Deutschland 2011 · 116 min. · FSK: ab 12 Regie: Cyril Tuschi Drehbuch: Cyril Tuschi Kamera: Cyril Tuschi Schnitt: Salome Machaidze, Cyril Tuschi |
||
»Das ist der Boss.« |
»Thats men’s business« wusste Machokanzler Gerhard Schröder, der ansonsten vor dem »deutschen Zeigefinger« warnt und mit Ex-Stasi-Kadern wie Matthias Warnig Geschäfte macht. »Was passiert, wenn die das Gas abdrehen?« – diese Frage dominiert das deutsche Verhalten gegenüber Russland, und daher war auch die deutsche Kanzlerin schnell verstummt, als Lobbyisten von Ruhrgas und BASF an die geopolitischen Prioritäten der Republik erinnerten. Diese deutsche Perspektive darf man nicht vergessen, sie ist aber nur Nebensache bei Cyril Tuschis erfolgreichem Versuch, die Geschichte des »Fall Chodorkowski« jetzt in einem Dokumentarfilm aufzurollen.
Ein langer Kameraschwenk leitet den Film ein. Er zeigt eine weite Winterlandschaft. Ein schönes ruhiges Bild, das insofern die Haltung des Weiteren vorgibt, als dass Regisseur Cyril Tuschi sich in seinem Dokumentarfilm Zeit lässt, seine Geschichte mit gebotener Ausführlichkeit zu erzählen, und dass ihm daran gelegen ist, den Film ästhetisch über das bloß Illustrative hinauszuheben, ihm etwa durch die Musik von Arvo Pärt und kurze Animationssequenzen Stil und Rhythmus zu geben – ein schweres Anliegen bei einem Film, der von komplexen Fakten handelt, und in dem viele Menschen ausführlich und in verschiedensten Sprachen zu Wort kommen.
Der Fall Chodorkowski handelt von einem der spektakulärsten Rechtsfälle und Wirtschaftskrimis der letzten Dekade: Dem Aufstieg und Fall von Michail Chodorkowski. In den 90er Jahren war er einer der jungen aufstrebenden Kapitalisten, die Auslandskapital in das Kapital-arme Land zu lenken verstanden, und mit kräftiger staatlicher Unterstützung zu jenen berüchtigten »Oligarchen« wurden. Damals legte er den Grundstein für sein Unternehmen »Yukos«, und irgendwann war der 1963 geborene Chodorkowski »der reichste Mann der Welt unter 40«. Er zeigte politische Ambitionen, und forderte den seit 2000 amtierenden Vladimir Putin heraus. Im Oktober 2003 wendete sich sein Glück: Chodorkowski wurde wegen Steuerhinterziehung verhaftet. Mehrfach hatte man ihn gewarnt, hatte ihm Gelegenheit gegeben außer Landes zu flüchten, sogar große Teile seines 2004 auf über 15
Milliarden geschätzten Vermögens außer Landes zu bringen – nun wurde ihm ein politischer Prozess gemacht. Es ging seinen Angreifern nicht darum, ihn ökonomisch zu ruinieren, sondern darum, seine politischen Ambitionen zu bremsen, ihn als Herausforderer der Macht kaltzustellen. Und damit auch stellvertretend ein Exempel an allen anderen Oligarchen zu vollstrecken: »Wer mit einem Wolfsrudel fertig werden will« erklärt das die NGO-Aktivistin Irina Yasina sehr bildhaft,
»muss nur einen töten: Den schnellsten, schönsten und klügsten.«
Seit 2004 sitzt Chodorkowski unter harten Bedingungen in Sibirien in Haft; gegen Ende seiner Haftstrafe kam es zu einer zweiten Anklage und Ende 2010 wurde er zu einer weiteren sechsjährigen Haftstrafe verurteilt. Am Rande dieses symbolischen Prozesses kam es aufgrund von Tuschis Hartnäckigkeit zu dem allerersten kurzen Interview, das Chodorkowski nach seiner Inhaftierung vor westlichen Kameras gab. Hierin
geht er vor allem auf die Absurdität der neuen Anklage ein, in der ihm vorgeworfen wurde, 350 Tonnen Rohöl gestohlen zu haben. Schon technisch sei das unmöglich: »Ein Zug mit soviel Öltanks würde die Erde dreimal umrunden können.«
Ohne es offen auszusprechen, lässt Tuschi keine Zweifel aufkommen, wo die Angreifer Chodorkowskis zu suchen sind: Im Kreml um den mächtigsten Mann Russlands Vladimir Putin und dessen Vertraute. Anschaulich erzählt Joschka Fischer, wie Putin ihm und Schröder einmal bei einem Treffen erzählte »morgen werdet ihr mal sehen, wie das geht.« Als eine »obskure Investorengruppe aus dem Nichts« bot und die Yukos-Rechte bekam. »Am nächsten Tag wurden sie weiter verkauft. An Rosneft. Damit war die Adresse, an die sich Zivilklage hätte richten können, in den Weiten Sibiriens verschwunden« – »von der legalen Seite her gefingert« sagt Fischer. Ein Jahr später war Yukos pleite.
