Kuß der Spinnenfrau

Kiss of the Spider Woman

Brasilien/USA 1985 · 124 min. · FSK: ab 16
Regie: Hector Babenco
Drehbuch:
Kamera: Rodolfo Sanchez
Darsteller: William Hurt, Raul Julia, Sonia Braga, José Lewgoy, Milton Gonçalves u.a.
Filmszene »Kuß der Spinnenfrau«
Nein, hier ist die Spinnenfrau nicht auf dem Bild
(Foto: Concorde / Filmbewertungsstelle)

Annäherung zweier ungleicher Männer

Gegen Ende seines Lebens war der argen­ti­nisch-brasi­lia­ni­sche Filme­ma­cher Héctor Babenco sehr krank. Zu sehen ist dies in der Doku­men­ta­tion Babenco – Tell me when I die (2019) seiner Frau, der Schau­spie­lerin Bárbara Paz. Und kurz nach Abschluss der Dreh­ar­beiten zu Kuß der Spin­nen­frau (1985) erkrankte Babenco im Alter von 38 Jahren an Krebs. Doch der Film präsen­tiert Babenco auf dem Höhepunkt seines Erfolges. Als erster latein­ame­ri­ka­ni­scher Regisseur erhielt er für die US-ameri­ka­nisch-brasi­lia­ni­sche Kopro­duk­tion eine Oscar­no­mi­nie­rung. Darüber hinaus war Kuß der Spin­nen­frau für den besten Film, das beste Drehbuch und den besten Haupt­dar­steller nominiert. Aller­dings erhielt nur der Haupt­dar­steller William Hurt (Heiss­blütig – kalt­blütig, 1981) die begehrte Auszeich­nung.

In dem Film spielt Hurt den homo­se­xu­ellen Schau­fens­ter­de­ko­ra­teur Luis Molina. Dieser ist zusammen mit dem links­ra­di­kalen Jour­na­listen Valentin Arregui (Raúl Juliá) in einer Zelle eines Gefäng­nisses in einem namen­losen südame­ri­ka­ni­schen Land einge­sperrt. Luis sitzt wegen Beläs­ti­gung eines Minder­jäh­rigen, während Valentin als Mitglied einer geheimen Unter­grund­or­ga­ni­sa­tion ein poli­ti­scher Gefan­gener ist. Die beiden Männer könnten unter­schied­li­cher nicht sein. Luis flieht vor der Realität in Erin­ne­rungen an alte Filme. Valentin ist dagegen bereit, sein Leben für den poli­ti­schen Kampf zu geben. Narben zeigen an, dass er gefoltert wird. Doch er gibt keine Namen seiner Mitver­schwörer preis.

Luis erscheint zu Beginn als geradezu klischee­hafter femininer Homo­se­xu­eller. Er läuft im Kimono und mit einem zu einem Turban aufge­wi­ckelten Handtuch auf dem Kopf in der Zelle herum. Neben seinem Bett hängen Fotos berühmter Holly­wood­schau­spie­le­rinnen. Dahin­gegen ist Valentin ein ebenfalls fast klischee­hafter Macho und Links­ra­di­kaler. Er ist zynisch und er ist verkniffen. All sein Denken kreist alleine um die gerechte Sache, für die er notfalls bis zum Tod zu kämpfen bereit ist.

Als Luis Valentin die Handlung von einem während der Besetzung durch die Natio­nal­so­zia­listen in Frank­reich spie­lenden Film erzählt, stellt Valentin nach kurzer Zeit erbost fest, dass es sich dabei um einen Propa­gan­da­film handelt. Doch Luis inter­es­siert alleine die tragisch-roman­ti­sche Liebes­ge­schichte um die Französin Leni Lamaison (Sônia Braga) und einen deutschen Offizier. Diese Geschichte erscheint als Film im Film als ein aus Versatz­stü­cken des Film noir der 1940er-Jahre zusam­men­ge­stü­ckeltes Melodram. Die Bilder dieses Films im Film sind mit einem Oran­ge­filter aufge­nommen. Alle Farben sind entweder Orange oder Braun. Nur die Rottöne stechen farbsatt heraus. Anfangs reagiert Valentin auf Luis' Erzäh­lungen der Film­hand­lung mit Verach­tung. Doch mit der Zeit ist er immer inter­es­sierter daran zu erfahren, wie es mit der Geschichte weiter­geht.

Kuß der Spin­nen­frau erzählt von der Annähe­rung dieser zwei so unglei­chen Männer. Als Valentin Magen­krämpfe und Durchfall bekommt, pflegt ihn Luis, so gut er kann. Langsam taut Valentin auf. Er muss erkennen, dass Luis ein äußerst fürsorg­li­cher Mensch ist. Dazu gäbe es aller­dings noch mehr zu sagen. Doch dies hieße, zu viel der Handlung zu verraten. Jeden­falls machen beide Charak­tere im Verlauf der Handlung eine große innere Entwick­lung durch. Valentin lernt, auch Gefühle zuzu­lassen, und Luis entwi­ckelt immer stärker eine uner­wartet kämp­fe­ri­sche Haltung.

Valentin erzählt Luis von seiner Geliebten Marta (ebenfalls Sônia Braga). Und nachdem er die Handlung des ersten Films zu Ende erzählt hat, beginnt Luis von einem zweiten Film zu berichten. Dieser dreht sich um die titel­ge­bende Spin­nen­frau (ein weiteres Mal Sônia Braga). Diese kümmert sich um einen gestran­deten Mann (Raúl Juliá). Diese Szene ist diesmal mit einem Blau­filter aufge­nommen. In der Figur der Spin­nen­frau verschmelzen durch die Darstel­lung durch die gleiche Schau­spie­lerin die Haupt­dar­stel­lerin aus Luis' NS-Melodram und Valentins Geliebte Marta zu einer einzigen Person. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen. Auch Valentin ist als Gestran­deter in die Handlung inte­griert.

Später im Film wird dieses Szenario mit ihm und Marta noch einmal aufleben. Dann hat Valentin erkannt, dass man sich manchen Reali­täten doch besser durch Träume entzieht. Dahin­gegen setzt sich Luis für Valentins Sache ein. Am Ende tauschen beide Männer fast komplett die Rollen. Ihre Begegnung hat ihrer beider Leben voll­kommen verändert.