36. Filmfest München 2019
Kurz & knapp |
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Alles in einem: Mariko Minoguchis Mein Ende. Dein Anfang. | ||
(Foto: Telepool) |
Von Redaktion
Chile von oben? Ein erbaulicher Naturfilm? So klingt es in der Vorankündigung zum Film La Cordillera de los sueños von Patricio Guzmán, und in der Tat setzt der lateinamerikanische Meister des Dokumentarfilms in imposanten Helikopteraufnahmen immer wieder die schneebedeckten Gipfel der Anden ins Bild. Jener Bergkette, die das topographische Rückgrat des schmalen,
sich von Norden nach Süden erstreckenden Landes bildet, das er nach dem Putsch Pinochets letztlich im französischen Exil hinter sich gelassen hat.
Als wir dann aber bei Pablo Salas im Arbeitszimmer sitzen, das bis zum Bersten auf sich durchbiegenden Regalbrettern mit Filmkassetten in den unterschiedlichsten Formaten vollgestopft ist, bekommen wir Zugang zu einer anderen Art von Bildern. Salas ist während der Diktatur in Chile geblieben und hat rastlos die Übergriffe der
Militärs und der Polizei auf die Demonstranten in der Öffentlichkeit gefilmt. Was man da im Videoformat zu sehen bekommt, lässt einen die majestätischen Breitwandbilder von den Berggipfeln komplett vergessen: das hemmungslose Niederknüppeln und Zusammentreten von unbewaffneten und wehrlosen Demonstranten ist so niederschmetternd, dass man heulen und kotzen könnte.
Und man ist dann erleichtert, die erhabenen Naturaufnahmen wieder sehen zu dürfen. Aber das brutale
Vorgehen der Schergen Pinochets war so erschütternd, dass einem auch die scheinbar so unverrückbaren Bergriesen nicht mehr als dieselben vorkommen. Guzmán ruft die Kordilleren als Zeugen an. Und er zeigt die aus dem Fels des Gebirges gehauenen Pflastersteine in den Straßen Santiagos, über die die Stiefel der Armee marschierten und über die das Blut der Opfer geflossen ist.
Und zusammen mit Guzmán ist man schließlich unendlich dankbar dafür, dass Salas das alles unbeschadet
überstanden hat. Und man ist dankbar für diese Zusammenarbeit von einem, der nach Verhaftung und Folter ins Exil gehen musste, und einem, der trotz allem geblieben ist und ungebrochen nach vorne blickt. Guzmán filmt, wie Salas auch in der Gegenwart bei Demos weiterfilmt, und wenn man die Wasserwerfer aufrücken sieht, befürchtet man unwillkürlich, dass die Vergangenheit nicht endgültig gebannt ist. Guzmán kann darlegen, wie der von der Pinochet-Diktatur mit US-amerikanischer
Hilfe in Chile modellhaft installierte Neoliberalismus in Form der immensen Kupferminen Wunden in die Gebirgslandschaft geschlagen hat, wie dieser Neoliberalismus eine Gesellschaftsstruktur installiert hat, die bis heute Wirtschaft und Politik bestimmt. So bekommen die Bilder Chiles von oben eine ungeahnte Tiefe und Tragweite.
Wolfgang Lasinger
La Cordillera de los sueños von Patricio Guzmán
Di 02.07., 22:30 Uhr, Münchner Freiheit 1
Was für ein tolles Debüt von Mariko Minoguchi in der Reihe Neues Deutsches Kino. Liebesgeschichte, Kriminaldrama und narrative Umsetzung von quanten- und relativitätstheoretischen Ideen in einem, ist Mein Ende. Dein Anfang.. Aber auch ein wunderschön fotografierter München-Film, der sich nicht davor scheut, eine komplexe Geschichte über Schuld und Sühne, Vergessen und Vergeben
ruhig noch ein wenig komplizierter zu erzählen. Aufgelöst wird diese Komplexität jedoch schon in der nächsten Einstellung, in der die Gefühle wieder die Führung übernehmen. Und dann sind da noch diese wunderbaren Momente des Einhaltens, wenn die Bilder stehen, etwa wenn Minoguchis tolle Hauptdarstellerin Saskia Rosendahl mit ihrem Kopf an einer Scheibe lehnt und die einzige Bewegung ihr Atem ist, der an der Scheibe kondensiert und wieder verschwindet, kondensiert und wieder
verschwindet.
