01.07.2019
36. Filmfest München 2019

Kurz & knapp

Mein Ende Dein Anfang
Alles in einem: Mariko Minoguchis Mein Ende. Dein Anfang.
(Foto: Telepool)

Tipps und Kurzkritiken zum 37. Filmfest München, Teil 2

Von Redaktion

Chile von oben? Von wegen!
Patricio Guzmán: La Cordil­lera de los sueños

La Cordillera de los Sueños
Bilder unge­ahnter Tiefe und Tragweite

Chile von oben? Ein erbau­li­cher Naturfilm? So klingt es in der Voran­kün­di­gung zum Film La Cordil­lera de los sueños von Patricio Guzmán, und in der Tat setzt der latein­ame­ri­ka­ni­sche Meister des Doku­men­tar­films in impo­santen Heli­ko­pter­auf­nahmen immer wieder die schnee­be­deckten Gipfel der Anden ins Bild. Jener Bergkette, die das topo­gra­phi­sche Rückgrat des schmalen, sich von Norden nach Süden erstre­ckenden Landes bildet, das er nach dem Putsch Pinochets letztlich im fran­zö­si­schen Exil hinter sich gelassen hat.
Als wir dann aber bei Pablo Salas im Arbeits­zimmer sitzen, das bis zum Bersten auf sich durch­bie­genden Regal­bret­tern mit Film­kas­setten in den unter­schied­lichsten Formaten voll­ge­stopft ist, bekommen wir Zugang zu einer anderen Art von Bildern. Salas ist während der Diktatur in Chile geblieben und hat rastlos die Über­griffe der Militärs und der Polizei auf die Demons­tranten in der Öffent­lich­keit gefilmt. Was man da im Video­format zu sehen bekommt, lässt einen die majes­tä­ti­schen Breit­wand­bilder von den Berg­gip­feln komplett vergessen: das hemmungs­lose Nieder­knüp­peln und Zusam­men­treten von unbe­waff­neten und wehrlosen Demons­tranten ist so nieder­schmet­ternd, dass man heulen und kotzen könnte.
Und man ist dann erleich­tert, die erhabenen Natur­auf­nahmen wieder sehen zu dürfen. Aber das brutale Vorgehen der Schergen Pinochets war so erschüt­ternd, dass einem auch die scheinbar so unver­rück­baren Berg­riesen nicht mehr als dieselben vorkommen. Guzmán ruft die Kordil­leren als Zeugen an. Und er zeigt die aus dem Fels des Gebirges gehauenen Pflas­ter­steine in den Straßen Santiagos, über die die Stiefel der Armee marschierten und über die das Blut der Opfer geflossen ist.
Und zusammen mit Guzmán ist man schließ­lich unendlich dankbar dafür, dass Salas das alles unbe­schadet über­standen hat. Und man ist dankbar für diese Zusam­men­ar­beit von einem, der nach Verhaf­tung und Folter ins Exil gehen musste, und einem, der trotz allem geblieben ist und unge­bro­chen nach vorne blickt. Guzmán filmt, wie Salas auch in der Gegenwart bei Demos weiter­filmt, und wenn man die Wasser­werfer aufrücken sieht, befürchtet man unwill­kür­lich, dass die Vergan­gen­heit nicht endgültig gebannt ist. Guzmán kann darlegen, wie der von der Pinochet-Diktatur mit US-ameri­ka­ni­scher Hilfe in Chile modell­haft instal­lierte Neoli­be­ra­lismus in Form der immensen Kupfer­minen Wunden in die Gebirgs­land­schaft geschlagen hat, wie dieser Neoli­be­ra­lismus eine Gesell­schafts­struktur instal­liert hat, die bis heute Wirt­schaft und Politik bestimmt. So bekommen die Bilder Chiles von oben eine ungeahnte Tiefe und Tragweite.
Wolfgang Lasinger

La Cordil­lera de los sueños von Patricio Guzmán
Di 02.07., 22:30 Uhr, Münchner Freiheit 1

Schuld & Sühne in München
Mariko Minoguchi: Mein Ende. Dein Anfang.

Mein Ende Dein Anfang
Diese wunder­baren Momente des Einhal­tens

Was für ein tolles Debüt von Mariko Minoguchi in der Reihe Neues Deutsches Kino. Liebes­ge­schichte, Krimi­nal­drama und narrative Umsetzung von quanten- und rela­ti­vi­täts­theo­re­ti­schen Ideen in einem, ist Mein Ende. Dein Anfang.. Aber auch ein wunder­schön foto­gra­fierter München-Film, der sich nicht davor scheut, eine komplexe Geschichte über Schuld und Sühne, Vergessen und Vergeben ruhig noch ein wenig kompli­zierter zu erzählen. Aufgelöst wird diese Komple­xität jedoch schon in der nächsten Einstel­lung, in der die Gefühle wieder die Führung über­nehmen. Und dann sind da noch diese wunder­baren Momente des Einhal­tens, wenn die Bilder stehen, etwa wenn Mino­guchis tolle Haupt­dar­stel­lerin Saskia Rosendahl mit ihrem Kopf an einer Scheibe lehnt und die einzige Bewegung ihr Atem ist, der an der Scheibe konden­siert und wieder verschwindet, konden­siert und wieder verschwindet.
Axel Timo Purr

