon verloren haben, und bei deprimierenden Partys im Hotelzimmer wiederzufinden hoffen; dann trifft sie auf eine Gruppe linker Aktivisten, Globalisierungs- und Tierversuchsbekämpfer, und probiert dort, kaum weniger vergeblich, neue Lebensformen aus.
»Man muss ständig Fremden vertrauen«, wundert sich Ellen einmal. Das Leben ist überhaupt schwieriger, als man gemeinhin glaubt, auch das zeigt dieser Film, den man ebenso als konkretes Experiment verstehen kann, wie einer eigentlich ohne Geld und Wohnung überleben könnte in unserer Zivilisation – hierin erinnert er gelegentlich an Birgit Möllers Valerie vor ein paar Jahren –, wie dann auch als ganz universelle Entfremdungsstudie. »Manchmal muss man von etwas wegkommen«, so geht es dieser Figur, die auch nicht besser weiß, wo sie eigentlich hinwill. Am Ende landet Ellen in Afrika, und so lässt sich der ganze Film auch als modernes Märchen schildern, das sich um eine Frau dreht, die verzaubert wurde. Man muss da noch einmal, wie schon zuvor, öfters auch an White Material denken, jenen großartigen neuesten Film von Claire Denis. »Naivité is a dangerous attitude to have out here«, sagt in Afirka jemand zu Ellen, einer dieser Sätze, die wie Messerstiche sind.
Das ganze Geschehen als Depression und Burn-Out zu verstehen, wäre der derzeit beliebte Jargon des Therapeutischen, der in allem und jedem eine potentiell behandelbare Krankheit sehen möchte – ein großes soziales Beruhigungsunternehmen. Man würde dann Ellens Verhalten, als Panikattacken banalisieren, und Ellens Schritt aus der narzisstischen Kränkung heraus erklären, dass ihr Exfreund mit einer anderen Frau ein Kind erwartet. Es wäre schlicht zum »Frauenproblem« geronnen. Dagegen muss Im Alter Von Ellen als grundsätzliches Statement gegen solche Herangehensweisen und psychosoziales Schubladendenken verstanden werden, dem sich der Film immer wieder geschickt entzieht – was mancher Betrachter dem Film nicht verzeihen wird. Pia Marais scheint eher an Beunruhigung und Irritation interessiert, als daran, ihre Figuren zu behandeln und zu kurieren.
Man kann in alldem auch grundsätzlicher die Skizze einer Entbürgerlichung erkennen, die Suche nach den vergessenen Hoffnungen und Träumen unserer Zivilisation, und einen ebenso traurigen, wie mild ironischen Abgesang auf die untergehende Welt des Westens, die alle ihre Versprechen von Freiheit und Glück längst verraten hat. Und eine von Rousseau inspirierte Grand Tour der Entfremdung, die am Ende auf andere Weise ins gleiche »Heart of Darkness« führt wie einst Coppolas Apocalypse Now.
Am Ende steht das Offene, das auch das Nichts sein könnte. Ellen scheint ganz vernünftig, sie spricht Alltägliches mit den Leuten; tut alles, wie es die Anderen tun, und lebt so dahin. Doch es scheint mitunter, als sei in ihr auch jene »entsetzliche Leere« ohne Angst und Verlangen, von der Büchner im erwähnten »Lenz« schreibt. Sie will etwas Sinnvolles tun, sucht so etwas wie den Sinn ihres Lebens, und illustriert doch auch die Unfähigkeit, ihn zu finden. Die Menschen um sie bezeichnet
sie, nicht ohne Hochmut, als »Brücke«. Ihr ist, in gewissem Sinn, auf Erden nicht zu helfen.
Zugleich ist dieser ausgezeichnete Film, ein erster Höhepunkt deutschen Filmschaffens in diesem Jahr, zwar ein philosophisches Werk, das erfolgreich sehr ernsthafte, tiefe Fragen angeht; es ist aber auch ein unerzogener, antiakademischer Film, der jederzeit unvorhersehbar und unverfugt bleibt, der immer etwas wagt und ausprobiert, wie immer wieder in großen Szenen mit Tieren –
ein Affe, hunderte von Hühnern, Katzen und Hunde – die am allerlebendigsten wirken, am freiesten, und deren Verhalten das der Menschen zu spiegeln scheint; ein Film voller Offenheit und Witz, voller trockener Dialoge, voller kleiner schmutziger und großer magischer Momente – wie jenem, in dem Ellen einem Gepard begegnet, dessen folgende Betäubung sehr wohl auch als Sinnbild für den Zustand der Hauptfigur genommen werden darf. Eine Frau, die ihr Leben hinter sich lassen muss,
aber nicht weiß wohin es gehen kann.