Deutschland 2023 · 98 min. · FSK: ab 12 Regie: Ilker Çatak Drehbuch: Johannes Duncker, Ilker Çatak Kamera: Judith Kaufmann Darsteller: Leonie Benesch, Leonard Stettnisch, Eva Löbau, Anne-Kathrin Gummich, Michael Klammer u.a. |
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Im Angesicht von Recht und Unrecht, Urteil und Vorurteil... | ||
(Foto: Alamode Film/Filmagentinnen) |
„Ich werde mir Recht zu verschaffen wissen!“
– Heinrich von Kleist, Michael Kohlhaas»Eine ›Seele‹ wohnt in ihm und schafft ihm eine Existenz, die selber ein Stück der Herrschaft ist, welche die Macht über den Körper ausübt. Die Seele: Effekt und Instrument einer politischen Anatomie. Die Seele: Gefängnis des Körpers.«
– Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses.
Wer an Schulfilme denkt in Deutschland in der Nacht, der ist schnell um den Schlaf gebracht. Klingt nicht ganz sauber, ist auch nicht völlig richtig, aber meistens dann doch, und Heine passt halt immer, dazu muss man gar nicht mal weit zurückgreifen, da reicht schon der Gedanke an Sönke Wortmanns Eingeschlossene Gesellschaft, der letztes Jahr einmal mehr zeigte, wie tief man sinken kann, um ein an sich relevantes Soziotop, mit dem eine ganze Gesellschaft steht oder fällt, in einem hanebüchenen Film zu schreddern.
Aber zum Glück geht es auch anders, zum Glück gibt es İlker Çatak, der schon mit seinen letzten beiden Filmen, Es gilt das gesprochene Wort (2019) und Räuberhände (2021), gezeigt hat, dass er gesellschaftsrelevante Themen in eine komplexe und kreative Filmsprache überführen kann.
Das gilt auch für Çataks Das Lehrerzimmer, das im Kern die Geschichte eines Diebstahls im Lehrerzimmer eines Gymnasiums erzählt. Ein Diebstahl einer kleinen Geldsumme, der wohl kaum Wellen schlagen würde, aber die aufregend und ambivalent oszillierend von Leonie Benesch verkörperte Carla Nowak, die erst seit kurzem an der Schule ist und mit ihren Schülern ein ausgeprägtes ahierarchisches Gerechtigkeitsethos etabliert hat, sieht das anders und stößt damit eine Gerechtigkeitskaskade an, die in ihrer Dramatik und Radikalität an das Schicksal von Michael Kohlhaas in Heinrich von Kleists großartiger Novelle erinnert.
Çatak und sein Drehbuchautor Johannes Duncker erzählen diese Kerngeschichte souverän und authentisch, was wohl auch daran liegen mag, dass beide durch persönliche Erlebnisse inspiriert worden sind: Çatak besuchte ab der achten Klasse eine Schule in der Türkei, wo er das Filzen der Brieftaschen der männlichen Schüler durch das Lehrpersonal miterlebte und Dunckers Schwester sah sich als Mathematiklehrerin mit Folgen von Diebstählen in ihrem eigenen Lehrerzimmer konfrontiert.
Dieser Lehrerzimmeralltag wird von Çatak in schnellen Schnitten realistisch in Szene gesetzt. Es wird das übliche »Cliquen-Verhalten« von Lehrern eingeführt, das sich nicht viel anders ausnimmt als das der Schüler, in dem es ebenfalls Außenseiter und Anführer gibt und Ausgrenzungen ganz genauso Teil des Gruppenprozesses sind. Von einer solchen Ausgrenzung ist Carla mehr und mehr betroffen, je weiter sie sich für eine »gerechte« Lösung des Problems einsetzt und die Gerechtigkeit in die Hand nimmt und in einer enervierenden Abwärtsspirale erkennen muss, dass Gerechtigkeit Ungerechtigkeit erzeugen kann, eine Lösung keine Lösung ist und Verstehen kein Verstehen.
Das mag sich ein wenig nach Selbstjustizfilm, dem sogenannten Vigilante-Genre anhören, Geschichten über einfache Menschen, die nach einem Angriff auf sich, Freunde, die Familie oder die Gesellschaft das Recht in ihre Hand nehmen und sich an den Tätern oder gleich der ganzen Gesellschaft rächen, damit wir sch(l)ussendlich wieder in einer besseren Welt aufwachen können. Doch Çatak geht mit seiner Carla einen anderen Weg als etwa Ilja Naischuller mit seinem Helden Hutch in Nobody, er bindet über das Personal seines Films – die anderen Lehrer, die Direktorin und auch die Schüler und ihre Eltern und nicht zu vergessen die Schülerzeitung – gleich die ganze Gesellschaft mit ein und zeigt mit minimalem Aufwand über die kleine Schulwelt, wie die große Welt funktioniert. Oder eben nicht funktioniert. Zeigt systemischen Rassismus, zeigt, wie Fake-News entstehen und die Pranger-Qualitäten von sozialen Medien, und zeigt, wie Wahrheit über die neuen Cancel-Culture-Paradigmen eine neue Bedeutung erhält, und stellt vor allem die grundsätzliche Frage, wo Recht aufhört und Unrecht beginnt und wann Urteil und Vorurteil kaum mehr zu unterscheiden sind. Und ist damit auch ganz nah an Foucault und den viralen Furunkeln einer omnipräsenten Disziplinargesellschaft.
Unter diesem fast schon philosophischen Überbau hören sich einige Dialoge dann und wann auch tatsächlich wie dieser Überbau an, wird das eine oder andere mal zu viel erklärt, statt es durch Dialoge auszuspielen. Aber Çatak umschifft diese gefährlichen Stromschnellen letztendlich, ohne allzu großen Schaden zu nehmen. Das liegt auch daran, dass sein hervorragendes Ensemble – u.a. Eva Löbau, Leonard Stettnisch, Michael Klammer, Rafael Stachowiak, Anne-Kathrin Gummich und Kathrin Wehlisch – nicht nur als Stellvertreter für den komplexen Ideenkosmos agiert, der hier ausgebreitet wird, sondern Çatak seinem Personal genug Raum gibt, um die notwendige Charakterdichte zu erspielen und dadurch die Theorie so fein mit einem genau beobachteten und realistischen, niemals vorhersehbaren Schulalltag zu verzahnen, dass die Theorie die Geschichte nie kapert und das Ende von einem fast schon surrealistischen Duell gekrönt wird, einem Plädoyer für jedwede Art von Widerstand.
Und das ist so ambivalent und klug wie die grundsätzlichen Prämissen dieses düsteren Dramas.