36. Filmfest München 2019
Kurz & knapp |
||
Corinna Harfouch als subkutan vibrierendes Zentrum in Jan-Ole Gersters LARA |
Von Redaktion
Die Sektion „Neues Deutsches Kino“ auf dem 37. Münchner Filmfest läuft und läuft und hört einfach nicht auf gut zu sein. Die große Qualität dieser Reihe, die bei weitem zentraler platziert werden sollte, hatten Rüdiger Suchsland und ich bereits am Dienstag in einem langen Gespräch auf Youtube im Rahmen unseres arteshots-Special unterstrichen. Nun ist ein weiteres Kleinod hinzugekommen, Elisa Mishtos Stillstehen.
Stillstehen ist wie fast alle Beiträge der Reihe, auch ein Film über die mal mehr oder weniger gnadenlose Selbstermächtigung weiblicher Charaktere gegenüber restriktiven, dezidiert männlichen Erwartungshaltungen. Wie Mishto hier über den Charakter der Krankenschwester Agnes (Luisa Céline Gaffron) das seit dem
Dritten Reich kaum angetastete Bild der „guten deutschen Mutter“ dekonstruiert, ist nicht nur völlig befreiend und in seiner Radikalität ein furioser Grenzgang zwischen Komödie und Tragödie, sondern fordert den Betrachter, zumal den männlichen, auch immer wieder an die eigenen, beschämenden Grenzen unserer perfide eng gesteckten, herrschenden Moral.
Dabei ist die eigentliche Heldin von Stillstehen gar nicht Agnes, sondern Julie (Natalia
Belitski), die die Geschichte in ihrer wundervoll fotografierten Eingangseinstellung einfach nur träumt, aber das ist eigentlich egal. Denn eigentlich wünschen wir uns ja alle dann und wann so ein Handlungsspektrum. Sich nicht nur mit auch auf der Straße getragenen gelben Haushaltshandschuhen von der Welt zu distanzieren und damit eigene Kindheitstraumata im Zaum zu halten, sondern dann und wann auch zur Tat zu schreiten, etwa den Wagen eines One-Night-Stands abfackeln, um
sich danach für einige Wochen in der Abgeschiedenheit einer psychiatrischen Klinik noch ein wenig mehr von der Umwucht des normalen Alltags erholen zu können. Dort begegnet Julie dann auch Agnes, eine Begegnung, die für beide Frauen einen kathartischen Selbstreinigungsprozess in Gang setzt, der in seiner emotionalen Wucht und in seiner genauen Beobachtung des psychiatrischen Klinikumfelds immer wieder an Miloš Formans Einer flog über das Kuckucksnest erinnert.
Aber zum Glück entzieht sich Stillstehen schon im nächsten Moment auch dieser Erwartungshaltung, überrascht nicht nur durch eine visuelle Ästhetik, die im deutschen Kino selten ist, sondern auch durch Dialoge, die skalpellartig scharf, schnell und mit federleichtem, bösem Witz so schnell unter die Haut dringen, dass man den Schmerz erst
spürt, wenn das Blut schon lange fließt.
Axel Timo Purr
Stillstehen von Elisa Mishto, mit Natalia Belitski, Luisa Céline Gaffron, Giuseppe Battiston, Martin Wuttke, Katharina Schüttler
Donnerstag, 04.07.2019, 22:30 Uhr, HFF AudimaxX (mit Q&A)
Samstag, 06.07.2019, 19:30 Uhr, HFF Kino 1
YouTube ist nicht der Untergang des Abendlandes. Es ist noch nicht mal der Untergang des Kinos.
Bo Burnham hat auf der Plattform erste Berühmtheit erlangt. Und sein Spielfilmdebüt handelt von einer Welt, in der Streaming-Kanäle, Social Media etc. selbstverständlich zur Lebenswirklichkeit gehören, ob’s einen nun jubilieren lässt oder nicht. Aber selbst wenn in Eighth Grade schon für ältere Teenager die Dreizehnjährigen, die seit der fünften
Klasse mit Snapchat und Instagram aufgewachsen sind, als eine neue, ein bisserl beängstigende Generation gelten – der Film hat vor allem ein Gespür dafür, was die Konstanten sind im Verhalten von Pubertierenden, von Menschen allgemein. Die Technologie verschiebt die Druckverhältnisse, aber sie macht die Jugendlichen nicht zu völlig fremden Monstrositäten.
