Chile/F 2019 · 85 min. Regie: Patricio Guzmán Drehbuch: Patricio Guzmán Kamera: Samuel Lahu Schnitt: Emmanuelle Joly |
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Geografie und Geologie mit Politik und Geschichte verschränkt | ||
(Foto: Real Fiction) |
1973 ist der 1941 geborene chilenische Dokumentarfilmer Patricio Guzmán nach Verhaftung und Folter durch das Pinochet-Regime ins Ausland geflohen. Heute lebt Guzmán in Paris. In seinen Filmen beschäftigt er sich jedoch seit seiner Trilogie La batalla de Chile (1975-1979) mit seiner Heimat. Die Kordillere der Träume bildet den Abschluss einer zweiten Trilogie über Chile, die Geografie mit Geschichte verbindet. Nachdem Guzmán in DIE NOSTALGIE DES LICHTS (2010) die im Norden gelegene Atacamawüste erkundet und in Der Perlmuttknopf das im Süden befindliche Patagonien gezeigt hatte, präsentiert er in Die Kordillere der Träume die titelgebende Anden-Gebirgskette.
Diese nimmt 80 Prozent der Fläche des Landes ein und erreicht in Chile eine Höhe von bis zu 6000 Metern. Die Kordilleren bieten auf der einen Seite Schutz. Andererseits schotten sie Chile jedoch auch gegen die Nachbarländer ab. Sie werden in Die Kordillere der Träume von dem Kameramann Samuel Lahu in beeindruckenden Totalen in Szene gesetzt. Der im Film gezeigte Maler Guillermo Munoz hält sie in großformatigen Bildern fest, die in der Metro von Santiago de Chile zu sehen sind. Der Bildhauer Vicente Gajardo verarbeitet das Gestein zu monumentalen Skulpturen von archaischer Kraft. Patricio Guzmán bezeichnet das Gebirgsmassiv auch als einen stummen Zeugen – insbesondere der Gräueltaten der Pinochet-Diktatur.
Diese hatte der Filmemacher am eigenen Leib erfahren, ebenso wie die Sängerin Xaviera Parra und der Bildhauer Francisco Gazitúa. Der Schriftsteller Jorge Baradit beschreibt sie auf eloquente Weise. Er redet von der Verblendung, die die Vertreter des Pinochet-Regimes erfasst hatte. In einer Art mythischer Überhöhung wähnten diese sich in einem Kampf, bei dem es darum ging, das Land vom Krebsgeschwür der Linksradikalen zu befreien – und nicht unschuldige Männer, Frauen und Kinder zu ermorden. Eindrücklich schildert Baradit die vielfältigen Formen dieser Ausrottung des vermeintlichen Krebses – inklusive Folter und Verstümmelung.
Doch den Kern von Guzmáns Auseinandersetzung mit dem Pinochet-Regime bildet die Darstellung der Arbeit des Dokumentarfilmers Pablo Salas. Dieser war im Gegensatz zu Guzmán nach dem Putsch in Chile geblieben. Ab 1982 hat er den Widerstand gegen das Regime in Form von unzähligen Videoaufnahmen festgehalten. Diese stapeln sich im Archiv von Salas bis unter die Decke. In den gezeigten Ausschnitten sind insbesondere verschiedene Demonstrationen zu sehen, bei denen zivile Demonstranten mit Wasserwerfern bespritzt, zusammengeknüppelt und abtransportiert werden. Salas selbst sagt dazu, dass nur von fünf Prozent der Taten des Regimes Aufzeichnungen bestehen. Den Rest könne man sich aber aufgrund dieser Bänder schon recht gut vorstellen.
Salas und Baradit reden auch über das neue neoliberale Wirtschaftssystem, das die Pinochet-Regierung durchgesetzt hat und das bis heute weiterhin in Chile fortbesteht. Dieses System wurde den Chilenen Baradit zufolge einfach aufgepfropft, obwohl es eigentlich gar nicht zum Charakter dieses Volks passt. Deshalb habe sich eine große Melancholie im Land breit gemacht, da die Geselligkeit liebenden Chilenen durch diese neue Wirtschaftsordnung der unbedingten Rentabilität in die Vereinzelung getrieben wurden. Salas weist auch darauf hin, dass das Land in dem grenzenlosen Profitstreben verkauft wurde. Während unter Allende sämtliche Kupferminen verstaatlicht waren, befänden sich heute die größten dieser Minen gar nicht mehr in chilenischer Hand.
In Die Kordillere der Träume zeigt Patrizio Guzmán unheimliche Geisterzüge, welche das Kupfer bei Tag und bei Nacht von den Minen in den Kordilleren zu unbekannten Orten hin abtransportieren. Diese Züge folgen keinem Fahrplan und niemand kennt ihre Fahrtroute. Sie sind ein Beispiel dafür, wie Guzmán in Die Kordillere der Träume Geografie und Geologie mit Politik und Geschichte verschränkt. Gezeigt wird auch ein gewaltiges Areal in den Kordilleren, das kaum auf einer Karte zu finden ist und das sich heute komplett in Privatbesitz befindet. Um Zugang zu den privaten Straßen zu erlangen benötigt man eine Genehmigung.
So zeigt Guzmán, dass die Kordilleren einerseits eine Quelle großartiger Kultur sind. Auf der anderen Seite ist selbst diese gewaltige Anden-Gebirgskette nicht frei von den Einflüssen der bis in die Gegenwart reichenden Umwälzungen durch das Pinochet-Regime. Auf diese Weise wird dieses enorme Gebirgsmassiv in Die Kordillere der Träume zu einem Spiegel des Potenzials und der Korrumpierung Chiles. Guzmán führt in seiner Dokumentation Natur und Kultur, Geografie und Politik zusammen. Das Ergebnis ist beeindruckend.