Frankreich/Neuseeland 2019 · 103 min. · FSK: ab 12 Regie: Justin Pemberton Drehbuch: Matthew Metcalfe, Justin Pemberton, Thomas Piketty Kamera: Jacob Bryant, Darryl Ward Schnitt: Sandie Bompar |
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Gute Gründe für Optimismus? |
Es ist eine Binsenweisheit, dass Politiker fast alles versprechen, um gewählt zu werden. Wenn sie die Wahl gewonnen haben, machen sie fast alles, um ihre Ämter zu behalten. Dazu gehört, die Interessen von Lobbyisten zu bedienen, die ihnen zur Macht verholfen haben. Für die Lösung von Problemen oder Zukunftsvisionen fehlen Zeit, Energie und natürlich Geld.
Logisch, dass immer mehr Bürger*Innen der Politik misstrauen und ihr Schicksal auf eigene Faust mitbestimmen wollen. Zu tun gibt es mehr als genug. Bienensterben, Waldsterben, Artensterben, Klimawandel, Rassismus, Flüchtlingskrise, Dieselskandal, Verspätungen der DB, skandalöse Managergehälter, Mietenwahnsinn, Glyphosat und so weiter und so fort.
Wer keine Lust oder Zeit hat, ständig auf Demos zu gehen oder Petitionen zu unterschreiben, kann sich gegen ein großes Übel
engagieren und viele Fliegen mit einer Klappe schlagen. Dieses Meta-Übel gilt als Ursache für fast alle aufgezählten Missstände. Es ist der Neoliberalismus, bzw. Kapitalismus.
In den letzten Jahrzehnten wurde seinen Kritikern gebetsmühlenartig entgegnet, dass ein freier Markt automatisch für das Wohlergehen aller sorgen würde, nicht nur der reichen Oberschicht. Obwohl die Realität immer schon Zweifel genährt hat.
Im Jahr 2013 erschien Das Kapital im 21. Jahrhundert von Thomas Piketty. Der französische Wirtschaftswissenschaftler wies mit penibel recherchierten Zahlen nach, was jeder, der Augen und Ohren hat, wusste: Reiche werden immer reicher, Arme immer ärmer.
In Westeuropa und den USA wurde das Buch ein Bestseller. Doch statt Taten löste es zustimmendes Nicken
aus oder gleichgültiges Schulterzucken. Die meisten Leser gehörten zur Mittelschicht. Die ist, global betrachtet, immer noch vermögend.
Doch der Reichtum, der die Reichen immer reicher macht, wird nicht nur von den Armen abgeschöpft, sondern auch von der Mittelschicht. Inzwischen auch in Westeuropa und den USA. Die Entwicklung verläuft so dramatisch, dass nicht nur Demokratien bedroht sind, sondern auch unser Planet und damit die Menschheit.
Doch wie macht man aus episch langen Statistiken aus fast 400 Jahren einen Dokumentarfilm? Der Regisseur, Justin Pemberton, zeigt kaum Volks- und Wirtschaftswissenschaftler, die den abstrakten Zahlenkolonnen Leben einhauchen. Er setzt auf die Macht der Bilder. Selbstgedrehte oder gesammelte, sogar extra produzierte Animationen. Auf jeden Fall hat der Cutter alles elegant montiert. Bei Ereignissen, die vor der Erfindung des Films stattgefunden haben, sieht man Szenen aus Verfilmungen historischer Romane. Zum Beispiel das Luxusleben des französischen Adels vor der Französischen Revolution.
Kurz staunt und feixt man darüber, die komplizierte Geschichte des Kapitals so sexy und fluffig serviert zu bekommen, anstatt ein Sachbuch zu lesen. Bis plötzlich Michael Douglas auftaucht. Als Gordon Gecko in Wall Street aus dem Jahr 1987. Spätestens jetzt wird klar: Wenn man Animationen, Stumm-, Dokumentar- und Spielfilme so hemmungslos mixt, kann man wirklich alles und jedes beweisen...
Ein paar Snapshots aus der Fischtheke einer Nordseefiliale zusammen geschnitten mit ein paar Szenen aus Sindbads gefährliche Abenteuer, Moby Dick und Der weiße Hai, fertig ist die packende Doku »Fische gegen Menschen – wer wird gewinnen?« Sampelt man statt Haiangriffe Flipper und Findet Nemo, bekommt man – abrakadabra, simsalabim – die herzerwärmende Doku »Fische – die besten Freunde der Menschheit«. Moment mal, sind Delphine nicht Säugetiere? Ach egal, Schwamm drüber! Wenn man überzeugen will, gilt »Wirkung vor Wahrheit«. Eigentlich eine Regel aus der Trickkiste von Drehbuchautoren. Spin-Doktoren setzen sie auch erfolgreich ein, wenn Lügen Fakten ersetzen sollen.
Es ist nicht nur der laxe Umgang mit Bildern, der einen schalen Nachgeschmack hinterlässt. Es sind auch viele der Bilder selbst. Besonders Sequenzen, in denen die Welt der Superreichen präsentiert wird. Villen, Swimmingpools, Gated Communities, Luxus-Tower und Yachten nehmen obszön mehr Raum ein als Bilder aus Slums. Von Rentnern, die Pfandflaschen sammeln, hungernden Kindern oder zahnlosen Obdachlosen. Obwohl man die nicht lange suchen müsste.
Schon seltsam, wenn der Autor
des Buches wie auch der Regisseur angetreten zu sein scheinen, die Anwälte der Armen zu sein. Vielleicht gehört es ebenso zu ihren Anliegen, Geld zu verdienen. Eine Doku mit schönen Bildern und Happy End, das den Zuschauern ein Lächeln aufs Gesicht zaubert, verspricht mehr Gewinn, als eine, nach der man auf dem Heimweg den nächsten Apple Store plündern will. (Weil Apple zu den reichsten Firmen der Welt gehört, die so gut wie keine Steuern zahlen, nirgends.)
Anders lässt sich das versöhnliche Schlusswort nicht erklären. Hier erfährt man aus heiterem Himmel, dass es gute Gründe für Optimismus gäbe. Wirklich grotesk, wenn es ein paar Minuten früher hieß, dass es in der Geschichte nur wenige Ereignisse gab, nach denen das akkumulierte Kapital neu verteilt wurde: nach blutigen Bürgerkriegen, verheerenden Weltwirtschaftskrisen und den zwei Weltkriegen, die jeweils Millionen Todesopfer forderten.
Fazit: Das Kapital im 21. Jahrhundert ist eine unterhaltsame Doku, die für echte Empörung sorgt, etwas Angst einjagt, neidisch macht auf alle Superreichen, aber letztlich erleichtert und einlullt. Fast wie ein guter Horrorfilm – passend für die Zeit um Halloween.