Japan 2023 · 124 min. · FSK: ab 12 Regie: Hayao Miyazaki Drehbuch: Hayao Miyazaki Musik: Joe Hisaishi Schnitt: Akane Shiraishi, Rie Matsubara, Takeshi Seyama |
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Break On Through (To the Other Side)... | ||
(Foto: Wild Bunch) |
»I was thinking of a series of dreams
Where nothing comes up to the top.
Everything stays down where it’s wounded
And comes to a permanent stop.
Wasn’t thinking of anything specific,
Like in a dream, when someone wakes up and screams.
Nothing truly very scientific,
Just thinking of a series of dreams.«
– Bob Dylan, A Series of Dreams (Official HD Video)
Wer die letzten großen Animes gesehen hat, die es den weiten Weg aus Japan in die deutschen Kino geschafft haben – Filme wie The First Slam Dunk (2023), Suzume (2022) oder Your Name (2016) –, der dürfte zuerst einmal verblüfft sein, einen neuen Film aus dem sagenhaften Studio Ghibli zu sehen, jenem Studio Ghibli, das mit seinen zentralen Kreativgestirnen Hayao Miyazaki und Isao Takahata und Filmen wie Die letzten Glühwürmchen (1988), Kikis kleiner Lieferservice (1989) Prinzessin Mononoke (1997), Chihiros Reise ins Zauberland (2001) oder Die Legende der Prinzessin Kaguya (2013) den Anime nicht nur in Japan in neue Regionen geführt hat, sondern ihn auch in deutschen Kinder- und Elternzimmern heimisch hat werden lassen.
Doch mit Hiromasa Yonebayashis wundervollen Erinnerungen an Marnie (2014) wurde es still um Ghibli, gab es nur noch einen Emanzipationsversuch der jungen Ghibli-Generation im Jahr 2020, der von Hayao Miyazakis Sohn Gorō Miyazaki ohne großen Erfolg in Szene gesetzte Aya und die Hexe, was wohl auch daran lag, dass es nach dem Tod von Isao Takahata im Jahr 2018 für junge Talente noch einmal schwieriger wurde, sich gegen Hayao Miyazakis Erwartungen und Vorstellungen durchzusetzen, und er damit fast schon ein Helmut Kohl des Anime geworden ist, glaubt man zumindest den ernüchternden Aussagen seines Sohnes im Interview mit der FAZ.
Wer nun also den neuesten und vielleicht letzten Film des 83-jährigen Hayao Miyazaki sieht und noch voller Bilder- und Szenario-Welten der oben genannten Animes der letzten Jahre ist, darf staunen, so wie alle gestaunt haben, als die ersten Ghibli-Werke es in den Westen schafften. Denn anders als die gegenwarts-fokussierten neuen Klassiker, die sich z.B. auf Basketball oder Umweltkatastrophen konzentrieren, war und ist Ghibli immer auch wie ein Gedicht gewesen, wurde man berührt, ohne unbedingt zu verstehen, warum man berührt wurde.
Zwar gab es durchaus Realitätsbezüge, war gerade für die vom Zweiten Weltkrieg und seine soziopolitischen Auswirkungen auf das moderne Japan geprägten Alt-Regisseure des Studios dieser Bezug und der Einbruch der Moderne auch in anderen Belangen wichtig, um ihn in Kontrast mit modern interpretierten Welten der japanischen Mythologie zu setzen, ohne dabei – und das ist sehr wichtig – zu einem Urteil für oder gegen eine dieser Welten verleitet zu werden, ist es etwa wie in Hayao Miyazakis Ponyo – Das große Abenteuer am Meer (2008) vielmehr ein assoziativer, äußerst poetischer und dann auch wieder rationaler Brückenschlag, der die Welten verbindet, statt sie gegeneinander auszuspielen.
Aber es geht natürlich auch anders, denn ganz ohne Gegenwartsbezüge setzte Hayao Miyazakis künstlerischer und geschäftlicher Partner Isao Takahata in seinem großartigen Vermächtnis, seinem letzten Film, der Legende der Prinzessin Kaguya (2013) einen Film auf, in der er erzählerisch und künstlerisch einem alten japanischen Märchen zu einer berauschenden Wiedergeburt verhilft.
Auch Hayao Miyazaki wagt in seinem Film etwas Neues. Anders als in seinen früheren Werken, wo so etwas wie eine gegenwärtige Realität, eine Art materieller Verortung immer im Gleichgewicht zu den märchenhaften, poetischen Anteilen stand, begibt sich Miyazaki in Der Junge und der Reiher nur in den Anfangsszenen mit einem sinnlichen Realismus ab, der so lebensnah wie stilisiert dem kindlichen Blick des 12-jährigen Mahito aus dem 1943 zerbombten Tokio in die Provinz folgt, wo sein Vater nach dem Tod der Mutter seine Arbeit in einer verdeckt arbeitenden Rüstungsfabrik weiterführt. Zwar kümmert sich die Schwester die Mutter und auch neue Frau des Vaters um Mahito, doch das Haus, in dem sie leben, ist wie in früheren Filmen Miyazakis nicht weit von einer verwunschenen Zone gelegen, der sich Mahito vorsichtig und dann neugierig annähert, weil ihm eine Wiederbegegnung mit seiner im Bombenhagel Tokios verstorbenen Mutter versprochen wird.
Wie in Takahatas letztem Film sind auch hier die meisten Tableaus handgezeichnet und wurden nur für einen besseren räumlichen Eindruck mit 3D-Computergrafiken erweitert. Wie in Die Legende der Prinzessin Kaguya lösen sich auch bei Miyazaki die Details immer wieder auf, vor allem dann, wenn Miyazakis junger Held sich immer weiter von Traum zu Traum hangelt, in immer neue Zonen des eigenen Unterbewussten eindringt. Die früher so präsenten Flugobjekte in Miyazakis Filmen – man denke nur an Porco Rosso (1992), Das Schloß im Himmel (1986) oder Kikis kleiner Lieferservice – sind in Der Junge und der Reiher eben durch jenen im Titel stehenden Reiher ersetzt, der wie ein Lotse den jungen Wiedergänger von Ibsens Peer Gynt durch seine Weltenfahrt geleitet, ihn mal lockt, dann wieder angreift.
Hier und dort, im historischen Japan wie im Traumland tauchen dann Figuren auf, die es in allen Filmen Miyazakis gibt, schrullige, hexenartige Frauen, Tantchen, die führen und verführen, die helfen und irritieren, und sind natürlich auch hier immer wieder Fabelwesen am Werk, Zauberer und eine groteske Armada grandios kolorierter Sittiche. Doch anders als in seinen Meisterwerken entwickeln diese Wesen keine wirkliche Eigendynamik, bedienen nicht konstruktiv ein feingesponnenes Narrativ, sondern wirken ein wenig vereinzelt, verloren und aufgesetzt, auch wenn sie weiterhin durch ihre irre Extravaganz berauschen. Und wie so oft in seinen Filmen vernachlässigt Miyazaki auch hier sein Ende, wirkt das, was passiert, ein wenig übereilt und unausgegoren, vor allem aber operiert Miyazaki mit einer überraschend klaren Aussage, die über die Mutter formuliert wird. Die ist so ungewöhnlich – für einen Ghibli-Film jedenfalls –, dass man sich tatsächlich fragen muss, ob das nicht auch ein versteckter Abschiedsbrief von Miyazaki sein könnte, der am Ende seiner Tage erkennt, dass man sterben muss, um geboren zu werden. Was nicht nur für das Leben, sondern natürlich auch und gerade für alle Künste gilt.