Mein Ende. Dein Anfang. von Mariko Minoguchi, mit Saskia Rosendahl, Edin Hasanovic, Julius Feldmeier
Mittwoch, 03.07.2019, 17:00 Uhr, HFF Kino (mit Q&A)
Samstag, 06.07.2019, 19:30 Uhr, ASTOR Kino (mit Q&A)

Klare Win-Win-Situation
Ilker Çatak: Es gilt das gespro­chene Wort

Es gilt das gesprochene Wort
Packend, mit trockenem Humor und zärt­li­chen Momenten

Am Anfang erinnert Ilker Çataks Es gilt das gespro­chene Wort aus der Reihe Neues Deutsches Kino noch ein wenig an Ulrich Seidls Paradies: Liebe: türkische Gigolos, die sich in Marmaris an der türki­schen Küste wohl­ha­benden europäi­schen Frauen anbieten. Doch dann kommt die deutsche Pilotin Marion (Anne Ratte-Polle) ins Spiel und radiert alles, was an Seidl erinnert, wieder aus. Im Schatten ihrer Krebs­dia­gnose läuft sie allen Erwar­tungs­hal­tungen zuwider und ermög­licht dem jungen Türken Baran (Ogulcan Arman Uslu) einen Start in Deutsch­land. Doch auch diese unver­hoh­lene Kritik an unserem neoli­be­ralen Wirt­schafts­system konter­ka­riert Ilker Çataks genauso wie die Bezüge zu Seidls Filmen und macht aus seinem Film am Ende eine packende und immer wieder über­ra­schende, mit trockenem Humor und zärt­li­chen Momenten erzählte Geschichte über die Macht der Struk­turen und die thera­peu­ti­schen, befrei­enden Möglich­keiten inter­kul­tu­reller Bezie­hungen.
Axel Timo Purr

Es gilt das gespro­chene Wort von Ilker Çatak, mit Anne Ratte-Polle, Ogulcan Arman Uslu, Godehard Giese
Dienstag, 02.07.2019, 18:00 Uhr, Send­linger Tor

Die schmale Grenze zwischen reich und arm
Christina Ebelt: Sterne über uns

Sterne über uns
Souverän erzählte Geschichte

Allein schon wegen des schau­spie­le­ri­schen Parforce­ritts von Franziska Hartmann als junger, allein­er­zie­hender Mutter und angehende Stewar­dess Melli ist Sterne über uns aus der Reihe Neues Deutsches Kino ein unbe­dingtes Muss. Aber auch die Geschichte, die Christina Ebelt hier souverän erzählt, hat es in sich. Ebelt zeigt nicht nur, wie schmal die Grenze zwischen reich und arm, aufge­fangen und abge­stürzt in Deutsch­land verläuft, sondern fächert über Melli und ihren Sohn Ben (Claudio Magno) auch die ganzen persön­li­chen Abhän­gig­keiten und Alltags­ni­schen auf, die mal mehr oder weniger zu Bedeu­tungs- und Rettungs­trä­gern werden können. Wie Franziska Hartmann im Stewar­dess-Kostüm immer wieder aus dem Zelt­ver­steck eines Stadt­waldes zur Arbeit am Flughafen und in die vertrock­neten Amts­stuben unseres Landes stakst und dabei versucht, wenigs­tens ihre Conten­ance zu bewahren, wo sie sonst doch schon alles verloren hat, ist großes Kino.
Axel Timo Purr

Sterne über uns von Christina Ebelt, mit Franziska Hartmann, Claudio Magno, Kai Ivo Baulitz, Nicole Johann­han­wahr, Davina Donaldson, Elias Reichert
Dienstag, 02.07.2019, 18:00 Uhr, Münchner Freiheit 3 (mit Q&A)