Eighth Grade ist im Kern noch immer eine selbst für uns ältere Mitbürger sehr
wiedererkennbare »Coming of age«-Geschichte: Die letzten Wochen von Kayla (Elsie Fisher, perfekt besetzt) vor Abschluss der US-Mittelschule, bevor es dann an die High School geht.
Und Burnham erweist sich als ein wahrer Meister der Schwebezustände: Sei’s im Nachzeichnen von Kaylas jugendlicher Selbstsuche zwischen letzten Resten von Kindheit und erster Vorahnung vom Erwachsensein. Sei’s darin, die Stimmungen einzelner Szenen genau auf der Kippe zu halten. Sei’s
in der Schilderung des Verhältnisses von Kayla zu ihrem alleinerziehenden Vater, das enorm liebevoll, aber halt, weil Teenagerzeit, schon auch echt schwierig ist. Oder sei’s in seiner Kunst, Charaktere mit wenigen, präzisen Strichen präsent und vielschichtig zu machen. (Etwa Kaylas High School-Mentorin Olivia, bei der man sofort versteht, was sie für die Jüngere zum unerreichbar cool scheinenden Vorbild macht – aber auch, dass die Ältere in ihrem eigenen Schul-Soziotop
wohl eher auf Seite der ungelenken Außenseiter steht.)
Nicht billige dramaturgische Eskalation ist’s, die einen schmerzhaft trifft. Es ist die schiere, mitfühlende Genauigkeit, mit der Burnham die Peinsamkeit der Jugend trifft. Das lässt einen oft im Kinosessel zusammenkauern wie die Filme von Todd Solondz – tut aber grade deshalb mehr weh, weil es deren ausgestellten, denunziatorischen Pessimismus durch Menschlichkeit ersetzt.
Es gibt nicht viele
angestammte Kinoleute derzeit, die dem vermeintlichen »YouTuber« Burnham da ebenbürtig wären.
Thomas Willmann
Eight Grade von Bo Burnham, mit Elsie Fisher, Josh Hamilton, Emily Robinson, Jake Ryan
Freitag 5.7.2019, 17 Uhr, Münchner Freiheit 4
Frankreich ist Weltmeister! Aber schon die Bilder von der Massen-Freudensdemonstration auf den Champs-Élysées zu Anfang von Les Misérables wirken heute eher wie eine Vorahnung der Gilets jaunes-Ausschreitungen. Und sehr schnell ist der Film dann auch von der kollektiven Euphorie weg, dorthin wohin es anders brodelt.
Was die Franzosen ja mindestens so gut draufhaben wie Fußball, ist die
Verbindung klassischer, harter Polizei-Thriller mit glaubhafter Milieu-Schilderung. Und auch Ladj Lys Film vereint die Dynamik, Intensität des einen Genres mit den schein-dokumentarischen Einblicken des Sozialrealismus'. Es ist die alte Geschichte vom neuen, naiv-aufrichtigen Streifenpolizisten, der mit zynischen, von den Dienstjahren ruppig geschmirgelten Kollegen auf Patrouille geschickt wird. Die Besonderheit ist der Schauplatz: Der Pariser Vorort Montfermeil und
seine vorwiegend von afrikanischen Einwanderern bewohnten Plattenbausiedlungen.
Ein Soziotop, in dem staatliche und interne Gesetze sich miteinander zu arrangieren suchen, aneinander reiben. Mit seinem eigenen »Bürgermeister«, seinen Revierkämpfen zwischen Islamisten, Kleingangstern und normalen Leuten, die einfach unbehelligt leben wollen.
Ly hat schon seine Freude dran, immer wieder das Gockelgepluster zwischen den diversen Gruppen von Alpha-Männlein zu
inszenieren. Aber er gibt auch genug Ahnung von dem Dasein drumrum. Von den Leidtragenden der ganzen Testosteron-Konfrontationen. Davon, wie diese Menschen (und wie’s in ihnen) aussieht, wenn das taffe Posieren vorüber und die Wohnungstür zu ist.
