Deutschland 2003 · 112 min. Regie: Franz Müller Drehbuch: Franz Müller Kamera: Frederik Walker Darsteller: Arved Birnbaum, Jan Henrik Stahlberg, Nicole Marischka, Heidi Ecks u.a. |
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Vergiss' mein nicht |
Zunächst glaubt Jörg, dass er schon wieder einen Fehler gemacht hat. Der reichlich schwerfällige und schüchterne Ossi absolviert gerade einen Management-Kurs in Köln, um seine marode Firma zu retten. Eben wollte ihm sein schnöseliger Motivationstrainer Marius beibringen, wie man, um souverän zu erscheinen, »richtig durch eine Tür geht«. Doch als Jörg die fragliche Tür öffnet, befindet er sich urplötzlich in einem ganz anderen Seminarraum. Und nach wenigen Minuten schon hat er gemerkt, dass dies keine optische Täuschung oder ein Alptraum – Jörg befindet sich tatsächlich gemeinsam mit Marius in einer Parallelwelt. Der Rest der Gruppe ist spurlos verschwunden, genau wie seine Familie, wie alles, was er kennt. Im eigenen Haus wohnen ganz andere Leute.
Franz Müllers (Kein) Science Fiction ist einer der originellsten und vergnüglichsten deutschen Filme der letzten Zeit. Mit einfachsten Mitteln hat der Regisseur hier tatsächlich einen Science-Fiction Film geschaffen, der ganz ohne fliegenden Untertassen und Aliens auskommt, in seiner Realitätsnähe aber um so beklemmender ist. Die Welt sieht aus, wie unsere, und bis auf ein entscheidendes Detail funktioniert sie auch genauso. Der Unterschied: Wenn eine Tür hinter Jörg und Marius geschlossen wird, kann sich keiner mehr an sie erinnern. Das hat – vor allem aus Sicht des zynischen Marius – zunächst einige Vorteile, erleichtert zum Beispiel Ladendiebstähle, kostenloses Wohnen im Hotel, und das folgenlose Vernaschen von Frauen. Zugleich führt es zu absoluter sozialer Isolation. Man kann noch nicht einmal bei geschlossener Tür aufs Klo gehen, ohne das sämtliche Bekanntschaften im Nirwana landen. Und als Jörg und Marius beide Interesse für die Hotel-Rezeptionistin Anja entwickeln, wird ihre Situation vollends zum Problem.
Lange Zeit lebt der Film vom Miteinander seiner beiden höchst ungleichen Hauptfiguren. Er funktioniert dabei auch als soziales Experiment: Wie reagiert eine Gesellschaft auf Menschen, die sich für die Folgen ihres Handelns nicht interessieren. Jan Henrik Stahlberg als Marius ist brillant in der Rolle des arroganten Provokateurs. Ähnlich wie in dem Film Muxmäuschenstill, der soeben den Max-Ophüls-Preis gewann, improvisiert Stahlberg hier mitten auf der Straße mit »richtigen« Menschen. Diese Szenen mit ihrer Mischung aus Realität und Fiktion machen einen Teil der besonderen Wirkung des Films aus, und erinnern gelegentlich an Reality-TV. Arved Birnbaum als statischer Gegenpol zu diesem Hektiker hat es da schwerer. Ausgezeichnet als Anja ist Nicole Marischka, die elegant die Unterschiede ihrer Mitspieler ausgleicht.
(Kein) Science Fiction, dessen Grundidee von Kurt Vonnegut inspiriert wurde, ist ein kluges Drama über Weltverlust. Zugleich erinnert die Story daran, dass uns auch ohne Parallelwelt jederzeit sehr vieles möglich ist. Wir müssen nur wollen. Das stellt Franz Müller selbst unter Beweis – schließlich ist dieser bemerkenswerte Film erst sein Hochschulabschlussstück. Mit wenig Geld und Zeit schafft Müller viel.
PS: Der Film lief auf Festivals noch unter dem Titel Science Fiction, als der er lange Zeit auch angekündigt wurde. Doch offenbar glauben manche Produzenten nicht an Parallelwelten. Der Produzent des gleichnamigen, ziemlich belanglosen Kinderfilms hat sich nun die letzten Sympathien damit verscherzt, dass er den Münchner Verleiher Bernd Brehmer drei Tage vor Filmstart mit einem Titelstreit und absurden Klageforderungen überschüttete – im Bewusstsein, dass so knapp allemal nicht mehr viel zu ändern ist.