Die Lügen des Lebens
Sophie Kluge: Golden Twenties

Golden Twenties
Suche nach glaub­wür­digen Rollen

Schon in Dominik Grafs Die geliebten Schwes­tern war es kaum möglich, sich Henriette Confurius' Blick auf die Welt zu entziehen. Erst recht nicht in Sophie Kluges Coming-of-Age Geschichte der Mitt­zwan­zi­gerin Ava, die nach einem Studium im Ausland wieder zu Hause bei ihrer Mutter landet und mit dem distan­zierten Blick dessen, der im Geist noch in der Fremde wandelt, auf ihr altes Umfeld und ihre möglichen Zukunften blickt. Ein wenig wie Tom Schilling vor sieben Jahren in Oh Boy ist auch sie eine Verlorene, aber Kluges Kritik an der Welt ist schärfer als die von Jan-Ole Gerster. Sie zeigt gnadenlos die aufge­setzten Gefühle unseres Alltags, die täglichen Maske­raden, die Lügen des Lebens im Privaten wie im Insti­tu­tio­nellen, selbst und viel­leicht gerade in der Welt des Theaters. In präzisen, wunder­schön traurigen Momenten lassen sich Kluge und ihre groß­ar­tige Haupdar­stel­lerin aber auch viel Zeit, um die verzwei­felte Suche ihrer eigenen Gene­ra­tion nach glaub­wür­digen Rollen im Leben zu skiz­zieren.
Axel Timo Purr

Golden Twenties von Sophie Kluge, mit Henriette Confurius, Max Krause, Inga Busch, Franziska Machens, Hanna Hilsdorf
Samstag, 06.07.2019, 17:30 Uhr, HFF AudimaxX (mit Q&A)

Alexis Sorbas 2.0
Florian Gott­schick: Rest in Greece

Rest in Greece
Leben braucht Leben

In nur 76 Minuten gelingt Florian Gott­schick ein über­ra­schend gegen­wär­tiger Relaunch des alten Alexis Sorbas-Themas. Ähnlich dem alten Klassiker von Michael Cacoyannis findet auch hier ein junger Schrift­steller zu seinem wahren Ich, doch nicht nur er. Auch alle anderen Betei­ligten erfahren über sexuelle Selbst­er­mäch­ti­gung, dass das Leben erst mal ein wenig Leben braucht, um verstanden und genossen zu werden.
Axel Timo Purr

Rest in Greece von Florian Gott­schick, mit Caroline Erikson, Margarita Siotou, Jacob Matschenz, Michail Tabakakis
Mittwoch, 03.07.2019, 15:00 Uhr, HFF AudimaxX (mit Q&A)
Donnerstag, 04.07.2019, 19:00 Uhr, Münchner Freiheit 2 (mit Q&A)

Texas liegt in Hessen
Tom Sommer­latte: Bruder Schwester Herz

Bruder Schwester Herz
Bissig und desil­lu­sio­nie­rend

Gut, es gibt Valeska Grise­bachs Western, aber der spielt in Bulgarien. Und es gibt natürlich Hark Bohms Tschetan, der India­ner­junge, aber das ist lange her. Tom Sommer­latte bringt den Western endlich wieder nach Deutsch­land, und zwar in die hessische Gegenwart, auf eine kleine Stier­zucht­farm, in der Bruder, Schwester und Vater symbio­tisch vor sich hin leben, bis plötzlich ein »Indianer« in ihr Leben tritt, der alles verändert. Nebenbei erzählt Sommer­latte aber auch vom Alltag des bäuer­li­chen Deutsch­lands und zwar angenehm bissig und desil­lu­sio­nie­rend. Die großen Gefühle, die er evoziert, sind glaub­würdig und sein Ensemble, allen voran Karin Hanc­zewski als Lilly spielen groß auf.
Axel Timo Purr

Bruder Schwester Herz von Sophie Kluge, mit Sebastian Fräsdorf, Karin Hanc­zewski, Wolfgang Pack­häuser, Jenny Schily, Godehard Giese
Mittwoch, 03.07.2019, 20:00 Uhr, HFF AudimaxX (mit Q&A)
Donnerstag, 04.07.2019, 09:30 Uhr, HFF Kino (mit Q&A)

Tod wo ist dein Stachel
Mark Webber: The Place of No Words

Place of no words
Unheim­liche Inten­sität

Nicht ganz so tran­szen­dental wie David Lowery in seiner A Ghost Story geht Mark Webber mit dem Thema Tod eines jungen Vaters mit zurück­blei­bender Klein­fa­milie um. Mehr als das Jenseits inter­es­sieren Webber in The Place of No Words die intro­spek­tiven Fanta­sie­f­luchten des drei­jäh­rigen Bodhi (Bodhi Palmer), die das Sterben von Mark (Mark Webber) in eine kindliche Fantasy-Sprache über­setzen, die Mark sich mit Bodhi über kindliche Ritter­spiele erar­beitet hat. Die Fantasien werden mit der Realität punkt­genau gegen­ge­schnitten und erzeugen eine unheim­liche Inten­sität, die der Angst vor dem Tod letzt­end­lich den Stachel nimmt und vor allem zum Ende des Films eine dichte, fast düstere emotio­nale Kraft in den Raum stellt.
Axel Timo Purr

The Place of No Words von Mark Webber, mit Mark Webber, Teresa Palmer, Bodhi Palmer, Nicole Elizabeth Berger, Eric Christian Olsen
Mittwoch, 03.07.2019, 17:00 Uhr, Atelier 2