Zugleich lässt der Film keine Zweifel, dass auch Chodorkowski nie ein Unschuldslamm war, sondern ein harter Manchesterkapitalist, ein Ölbaron und Spekulationsglücksritter, dessen Karriere sogar von »nützlichen Todesfällen« begleitet war. Hier wird Tuschi einmal offen parteiisch, weil die Vorwürfe des Auftragsmordes dann doch nur recht kurz zur Sprache kommen, bevor Freunde Chodorkowskis versichern, man dürfe das nicht glauben. »Ja, wir brachen mit heutigen ethischen Standards. Aber unsere Standards waren die Gesellschaft, in der wir lebten.« beschreibt Chodorkowski selbst seine frühere Haltung. »Yukoisierung«, so sagt es ein Anderer im Film, »war die Transformation eines kriminellen Startup-Business in ein neoliberales Startup-Business.« So bietet dieser Film auch eine ebenso tiefgründige und facettenreiche, wie subjektive Innenansicht in »das korrupte Imperium« (so die Rußlandkorrespondentin Kerstin Holm), das aus der Konkursmasse der UdSSR seit 1991 entstanden ist.
Das größte Rätsel bleibt dabei die Persönlichkeit Chodorkowskis: Seine Wegbegleiter beschreiben ihn als reserviert, schüchtern, intelligent, visionär, betonen die Aura und das Charisma eines Mannes, bei dem man, »wenn er den Raum betrat, sofort wusste: Das ist der Boss.«
Bis heute provoziert er seine Feinde vor allem durch Furchtlosigkeit. Er ließ sich auf keinen Deal mit der Justiz ein, schlug Angebote aus, sich freizukaufen. Statt zu gehen, zog er die Rolle des
politischen Märtyrers vor. Warum? Die Vermutungen im Film reichen von persönlichem Sühnebedürfnis für seinen Reichtum bis hin zu politischen Kalkül: Er habe ein politischer Gefangener werden wollen, um – »sacrifice the queen, in order to win the endgame« – eines Tages in Russland die Macht zu übernehmen: »Wenn man politische Ambitionen hat, ist es in Russland eine Sünde, reich zu sein.« Und einstweilen ist er für den russischen »Mann auf der Straße« nur »der Typ,
der Russland viel Geld gestohlen hat.« Oder handelt es sich gar um eine narzisstische Störung und einen Erlöserkomplex? Vor dem persönlichen Interview hat Tuschi auch mehrere Briefe mit Chodorkowski gewechselt. Darin schildert Chodorkowski seine Sicht der Dinge und versichert: »Diese Leute in Moskau fürchten, ich werde Rache suchen, weil sie nur in ihren eigenen Parametern denken. Keine Sorge: Ich werde nicht der Graf von Montechristo werden.«
Fünf Jahre hat Tuschi an Der Fall Chodorkowski gearbeitet. Das Ergebnis ist ein engagierter, sehr überzeugender und insgesamt sachlicher, nicht eifernder Film. Ein Dokumentarfilm als Politthriller. Darin rekonstruiert er die Biographie seiner Hauptfigur, spricht mit der Mutter Chodorkowskis, mit dessen erster Frau Lena und dem gemeinsamen Sohn – während Chodorkowskis jetzige Ehefrau und beider Tochter offenbar nicht zu sprechen waren, der trifft ehemalige Studienkollegen, Ex-Mitarbeiter und Freunde – die meist weit weg von Russland im Exil leben. Besonders prominent und ertragreich ist hier das Gespräch mit Leonid Nevzlin, einem der engsten Vertrauten Chodorkowskis, der sich