Deutschland 2017 · 84 min. · FSK: ab 0 Regie: Irene von Alberti Drehbuch: Irene von Alberti Kamera: Jenny Lou Ziegel Darsteller: Julia Zange, Katja Weilandt, Martina Schöne-Radunski, Timo Jacobs, Mario Mentrup u.a. |
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Ziemlich überraschende neue deutsche Welle |
»Ich mache gerne Sachen mit offenem Ausgang. Experimente, bei denen ich nicht weiß, ob sie überhaupt funktionieren. Weg vom linearen Erzählen. Weg von der klassischen Erzählung mit ihren drei Akten. Inszeniertes mit Dokumentarischem verknüpfen.«
Irene von Alberti
»Die Hauptaufgabe: uns glücklich zu machen.« So sagt es eine schon recht glücklich aussehende Filmregisseurin in diesem oder dem letzten Berliner Sommer. Sie arbeitet gerade an einem Werk über Selbstoptimierung, und ist eine von drei Hauptfiguren in einem der bemerkenswertesten Filme dieses Jahres: Der lange Sommer der Theorie von Irene von Alberti hatte auf dem Münchner Filmfest Premiere. Der Film ist eine großartige Komödie um drei kesse kluge Berliner Großstadtgören.
Gerade flattert ihnen die die Kündigung ihrer WG in die Wohnung – Alltag im ausverkauften Berlin. Nola, Katja und Martina sind Künstlerinnen zwischen Bindungslosigkeit, Selbstoptimierung und prekärer Arbeit. Mit Lenin fragen sich die drei jungen Frauen »Was tun?« Sie haben Redebedarf.
Und so geht es in diesem Film um sie selbst um die Lage des und der Menschen, nicht nur der Frauen, auch wenn Katja andere Frauenrollen vor der Kamera will. Martina will auf der Bühne einfach nur schreien. Nola, gespielt von Julia Zange, interviewt Menschen, von denen sie Antworten auf ihre Fragen nach einem politischen Standpunkt erhofft und fragt hinter der Kamera ihre immer klugen, mitunter das Format der Star-intellektuellen erfüllenden Gesprächspartner immer weiter. In diesen
dokumentarischen Interviewpassagen denken Philipp Felsch, Rahel Jaeggi, Lilly Lent und Andrea Trumann, Carl Hegemann, Jutta Allmendinger und Boris Groys mit. Manchmal geben sie auch Antworten, stellen neue Fragen oder berichten einfach.
Die kompletten Interviews kann man sich übrigens auf You Tube im Netz ansehen – ein kompletter zweiter Film für
sich, beziehungsweise die adäquate Ergänzung des Kinos durch den digitalen Raum.
So ist dies auch ein fröhliche Kino-Wissenschaft, die sich unbefangen in verschiedenen Filmgenres tummelt und Fragen an die heutigen Wirklichkeiten stellt. Die Inspiration zum Titel gab Philipp Felschs wunderbares Buch »Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960–1990«.
Jede Szene verbindet die Sehnsucht nach Kommunikation und die Gewissheit: Wir müssen reden! Da werden gerade die Gewissheiten der schwarzgrünen Mitte und ihrer betroffen-selbstbesoffenen Moralapostel infrage gestellt. Es geht um Staatsfeminismus und den Bechdel-Test, um die Vorstellungen eines guten oder eines anderen Lebens, um symbolische Werte und das Materielle, um Identitätsfetischismus und den Ausverkauf der Stadt, um die Romantik der Revolution und die Möglichkeit einer Revolte in der heutigen Zeit.
Klar ist auch: Es darf nicht alles bleiben, wie es ist. Es geht um Freiheit, das Recht auf Faulheit, nötige Opposition und um das Ende vom Kult der Effizienz, der Scheinlösungen und der neuen Schlussstrichdebatten.
Irene von Alberti (Stadt als Beute, Tangerine) ist ein essayistischer, vielschichtiger Film gelungen, ein Film, wie ihn Godard in den sechziger Jahren gedreht hatte: Ein formal präziser visueller Exzess, geprägt von relativem Desinteresse an Plots, aber dafür von schönen Bilder und einem Feuerwerk aus Dialogwitz. Dieser Film ist also genau das, was Fikkefuchs nur behauptet zu sein.
Denn es kann glücklich machen, es sich nicht über Gebühr leicht zu machen, Regisseurinnen wie Filmheldinnen, Theorie kann Spaß machen, Erkenntnis, auch die bittere, Vergnügen bereiten.
