Labyrinth of Cinema

Umibe no eigakan – Kinema no tamatebako

Japan 2019 · 179 min. · FSK: -
Regie: Nobuhiko Ôbayashi
Drehbuch: ,  u.a.
Kamera: Hisaki Sanbongi
Darsteller: Tadanobu Asano, Takuro Atsuki, Yoshihiko Hosoda, Takahito Hosoyamada, Shinnosuke Mitsushima u.a.
Filmszene »Labyrinth of Cinema«
Energie, Leidenschaft und traumhafter Erfindungsreichtum
(Foto: MUBI)

Goldfische fliegen vorbei

Lob des Unreinen: Labyrinth of Cinema beschwört sein Medium in der Stunde seines Untergangs

Knallige Primär­farben, poppige Musik, schnelle Schnitte, dann poetische Momente, viel Jazz, und insgesamt ein dreis­tün­diges Zitat­ge­witter – das ist wieder so ein Film, wie er nur aus Japan denkbar ist.

Am Anfang rast ein Raum­schiff durchs All. Darin sitzt ein Mann und erzählt etwas über Science-Fiction. Gold­fi­sche fliegen vorbei. Schwe­relos passiert auch die japa­ni­sche Geschichte das Cockpit-Fenster.

Der merk­wür­dige aus der Zeit gefallene Pilot – gespielt von YMO-Schlag­zeuger und -Sänger Yukihiro Takahashi – nimmt uns Zuschauer mit auf eine Achter­bahn­fahrt durch das japa­ni­sche Kino, die notge­drungen auch zu einer Reise durch die Geschichte des 20.Jahr­hun­derts wird.

Und dann sind wir mitten drin im Okahashi, einem kleinen Kino in Hiroshima. Es steht vor der Schließung. In der aller­letzten Nacht wird ein Marathon an Kriegs­filmen vorge­führt, die von den Zeiten der Samurais in den Bürger­kriegen des japa­ni­schen Mittel­al­ters bis zum Zweiten Weltkrieg reichen – eine last picture show ganz eigener Art.
So erleben wir die Beschwö­rung des Mediums in der Stunde seines Unter­gangs. Was könnte zeit­ge­mäßer sein?

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»They call it moder­ni­sa­tion. I call it barba­ri­sa­tion. The Brutal Age.« wird anfangs der Dichter Nakahara Chuya zitiert. Stimmt das Zitat? Ich weiß es nicht und man kann hier nicht sicher sein. Si non e vero...

Ein Mann in altmo­di­scher Kleidung sagt: »Glück ist uner­reichbar. Eine Lüge.« Ein junges Mädchen verkündet wie eine Antwort: »In jeder Lüge steckt eine Wahrheit.« Eine Sentenz löst die nächste ab: »History is chaotic as you can see.«; »Nothing lasts forever«; »You have less freedom, when you are in power.« »People in power always punish freedom with death.«

Aber vor allem sagt Noriko, ein heran­wach­sendes Schul-Mädchen, immer wieder, sie gehe ins Kino, um »durch Filme mehr zu wissen«. Das Kino ist das Gegen­ge­wicht zur brutalen Wirk­lich­keit, es entfaltet eine tröstende, heilende Kraft. Filme kann man immer wieder sehen, man kann durch sie etwas durch­leben, verar­beiten; man kann Dinge, Ereig­nisse, Menschen auch auf Distanz halten.

Dann hören wir noch: »Videos on devices aren’t as immersive as movies on a screen.«

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Im Folgenden treten in rascher Folge auf: Ein junges Mädchen, ein Dichter, ein Yakuza-Gangster, ein Pop-Star, ein studen­ti­scher Nerd, ein Kino­vor­führer. Sie alle bleiben sie selbst und schlüpfen bei der besagten cine­philen Reise fort­wäh­rend in andere Kostüme und neue Rollen – Kino als Travestie und Maschine, voller Phantasie und voller Humor.