selbst nur mit Mühe dem langen Arm von Putins Justiz entziehen kann. Auch Joschka Fischer kommt mehrfach zu Wort, und hebt sich dabei wohltuend von seinem ehemaligen Koalitionspartner Gerhard Schröder ab, indem er deutlich macht, wie vordemokratisch die Verhältnisse in Russland immer noch sind. Tuschi selbst kommt im Übrigen nur selten vor, hält sich dezent im Hintergrund, und vermeidet die Sünde des Michael-Moore-Style, bei der »die Reise«, die Recherche und die Erfahrungen des Dokumentaristen das, was dokumentiert wird, oft genug in den Hintergrund drängen. Dafür sieht man Wohnungen, Häuser und Datschen, eine verlassene »gated community« der Yukos-Führer, und erhält Einblick in das Leben der Superreichen des neuen Russland.
Einblick gibt es auch in die Denke des Westens. Stellvertretend dafür steht der deutsche Russland-Experte Alexander Rahr: Er mag ja recht haben, aber es wirkt dann doch nicht nur herzlos, sondern auch wie ein Einknicken vor Sachzwängen und kurzfristigen Interessen, wenn er sagt, der Fall Chodorkowskis »interessiert nur den Westen, ... der Mann ist in Russland Inbegriff des Oligarchen-Kapitalismus, dieser
Plünderung aus den 90er Jahren. In Russland würde seine Freilassung eher verstanden werden, als Schwäche gegenüber dem Westen. Deshalb hat er jetzt Pech gehabt.«
Joschka Fischer nimmt man das Bedauern immerhin ab, wenn er etwas resigniert feststellt: »Es gibt Interessen, es gibt Werte. Aber die Vorstellung: Es gibt Menschenrechte und die setzen wir jetzt durch – dann erreichen sie das Gegenteil. So funktioniert die Welt nicht.« Da hat er wohl recht. Im Gegensatz zu Fischer
hat Gerhard Schröder Tuschi kein Interview geben wollen. Der rächt sich mit einem TV-Ausschnitt der so entlarvend ist, wie es kein Interview-Satz hätte sein können: Offenbar handele es sich um einen Fall von Steuerhinterziehung, sagt Schröder in die Kameras, als er auf Chodorkowskis Schicksal und seinen Freund Putin angesprochen wird »und solche Menschen werden auch bei uns ins Gefängnis gesteckt.« Aber doch nicht in Sibirien, fragt der Moderator nach, worauf Schröder grinsend
antwortet, Sibirien stehe ja auch nicht zur Verfügung.
Warum sollte man Mitleid mit einem Oligarchen haben? Tuschi macht klar, dass es um Mitleid nicht geht, und auch nicht darum, wie schuldig oder unschuldig Chodorkowski ist. Er ist kein reines Opfer, im Gegenteil ist das System, in dessen Machtspielen er sich verfangen hat, und dessen Maschinerie ihn nun in ihren Fängen hält, von ihm selbst mitgeschaffen worden: »Das System ist nicht nur Putins. Er schuf das System, das ihn fertig gemacht hat.«
Es geht stattdessen allerdings um
fehlende Rechtsstaatlichkeit, und darum, Rechtsbeugung, Willkür und Unrecht ebenso beim Namen zu nennen, wie Verbrechen und Korruption der Regierenden in Putins Moskau. Diese Feststellung ändert nichts daran, dass man geneigt ist, Joschka Fischer recht zu geben, wenn er zu Tuschi gegen Ende sagt: »Die Welt ist nicht so, wie Sie sie sich vorstellen. Sie sind immer noch Idealist.« – »Ich bin auch Realist.« – »Nein!«