Das ist eine der wichtigen, aber vor allem sehr vergnüglichen Erfahrungen dieses Films voller Geist und Leichtigkeit, voller Haltung und völligen Verzichts auf jenen Inhaltismus, der vielen Förderern und leider auch Filmkritikerinnen gerade heute wichtiger ist, denn je.
Das Vage oder das Unmissverständliche prägen das deutsche Kino, die Furcht vor Fehldeutungen oder Inanspruchnahmen einerseits, und vor Ästhetizismus andererseits. Dieser Film hat nichts von solcher
Furcht.
Nebenbei gibt es kleine wohlgesetzte Bosheiten über »Vergangenheitsrechtfertigungsfilme« und die Frage »Warum eigentlich sollen wir uns identifizieren mit Eva Braun?«-, über Hipster und über »das ganz neoliberale Gequatsche«.
Es scheint, als ob das deutsche Kino gerade unterwegs ist zu etwas Neuem. Wer wäre nicht diskret angeödet von den Dilettantismus-Etüden des sogenannten »deutschen Mumblecore« oder von Langsamkeitsfetischismus der seit Jahren auf der Stelle tretenden »Berliner Schule«. Nur ist es gar nicht so leicht, aus diesen Nischen herauszukommen, wenn man nicht in die anderen bekannten Honigfallen für Filmemacher gehen will: »Tatort« und Serien.
In Der lange Sommer der Theorie zeigt sich eine gewisse neue Tendenz im deutschen Kino. Sie zeigte sich bereits in einzelnen Werken des letzten Jahres wie Wild von Nicolette Krebitz oder Leonie Krippendorffs Looping: In einer Zeit in der sich das Fernsehen im Prinzip längst aus
der Filmproduktion zurückgezogen hat, in die es per Fördergesetzen zugleich hineingezwungen ist, in der Angst und in deren Folge das Vage oder das Unmissverständliche das Kino prägen, die Furcht vor Fehldeutungen oder Inanspruchnahmen einerseits, und vor Ästhetizismus auf der anderen Seite, sucht mindestens ein Dutzend neuer Filmemacher unabhängig voneinander und von fixierten Gruppenzuammenhängen eine neue Verbindung von Spaß und Erkenntnis. Nach dem Motto: Wenn
anspruchsvolles Kino schon von der Kulturpolitik erdrosselt wird, und nurmehr prekär möglich ist, dann wollen wir wenigstens nicht selber langweilen.
Das gilt für RP Kahls an der US-Westküste gedrehten A Thought of Ecstasy, ein mit Antonioni und Bataille-Verweisen spielender Erotikthriller, der Anfang kommenden Jahres ins Kino kommt. Bereits im Kino lief Selbstkritik eines
bürgerlichen Hundes, in dem Julian Radlmaier sich selber, den angehenden Filmemacher Julian spielt, und das Dilemma des politischen Kinos und des Filmemachens überhaupt – wie kann man und kann man überhaupt eine Revolution finanzieren? Wie bricht man mit Erwartungen? – mit viel Selbstironie auf den Punkt bringt. Wie man Erwartungen unterläuft, wird auch das Thema von Stillstehen sein, dem Spielfilmdebüt der Berlinerin Elisa Mishto,
das im kommenden Frühjahr gedreht werden soll. Die Antwort des Films: Um nichts zu tun, muss man sich bewegen. Den passenden magisch-kontemplativen Score dazu liefert »Moderat«.
Was sie alle gemeinsam haben: Interesse und exquisiten Geschmack im Musikalischen, keine Angst vor Theorie und Lust am Spiel. Das tut nicht nur dem deutschen Kino gut.
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Hinweis für alle Berliner:
Am kommenden Dienstag, den 28.11.2017, gibt es zum Film eine Veranstaltung in der »Denkerei« des Bazon Brock.
Nach dem Film-Screening im fsk Kino um 18:15 Uhr folgt um 20 Uhr ein Gespräch zum Film in der Denkerei – mit Irene von Alberti, Carl Hegemann, Bazon Brock u.a.
Hinweis für alle: Die Kinotour zum Film und Aufführorte kann man hier nachsehen.
Und die kompletten Interviews kann man sich auf You Tube ansehen – ein kompletter zweiter Film für sich, beziehungsweise die adäquate Ergänzung des Kinos durch den digitalen Raum.