Axel Timo Purr
Mein Ende. Dein Anfang. von Mariko Minoguchi, mit Saskia Rosendahl, Edin Hasanovic, Julius Feldmeier
Mittwoch, 03.07.2019, 17:00 Uhr, HFF Kino (mit Q&A)
Samstag, 06.07.2019, 19:30 Uhr, ASTOR Kino (mit Q&A)
Am Anfang erinnert Ilker Çataks Es gilt das gesprochene Wort aus der Reihe Neues Deutsches Kino noch ein wenig an Ulrich Seidls Paradies: Liebe: türkische Gigolos, die sich in Marmaris an der türkischen Küste wohlhabenden europäischen Frauen anbieten. Doch dann kommt die deutsche Pilotin Marion
(Anne Ratte-Polle) ins Spiel und radiert alles, was an Seidl erinnert, wieder aus. Im Schatten ihrer Krebsdiagnose läuft sie allen Erwartungshaltungen zuwider und ermöglicht dem jungen Türken Baran (Ogulcan Arman Uslu) einen Start in Deutschland. Doch auch diese unverhohlene Kritik an unserem neoliberalen Wirtschaftssystem konterkariert Ilker Çataks genauso wie die Bezüge zu Seidls Filmen und macht aus seinem Film am Ende eine packende und immer wieder überraschende, mit
trockenem Humor und zärtlichen Momenten erzählte Geschichte über die Macht der Strukturen und die therapeutischen, befreienden Möglichkeiten interkultureller Beziehungen.
Axel Timo Purr
Es gilt das gesprochene Wort von Ilker Çatak, mit Anne Ratte-Polle, Ogulcan Arman Uslu, Godehard Giese
Dienstag, 02.07.2019, 18:00 Uhr, Sendlinger Tor
Allein schon wegen des schauspielerischen Parforceritts von Franziska Hartmann als junger, alleinerziehender Mutter und angehende Stewardess Melli ist Sterne über uns aus der Reihe Neues Deutsches Kino ein unbedingtes Muss. Aber auch die Geschichte, die Christina Ebelt hier souverän erzählt, hat es in sich. Ebelt zeigt nicht nur, wie schmal die Grenze zwischen reich und arm,
aufgefangen und abgestürzt in Deutschland verläuft, sondern fächert über Melli und ihren Sohn Ben (Claudio Magno) auch die ganzen persönlichen Abhängigkeiten und Alltagsnischen auf, die mal mehr oder weniger zu Bedeutungs- und Rettungsträgern werden können. Wie Franziska Hartmann im Stewardess-Kostüm immer wieder aus dem Zeltversteck eines Stadtwaldes zur Arbeit am Flughafen und in die vertrockneten Amtsstuben unseres Landes stakst und dabei versucht, wenigstens ihre
Contenance zu bewahren, wo sie sonst doch schon alles verloren hat, ist großes Kino.
Axel Timo Purr
Sterne über uns von Christina Ebelt, mit Franziska Hartmann, Claudio Magno, Kai Ivo Baulitz, Nicole Johannhanwahr, Davina Donaldson, Elias Reichert
Dienstag, 02.07.2019, 18:00 Uhr, Münchner Freiheit 3 (mit Q&A)
Schon in Dominik Grafs Die geliebten Schwestern war es kaum möglich, sich Henriette Confurius' Blick auf die Welt zu entziehen. Erst recht nicht in Sophie Kluges Coming-of-Age Geschichte der Mittzwanzigerin Ava, die nach einem Studium im Ausland wieder zu Hause bei ihrer Mutter landet und mit dem distanzierten Blick dessen, der im Geist noch in der Fremde wandelt, auf ihr altes Umfeld und ihre
möglichen Zukunften blickt. Ein wenig wie Tom Schilling vor sieben Jahren in Oh Boy ist auch sie eine Verlorene, aber Kluges Kritik an der Welt ist schärfer als die von Jan-Ole Gerster. Sie zeigt gnadenlos die aufgesetzten Gefühle unseres Alltags, die täglichen Maskeraden, die Lügen des Lebens im Privaten wie im Institutionellen, selbst und vielleicht gerade in der Welt des Theaters. In präzisen,
wunderschön traurigen Momenten lassen sich Kluge und ihre großartige Haupdarstellerin aber auch viel Zeit, um die verzweifelte Suche ihrer eigenen Generation nach glaubwürdigen Rollen im Leben zu skizzieren.
