Deutschland 2018 · 116 min. · FSK: ab 12 Regie: Doris Dörrie Drehbuch: Doris Dörrie Kamera: Hanno Lentz Darsteller: Golo Euler, Aya Irizuki, Floriane Daniel, Birgit Minichmayr, Felix Eitner u.a. |
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Intensive Begegnungen mit den Lebenden und den Toten |
Eigentlich könnte die Geschichte auch für sich stehen, braucht es den Verweis im Grunde kaum, dass Kirschblüten & Dämonen auch die Fortsetzung von Doris Dörries Kirschblüten – Hanami ist. Damals, 2008, erzählte Dörrie von dem alten Allgäuer Ehepaar Trudi (Hannelore Elsner) und Rudi (Elmar Wepper), die im Angesicht des nahenden Todes ihr Leben aufzuräumen beginnen, im Besonderen ihr Familienleben. Am Ende ist es allerdings nur noch Rudi, der sterbenskrank seinen Sohn Karl (Maximilian Brückner) in Japan trifft. Doch statt die Beziehung zu seinem Sohn zu erneuern, hat Rudi mehr Erfolg damit, die Beziehung zu einer ihm anfänglich fremden Kultur zu etablieren.
Schon damals machte Dörrie unmissverständlich klar, dass die Erinnerungen einer Familie selten die gleichen sind, dass Kinder und Eltern (und auch Paare) gemeinsame Zeiten anders erinnern und damit auch anders interpretieren. Konzentrierte sich Dörrie 2008 allerdings noch auf die Perspektive der Eltern, die ernüchternd feststellen, wie groß die Distanz zwischen Eltern und Kindern ist, sind in Kirschblüten & Dämonen nun die Kinder und ihre Perspektive an der Reihe, ohne dabei allerdings in erzählerischen Seitensträngen jene zu vergessen, die Dörries Hanami nicht kennen, denn auch die verstorbenen Eltern kommen wieder zu Wort.
Dafür bedient sich Dörrie allerdings keiner Rückblenden, sondern lässt die Geister der Toten sprechen und so selbstverständlich in die Handlung eintreten, wie Dörrie das in den letzten Jahren während zahlreicher Japan-Aufenthalte und über inzwischen schon fünf Filme, die in Japan mit kleinen Teams entstanden sind, selbst erlebt und schätzen gelernt hat. Das mag sich im ersten Augenblick ein wenig esoterisch anhören, doch wer sich einmal den Dynamiken therapeutischen Familienstellens oder nachhaltigen Erinnerns ausgesetzt hat, weiß, dass die Macht der Toten nicht nur im japanischen Kulturraum omnipräsent sein kann.
In Kirschblüten & Dämonen bekommt dies vor allem Karl (statt Maximilian Brückner nun von Golo Euler verkörpert) zu spüren, dem zehn Jahre nach dem Tod seiner Eltern das Leben aus dem Ruder gelaufen ist, der aber durch den Besuch von Rudis japanischer Freundin Yu (Aya Irizuki) nicht nur zu einer Begegnung mit seinen toten Eltern »animiert« wird, sondern auch den Dialog zu seinen Geschwistern wieder aufnimmt. Diese Begegnungen mit den Lebenden und den Toten
sind gleichermaßen schwerwiegend und Dörrie gelingt es hier immer wieder herausragend, politische Realitäten mit Familienwahrheiten zu verweben. Denn Dörrie deutet nicht nur an, wie schwer das Erbe einer nicht offen formulierten Depression der Mutter auch den Sohn gefangen hält oder die SS-Vergangenheit von Rudis Vater zur Erstarrung des eigenen Sohns beigetragen hat, sondern auch, wie die politische Radikalisierung in Deutschland sich inzwischen bis in den
Mikrokosmos des ganz alltäglichen Familienlebens gefressen hat.
Und noch deutlicher als vor zehn Jahren erzählt Dörrie auch eine Geschichte über die Tragik sozialisierter Geschlechtsidentitäten, die sie in Kirschblüten & Dämonen über einen fast schon grotesken Verfremdungseffekt noch einmal auf die Spitze treibt. Doch so wie die Geister zum »Normalfall« werden, so gelingt es Dörrie auch, das »Absurde« völlig überzeugend ins »Alltägliche« zu
transformieren und Karls Identitätssuche auf neue Füße zu stellen, ohne dabei den eigentlichen Charakter zu verraten.
Damit wirkt auch Karls »Rückkehr« nach Japan alles andere als aufgesetzt, umso mehr nun auch endlich Zeit ist, die Geschichte von Yu zu erzählen. Und diese Erzählung wird zu einem wunderschönen, stillen Höhepunkt des Films, denn Yus Großmutter wird von der großartigen, japanischen Schauspielerin Kiki Kirin verkörpert (Unsere kleine Schwester, Shoplifters), die hier kurz vor ihrem eigenen Tod – Kirin starb im September 2018 – selbst über die verschlungenen Formen des Todes, und vor allem auch über den Suizid spricht, sprechen darf und in ihrer letzten Filmeinstellung ein Lied aus Akira Kurosawas Ikiru – Einmal wirklich leben intoniert: »Verliebe dich jetzt, Mädchen, bevor deine Lippen blass werden und deine Wangen nicht mehr rot sind, denn das Leben ist kurz, und wer weiß, ob es ein Morgen gibt.«
Doch Dörrie ist auch an ihren eigenen Gespenstern interessiert. Denn indem sie die Szenen mit Kirin und Euler in eben jenem Ryokan spielen lässt, in das sich Ozu Yasujirō immer wieder zum Schreiben zurückzog – und Hiro Kore-Eda (Shoplifters, Unsere kleine Schwester) das bis heute tut – würdigt sie auch Ozus Geist in ihren späteren Filmen. Denn ohne Ozus Tokyo Story wäre Kirschblüten – Hanami wohl nie entstanden. Und damit wohl auch kaum dieser intensive, kluge und schonungslose Film über die Gespenster unseres Alltags.