Die Form ist die diverser Film­genres und drama­tur­gi­scher Klischees. Und diverser Schau­plätze und Geschichts­phasen. Hiroshima, Steptanz, Yakuza-Rituale, Film-Zensur, ameri­ka­ni­scher Kultur­im­pe­ria­lismus zur Zeit der Besatzung Japans. Kultur-Geschichte ist hier kein Objekt seriöser akade­mi­scher Unter­su­chung, sondern eines der freien Bear­bei­tung, ein hedo­nis­ti­sches System von Lüsten und irren Refe­renzen. Regis­seure heißen hier auch mal Mario Baba oder Frantz Kapra. Der Regisseur selbst tritt auf als John Ford. Der 1938 geborene Regisseur Nobuhiko Obayashi räumt nicht auf, sondern er macht Unordnung: Das Kino ist ein Labyrinth. Cineasten wird diese Fest­stel­lung nicht über­ra­schen.

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Während des Films geht es in erster Linie um Japans gewalt­tä­tige Vergan­gen­heit von der Mitte des 19. Jahr­hun­derts, als sich das Land turbulent dem Westen öffnete, bis zum Atom­bom­ben­ab­wurf auf Hiroshima am 6. August 1945. Die Figuren werden in ihren Aben­teuern in die Macht­kämpfe der Shin­sengumi, der letzten Samurai Mitte des 19. Jahr­hun­derts verwi­ckelt, sie kämpfen in der Mand­schurei gegen die Chinesen und reisen mit einer Thea­ter­truppe in die letzten Tage des Zweiten Welt­kriegs. Ihr endgül­tiges Ziel: Hiroshima.

Dies ist, da machen wir uns nichts vor, ernst und kritisch gemeint. Labyrinth of Cinema ist keines­wegs allein eine überaus gutge­launte und flotte Beschwö­rung der Kino­kultur an sich und der japa­ni­schen im Beson­deren. Dies ist auch ein bissiger pazi­fis­ti­scher Kommentar über den Wahnsinn des Krieges.

Labyrinth of Cinema strotzt vor Energie, Leiden­schaft und traum­haftem Erfin­dungs­reichtum, und obwohl er eine starke Anti­kriegs­bot­schaft vermit­telt, ist er alles andere als belehrend.

Der Ton ist der einer frechen schwarzen Komödie, während sich die Grenze zwischen Realität und Fantasie in einem bunten alter­na­tiven Universum auflöst, das einzig­artig im Gegen­warts­kino ist – am ehesten noch vergleichbar dem Film Love Exposure von Sono Sion.

Auch Labyrinth of Cinema ist getragen von einer unge­bremsten visuellen Phantasie und dem reich­hal­tigen Talent des Regis­seurs Nobuhiko Obayashi zum Geschich­ten­er­zählen. Obwohl dieser Film eine Laufzeit von fast drei Stunden hat, bleibt er unter­haltsam, dabei ernsthaft. Obayashi war in seiner Heimat Japan berühmt. Er war das aber weniger durch seine Kinofilme, als durch Fernseh-Werbe­spots mit Hollywood-Stars, unter anderem mit Charles Bronson und Kirk Douglas. Man fragt sich, warum er bisher ein Geheim­tipp blieb – und ande­rer­seits ist dieser Film Erklärung genug: Dies ist kein Kino für jeden. Viele der histo­ri­schen Bezüge mögen für Nicht-Japaner zunächst ungewohnt sein, aber Labyrinth of Cinema präsen­tiert sie souverän und kunst­voller verdichtet, voller Details.

Man kann diesen Film auch begreifen als einen Schnell­kurs in japa­ni­scher Kultur. Denn wenn man will, und genau hinhört oder die Unter­titel liest oder sich diesen Film viel­leicht ein paar mal hinter­ein­ander anschaut, dann erfährt man unglaub­lich viel über japa­ni­sche Geschichte – von den Anfängen über die Ära des Tokugawa-Shogunats, die Meji-Reformen bis zur Gegenwart – man erfährt natürlich auch viel über japa­ni­sche Filme und Kino­kultur überhaupt, aber auch zum Beispiel über Literatur, etwa über »Japans Rimbaud« Nakahara Chuya, über die Kultur des Alltags. Man muss nur wollen, man muss nur Lust dazu haben.

Dieser Film ist auch das Vermächtnis seines Regis­seurs, der kurz nach der Premiere des Films im April letzten Jahres im Alter von 82 Jahren verstarb.
Es ist kein schönerer Kino­ab­schied denkbar.

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»Lernt vom Kino!«

Labyrinth of Cinema ist seit 30. April 2021 auf MUBI abrufbar.