Nein, nicht Hugo. Ja, doch Hugo: Der Titel ist freilich eine Provokation. Nur einmal wird der Roman direkt angesprochen, weil eine Schule in Montfermeil nach Victor Hugo benannt ist. (Hugo hat einst in dem Ort Zwischenstation
gemacht, und dort in »Les Misérables« das Gasthaus Thénardiers angesiedelt.)
Es wäre schön gewesen, wenn der Film die Verbindungen zwischen den heutigen und den damaligen »Elenden« subkutan gelassen hätte. Vor allem zum Schluss, als er eigentlich schon ein sehr stimmiges Ende gefunden zu haben scheint – sich aber in den Kopf gesetzt hat, dass die Parallelen doch explizit werden sollen und es ein Äquivalent zum Barrikaden-Kampf geben muss.
Was Les Misérables zu aller Thriller-Härte, allem Politischen und allem impliziten Kultur-Diskurs aber auszeichnet, ist eine gelegentliche Verspieltheit. Etwa wenn zwischen all die etablierten Fronten auch noch die Muskelmänner eines Wanderzirkus (ausgerechnet: Zirkus Zeffirelli) preschen, auf der gewaltbereiten Suche nach ihrem entwendeten Babylöwen...
Ach so, ja. Wir hätten das gleich erwähnen sollen, oder?
Dann hätten wir uns das ganze Geschreibe sparen können. Ja, es gibt in Les Misérables einen sehr niedlichen Babylöwen.
Gell, jetzt wollen Sie den Film auch sehen?!
Thomas Willmann
Les Misérables von Ladj Ly, mit Damien Bonnard, Alexis Manenti, Djebril Zonga, Issa Perica, Al-Hassan Ly
Samstag, 6.7.2019, 18 Uhr, Gloria Palast
Wo es um Menschen geht, da ist Prélude noch nicht so ganz trittsicher. Vor allem den Protagonisten – den 19-jährigen Klavierstudenten David (Louis Hofmann), der in seinem ersten Konservatoriumsjahr psychisch aus der Bahn gerät – bekommt man nie so recht zu fassen. So dass die finale Eskalation dramaturgisch aufgesetzt wirkt. Und dass seine Freundin (Liv Lisa Fries) gleich
als potentiell irreale Figur inszeniert wird, macht die Sache nicht besser.
Nur an den Nebenfiguren wie Davids Klavierprofessorin oder einem Wiener Kommilitonen beweist Sabrina Sarabis Langfilmdebut, dass sie durchaus in der Lage ist, Figuren mittels einiger weniger, sprechender Details greifbar und mehrdimensional zu machen. (Denn wir wollen hier ja auf gar keinen Fall der deutschen Fernsehredaktions-Unart das Wort reden, dass immer alles ausgesprochen und auserzählt
werden muss.)
Wo der Film aber fast konkurrenzlos ist: Wann immer er Musik erklingen lässt, Musizieren zeigt, über Musik spricht – da weiß er, was er tut. Wenn im Bild Finger auf Tasten zu sehen sind, dann sind’s die richtigen. Wenn jemand über ein Musikstück etwas sagt, dann hat das Hand und Fuß. Und wenn etwas an Davids Spielweise kritisiert wird, dann ist auch zu hören, weshalb. Und dann bekommt man tatsächlich vorgeführt, wie es anders und besser geht.
Es ist
erstaunlich und bedauerlich selten, dass sich jemand soviel Mühe gibt, in einem Film über Musik diese Aspekte auch wirklich ernstzunehmen. Und wenn Sabrina Sarabi in künftigen Werken das Erzählen von Charakteren auch noch derart stimmig beherrschen sollte, dann wird man einst auf Prélude als Vorspiel zu etwas Großem zurückblicken.
Thomas Willmann
Prélude von Sabrina Sarabi, Louis Hofmann, Liv-Lisa Fries, Johannes Nussbaum, Ursina Lardi, Saskia Rosendahl, Jenny Schily
Mittwoch, 3.7.2019, 17:30 Uhr, HFF AudimaxX
In einem entlegenen Dorf im Nordwesten Spaniens, in Galicien, spielt O que arde von Oliver Laxe. In knappen Strichen wird mit nicht-professionellen Darstellern aus der Gegend die Geschichte Amadors entworfen: der wortkarge Einzelgänger war wegen Brandstiftung im Gefängnis, er wird entlassen und kehrt zu seiner Mutter zurück, die in einem kleinen einfachen Bauernhaus lebt.