Axel Timo Purr
Golden Twenties von Sophie Kluge, mit Henriette Confurius, Max Krause, Inga Busch, Franziska Machens, Hanna Hilsdorf
Samstag, 06.07.2019, 17:30 Uhr, HFF AudimaxX (mit Q&A)
In nur 76 Minuten gelingt Florian Gottschick ein überraschend gegenwärtiger Relaunch des alten Alexis Sorbas-Themas. Ähnlich dem alten Klassiker von Michael Cacoyannis findet auch hier ein junger Schriftsteller zu seinem wahren Ich, doch nicht nur er. Auch alle anderen Beteiligten erfahren über sexuelle Selbstermächtigung, dass das Leben erst mal ein wenig Leben braucht, um verstanden
und genossen zu werden.
Axel Timo Purr
Rest in Greece von Florian Gottschick, mit Caroline Erikson, Margarita Siotou, Jacob Matschenz, Michail Tabakakis
Mittwoch, 03.07.2019, 15:00 Uhr, HFF AudimaxX (mit Q&A)
Donnerstag, 04.07.2019, 19:00 Uhr, Münchner Freiheit 2 (mit Q&A)
Gut, es gibt Valeska Grisebachs Western, aber der spielt in Bulgarien. Und es gibt natürlich Hark Bohms Tschetan, der Indianerjunge, aber das ist lange her. Tom Sommerlatte bringt den Western endlich wieder nach Deutschland, und zwar in die hessische Gegenwart, auf eine kleine Stierzuchtfarm, in der
Bruder, Schwester und Vater symbiotisch vor sich hin leben, bis plötzlich ein »Indianer« in ihr Leben tritt, der alles verändert. Nebenbei erzählt Sommerlatte aber auch vom Alltag des bäuerlichen Deutschlands und zwar angenehm bissig und desillusionierend. Die großen Gefühle, die er evoziert, sind glaubwürdig und sein Ensemble, allen voran Karin Hanczewski als Lilly spielen groß auf.
Axel Timo Purr
Bruder Schwester Herz von Sophie Kluge, mit Sebastian Fräsdorf, Karin Hanczewski, Wolfgang Packhäuser, Jenny Schily, Godehard Giese
Mittwoch, 03.07.2019, 20:00 Uhr, HFF AudimaxX (mit Q&A)
Donnerstag, 04.07.2019, 09:30 Uhr, HFF Kino (mit Q&A)
Nicht ganz so transzendental wie David Lowery in seiner A Ghost Story geht Mark Webber mit dem Thema Tod eines jungen Vaters mit zurückbleibender Kleinfamilie um. Mehr als das Jenseits interessieren Webber in The Place of No Words die introspektiven Fantasiefluchten des dreijährigen Bodhi (Bodhi Palmer), die das Sterben von Mark (Mark Webber) in eine kindliche
Fantasy-Sprache übersetzen, die Mark sich mit Bodhi über kindliche Ritterspiele erarbeitet hat. Die Fantasien werden mit der Realität punktgenau gegengeschnitten und erzeugen eine unheimliche Intensität, die der Angst vor dem Tod letztendlich den Stachel nimmt und vor allem zum Ende des Films eine dichte, fast düstere emotionale Kraft in den Raum stellt.
Axel Timo Purr
The Place of No Words von Mark Webber, mit Mark Webber, Teresa Palmer, Bodhi Palmer, Nicole Elizabeth Berger, Eric Christian Olsen
Mittwoch, 03.07.2019, 17:00 Uhr, Atelier 2