Schweden 2007 · 89 min. · FSK: ab 6 Regie: Roy Andersson Drehbuch: Roy Andersson Kamera: Gustav Danielsson Darsteller: Jessica Lundberg, Elisabeth Helander, Björn Englund, Leif Larsson, Ollie Olsson u.a. |
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Surreale Albtraumphantasie |
Ein Mann schläft, wacht auf, erzählt von seinem letzen Alptraum. Er handelte von einem Atomkrieg. Apokalypse und Untergang sind im Kino von Roy Andersson (Songs from the Second Floor) so präsent wie das Träumen, und vielleicht ist alles, was nun folgt, tatsächlich nur ein böser, schöner Traum dieser ersten Figur und ihres Regisseurs. Was für eine Szenefolge: »Keiner versteht mich, kein Schwein«, ruft verzweifelt eine Frau im Park, und es wird nicht das letzte Mal sein, dass wir das von ihr hören. Ein Mann steht in seinem Wohnzimmer, vor sich ein große Pauke. Er hört Marschmusik, irgendeinen Hit der Arbeiterbewegung vermutlich, und dann schlägt er dazu die Pauke, und sieht glücklich aus. Eine Grundschullehrerin betritt ihre Klasse. »Guten Morgen!«, sagen die Schüler brav wie aus einem Mund, da bekommt sie einen Weinkrampf, und verlässt das Klassenzimmer, ihr Mann habe sie »Schlampe« genannt, sagt sie schluchzend. »Was ist das?« wollen die Kinder wissen, »das müsst ihr schon selber rausfinden«, gibt sie zurück, bevor sie weiterschluchzt.
Kurze Szenen dieser Art folgen aufeinander, wir sehen vor allem öffentliche Räume, Schulen, Amtsstuben, die mit dicken Aktenordnern und noch dickeren Männern vollgestopft sind, aber auch Kneipen, deren Kunden fast ausschließlich in blaugrauer Arbeiterkluft gekleidet sind. Fast alles hier, die Wandfarben und die Kleidung, aber auch die Gesichter sind pastellfarben, blaugrau und lindgrün, gelegentlich blassrosa; die Welt, die Roy Andersson uns zeigt, wirkt schon vergangen, sie trägt noch Spuren der klassischen Industriegesellschaft, ist sozusagen fordistisch, prädigital: Es ist die verwaltete Welt der Fließbänder und Industriehallen, der Bürokratie und der Gewerkschaftsheime, der Suppenküchen und öffentlichen Asyle verschiedenster Art, und ihre Farbe ist das Grau der kafkaesken Gänge von Behörden und das schmutzige Weiß von Milchglas; aus ihr verbannt ist das öde Bunt der neuen Servicecenter der Krankenkassen und Arbeitsämter, die sich den zum lästigen Kunden mutierten Leistungsempfängern mal Magenta, mal Aquamarin, aber immer plastikhaft asozial präsentieren. Ameisenhaft und depressiv, aber nicht unbedingt schlecht gelaunt schlurfen und stehen, schweigen und starren die Menschen hier; sie und ihre Welt wirken so, wie bei Tati, vielleicht etwas weniger absurd, weniger schmunzelnd, wirklich verzweifelt.
Eingeleitet hatte das alles ein Zitat aus Goethes Zehnter Römischer Elegie: »Freue Dich also Lebendger der lieberwärmeten Stätte, ehe den fliehenden Fuß schauerlich Lethe Dir netzt.« Und das setzt uns Zuschauer auf die Spur, gleich doppelt, auch wenn wir es nicht sofort begreifen: Denn es geht hier ums Totenreich, und irgendwann wird man eine Straßenbahn sehen – wir sind im Wohlfahrtsstaat, auch wenn dies die Hölle sein mag, gibt es doch öffentlichen Personennahverkehr. Die Endstation der Bahn heißt »Lethe«, wie der Totenfluß, der Fluss des Vergessens.
Kurz darauf erzählt ein Mann eine der abgründigsten, lustigsten, ja: schönsten Geschichten dieses Films: Im Blaumann tauchte er bei einer bürgerlichen Familie am höchst bürgerlich gedeckten Familientisch auf, 200 Jahre alt sei das Porzellan, wird ihm erklärt. »Sie können ganz beruhigt sein«, antwortet er, dann führt er seinen Trick vor, der erwartungsgemäß missglückt und das Geschirr zerstört. Als die Tischdecke mitsamt dem Gedeck von der Tafel verschwunden ist, werden zwei Hakenkreuze als Intarsien sichtbar. Die Tischgesellschaft bleibt stehen, regungslos, wie Todesboten. Dann findet sich der Täter vor Gericht wieder. »Das Service war von der Großmutter meiner Großmutter meiner Großmutter«, klagt die Nebenklägerin, die drei Richter trinken Bier, und verurteilen ihn gut gelaunt zum Tode. Er nimmt das Urteil ganz gelassen hin, im Gegensatz zu seinem fortwährend schluchzenden Anwalt. Dann sieht man den elektrischen Stuhl, ein Handwerker, natürlich im Blaumann, muss nochmal letzte Hand anlegen, die Zuschauer hinter der Glasscheibe gedulden sich und mampfen Popkorn wie Kinopublikum Auch wenn sich das alles dann als Alptraum entpuppt, der Abgrund bleibt.
Anderssons wunderbarer, in erlesenen Bilder erzählter Film Du levande (»Du Lebender«), der auf deutsch ausnahmsweise mal recht sinnig in Das jüngste Gewitter umgetauft wurde, ist geprägt von Humor und Scharfsinn, von einer Diagnose, die dem Zuschauer fortwährend sein Jüngstes Gericht vorwegnimmt. Es ist ein höchst gegenwärtiger Surrealismus, den Andersson hier praktiziert, der uns die Absurdität unseres Lebens voller Witz vor Augen führt, und paradoxerweise in Optimismus mündet. In Anderssons Film begegnen wir den Toten, die wir alle sein werden, das Glück liegt hier und jetzt.