Eine strukturschwache Region nennt man so was. Manche richten ihre alten
Häuser her, um an Touristen zu vermieten, andere betrachten das mit skeptischem Blick. Gewiss, eine oft skizzierte Grundsituation. Laxe konzentriert sich aber ganz aufs Visuelle und aufs Spürbare und weiß das großartig zu verbinden. Denn Kameramann Mauro Herce filmte, wie bereits bei Mimosas von Oliver Laxe, auf 16mm: Bilder, die uns mit ihren dichten Texturen in Bann schlagen.
Manche, wie die von den dünnen Baumstämmen, die von speziellen Bulldozern einfach niedergepflügt werden, wirken wie halluzinierte Trips; andere, wie die von den rudimentären Handgriffen des bäuerlichen Lebens, evozieren sinnliche Präsenz, ohne falsche Idealisierung: Bilder von materieller, körperlicher Tastbarkeit.
Die Bilder von den elementaren Naturgewalten des Waldbrandes wiederum sind schlichtweg überwältigend und sensationell. Die Ohnmacht der
Dorfbewohner angesichts der Katastrophe schlägt in Aggression gegen Amador um: Hat der Feuerteufel wieder zugeschlagen? Mit dieser quälenden Ungewissheit und mit den von den Naturgewalten entfachten Dämonen bleiben wir am Ende allein. Und nichts kann solche Uneindeutigkeit besser einfangen als das grobkörnige 16-mm-Material. Außerdem bietet der Film dem Song »Suzanne« von Leonard Cohen einen unglaublichen Einsatz..
Wolfgang Lasinger
O Que Arde von Oliver Laxe, mit Amador Arias, Benedicta Sanchez, Inazio Abrao, Elena Fernandez, David de Poso
Mittwoch, 03.07.2019, 17:30 Uhr, Atelier 1
Freitag, 05.07.2019, 19:30 Uhr, Atelier 2
Da erwarten wir, dass Jan-Ole Gerster mit seiner Verfilmung des Christian Kracht-Romans »Imperium« nach München kommt, an dem er seit Jahren laboriert. Stattdessen schüttelt er zwischendurch Lara aus seinem linken Hemdsärmel, der alles andere als ein Oh Boy 2.0 ist. Zwar spielt Tom Schilling eine tragende
Rolle und es könnten auch in diesem Film fortsetzungsartig sieben Jahren vergangen sein. Und dann spielt auch Lara an einem Tag, an dem viel flaniert wird und eine Begegnung auf die nächste folgt.
Aber Tom Schilling ist hier nur der Sohn einer Mutter, die ihren Sohn zu einem Pianisten und Komponisten erzogen hat und nun merkt, dass der Sohn und auch sonst niemand mehr etwas von ihr wissen will, die
merkt, dass sie ihr Leben verloren hat, ja vielleicht nie gelebt hat, und unter der Last, sich von ihrem erwachsenen Sohn emanzipieren zu müssen, fast zerbricht.
Lara ist im Zentrum von Gersters Film und dieses Zentrum vibriert, atmet und flirrt allein durch die schauspielerische Kraft von Corinna Harfouch, die nicht nur durch die Rolle, die sie spielt, an Isabelle Huppert in Michael Hanekes Klavierspielerin erinnert, aber der es – anders als Huppert – sogar dann und wann gelingt, neben einer gewaltigen subkutanen Aggressivität auch einen Hauch von Ironie, ja, fast ein Lächeln in ihr Spiel mit einfließen zu lassen.
Aber auch Tom Schilling überrascht – nach all den vielen, immer wieder auch mittelmäßigen Rollen der letzten Jahre, zeigt unter der Regie von Gerster ungeahnte Potentiale. Denn wie er hier an der Seite von Harfouch durch die
ganze Ambivalenz, die der moderne, klassische Musikbetrieb bereithält, schreitet, durch die Niederungen, die hier ähnlich kritisch beleuchtet werden wie in Damien Chazelles Whiplash, ist beängstigend überzeugend.
Axel Timo Purr
Lara von Jan-Ole Gerster, mit Corinna Harfouch, Tom Schilling, André Jung, Volkmar Kleinert, Rainer Bock, Gudrun Ritter
Freitag, 05.07.2019, 20 Uhr, Gasteig Carl-Orff-Saal